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Die rettende Umarmung
Die drei Knoten sind schneller gebunden, als mir lieb ist. Ich dachte, mein Zwillingsbruder Alex würde mehr Probleme damit haben, das störrische Stück dunkelblaue Wäscheleine aus der Küchenschublade mit zwei Springseilen aus Lilys Spielzeugkiste zu verschnüren. Aber seine langen Finger bewegen sich schnell und routiniert. Mit derselben Leichtigkeit, mit der sie über die Tasten, mit der seine langen Finger über die Tasten des Klaviers unserer Schule fliegen.
„Vielleicht ist ihr ja etwas passiert.“ Ich stecke sorgfältig Münze für Münze und die wenigen Scheine, die wir zusammengekratzt haben, in meine Geldbörse. Hauptsache, ich bin mit etwas beschäftigt, während er sein Werk begutachtet.
Ich will gerade den Inhalt meines Portemonnaies wieder auf dem nicht mehr ganz weißen Teppichboden vor mir auskippen, um alles zum vierten Mal zu zählen, da er aufsieht und kühl erwidert: „Quatsch. Sie hat uns einfach vergessen.“
Dafür versetze ich ihm einen festen Tritt gegen das Schienbein und bekomme sofort die Quittung. Tränen schießen in meine Augen, als sein Turnschuh auf mein Knie trifft. Am liebsten würde ich ihm die Befriedigung austreiben, die sich um seine Mundwinkel kräuselt.
„Warum musst du immer so gemein sein?“, frage ich stattdessen leise. Schließlich ist er stärker als ich.
„Heulsuse“, murmelt er und überprüft wieder seine Arbeit.
Gummibärchen und Schokolade, Kekse und Tütensuppen, Mikrowellengerichte und Milch.
Sehr viel Milch.
Ich weiß sofort, was die vollen Einkaufstüten bedeuten, die meine Mutter auf dem Küchentisch abstellt. Sie ist besonders gut gelaunt, summt das Kinderlied mit, das vom Wohnzimmer aus zu uns dringt. Lily hat wieder einmal den Fernseher aufgedreht.
Mama wühlt suchend in ihrer großen schwarzen Handtasche. Sie hat den ganzen Schrank im Flur voll davon. In allen möglichen Farben, Größen und Formen. Für alle möglichen und unmöglichen Anlässe. Man könne nie wissen, was der Tag so bringt. Zufrieden zieht sie eine Schachtel Zigaretten und ihr Lieblingsfeuerzeug heraus. Ein Geschenk unseres Vaters, behauptet sie steif und fest. Unsinn, denke ich. Immerhin muss es etwa dreizehn Jahre her sein, dass die beiden sich zum letzten Mal gesehen haben.
Alex steht plötzlich hinter mir und denkt wahrscheinlich das Gleiche wie ich. Sein Körper ist noch ganz aufgeheizt vom Fußballspiel auf dem Hof.
„Das wird diesmal wohl ein besonders langes Wochenende“, flüstert er mir zu und geht zum Kühlschrank, um sich etwas zu trinken zu holen. Er entscheidet sich für eine kleine Flasche Wasser und setzt sich auf einen Stuhl, den er an das offene Fenster zieht. So weit weg von unserer Mutter, wie nur möglich. Die Partien im Innenhof verlaufen selten fair und so presst er das kühle Plastik an seine Stirn neben die frische Schramme über seinem rechten Auge, bevor er einen Schluck trinkt.
Ich schließe die Tür, um den Rauch von Lily fernzuhalten und stelle einen sauberen Aschenbecher auf die Arbeitsplatte, an der unsere Mutter sich angelehnt hat und, immer noch summend, die Post durchsieht. Sie reißt Briefumschläge auf, überfliegt die Schreiben und wirft dann alles auf einen großen Haufen neben sich, der wie immer gleich im Mülleimer landen wird. Manchmal rümpft sie die Nase und murmelt etwas Unverständliches. Ich weiß nicht, warum sie sich überhaupt noch die Mühe macht, die Sachen durchzusehen. Den Werbeprospekt des Supermarktes hat sie sich für den Schluss aufgehoben. Sie vertieft sich in ihn, wie andere Menschen in ihre Tageszeitung.
„Ich habe euch doch von Greta erzählt“, beginnt sie endlich ohne aufzusehen. „Ihr wisst schon, ich habe sie letzten Monat bei Hannah kennengelernt.“
Ich tue so, als würde ich mich erinnern. „Auf der Geburtstagsfeier.“
„Nein, die war bei David.“ Sie winkt ab. „Ist ja auch egal. Greta hat jedenfalls vorhin angerufen und mich eingeladen.“
„Wie schön“, antworte ich leise, fast flüsternd. Unsere Kindheit ist eine Ansammlung von Namen. Freunde unserer Mutter, die wir nie getroffen haben und auch nie treffen werden. Kaum jemand weiß von uns, nie kommt jemand her. Sie ist oft tagelang mit diesen Menschen unterwegs, ohne zwischendurch ein einziges Mal nach Hause zu kommen. Wir wissen nie, wohin sie fährt, wenn sie sich gut gelaunt, nach Parfüm und Erdbeer-Gloss riechend, von uns verabschiedet.
Es gibt zwei Sachen, mit denen sie nie besonders gut zurechtgekommen ist: mit Geld und mit der Mutterschaft. Unsere Rollen sind oft vertauscht. Mal klammert sie sich an uns, wie ein kleines Kind an seine Eltern, mal behandelt sie uns wie gleichaltrige Freunde und erzählt Geschichten von ihren Ausflügen, die mir die Schamesröte ins Gesicht treiben. Sachen, die man nicht über seine Mutter wissen muss, wissen will. Ich versuche regelmäßig ihre Erzählungen zu übertönen, indem ich laut in meinem Kopf das erstbeste Lied singe, das mir in den Sinn kommt.
„Ich werde nicht lange weg sein. Wir fahren für zehn Tage in das Ferienhaus ihrer Eltern.“
Alex presst die Flasche so fest gegen seine Verletzung, dass das Plastik eingedrückt wird. So lange ist unsere Mutter noch nie weggefahren. Sie hält sich ohnehin selten an ihre eigenen Angaben. Zehn Tage, ich ahne schon jetzt, dass daraus zwei Wochen werden.
„Das schaffst du schon. Du bist doch mein großes Mädchen.“ Sie wirft den Prospekt in den Müll, streicht kurz über meine Wange und streckt die Hand nach Alex aus. Er schlägt sie mit einer schnellen, reflexartigen Bewegung weg, noch bevor sie seine dunkelbraunen Haare erreichen kann. „Rebellisch wie euer Vater“, schmunzelt sie. „Du hingegen,“ sie sieht mich an und runzelt die Stirn, „nach wem du kommst, ist mir immer noch ein Rätsel.“
„Sie würde uns nie vergessen“, versichere ich mir selbst und untersuche dabei eine alte Narbe an meiner Wade. „Sie liebt uns.“
Alex sieht mich wieder an, lehnt seinen Rücken an die Wand und zieht die Beine an. In den letzten Tagen muss er einen Schub gemacht haben. Seine Hose ist zu kurz geworden und endet über seinen Knöcheln. Dafür brauchen seine Haare dringend einen Schnitt. Ständig muss er sich die Strähnen zur Seite streichen, die ihm in die Augen fallen. Darum kann ich mich aber auch später kümmern, jetzt muss ich erst mal das Versprechen erfüllen, das ich Lily gegeben habe.
„Sie sperrt uns ein wie Tiere. Ohne Schlüssel oder Telefon. Das nennst du Liebe?“
„Sie hat eben Angst, dass uns was passieren könnte.“
„Und was ist, wenn hier drinnen was passiert? Dann können wir niemanden um Hilfe bitten.“
„Was soll denn schon passieren?“
„Das hier. Dass sie wochenlang weg ist und wir hier ohne Lebensmittel sitzen. Wer weiß, wie lange wir noch Strom haben.“
„Sie hat bestimmt ihre Gründe.“
Alex schüttelt den Kopf und seufzt über meine Sturheit.
„Tut es sehr weh?“, will er wissen. Er meint das Knie, das ist mir klar. Trotzdem kommt es mir vor, als würde er tief in seinem Inneren etwas anderes meinen. Er kann von unserer Mutter schon lange nicht mehr verletzt oder enttäuscht werden. Ich schon.
„Nein, gar nicht.“
Obwohl er natürlich weiß, dass ich lüge, tätschelt er lächelnd meine Hand.
„Sei mir bitte nicht böse, Sara. Aber ich denke, dein Plan ist einfach dämlich.“
Ich lache und komme mir dabei vor wie eine Idiotin. Trotzdem kann ich nicht aufhören. Ich halte seine Hand fest, die noch immer auf meiner gelegen hatte und drücke zu. Wir haben uns auseinandergelebt, Alex und ich. Selbst Lily war aufgefallen, wie oft wir stritten oder, noch schlimmer, wir uns anschwiegen. Aber plötzlich ist beinahe alles wieder wie früher.
Böse bin ich ihm nicht. Dass der Plan dumm und halsbrecherisch ist, war mir von Anfang an klar. Ich bin weder besonders sportlich noch klettererfahren. Selbst wenn ich unbeschadet unten ankomme, weiß ich immer noch nicht genau, wie ich die sechs Stockwerke wieder nach oben schaffen soll. Aber ich habe keine andere Wahl.
„Es ist gefährlich“, betont Alex, verwirrt von meinem Lachanfall.
„Das weiß ich auch.“
„Warum willst du es dann machen?“
„Weil ich Lily versprochen habe, dass ich Milch besorge. Und etwas zu essen.“
„Dann lass mich gehen.“
„Nein. Ich habe die Verantwortung.“
„Aber ich bin älter.“
„Ja, zwei Minuten!“
„Na und? Älter ist älter.“
„Ich gehe.“
Alex reibt sich die Stirn und zuckt schließlich mit den Schultern. „Na gut, wenn du dir unbedingt alle Knochen brechen willst ...“
Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und stecke das Portemonnaie in die Tasche meiner Shorts. Erst jetzt kommt mir der Gedanke, dass ich mit diesem schrecklich pinken T-Shirt, das unsere Mutter mir zum letzten Geburtstag geschenkt hat, da draußen wohl auffallen werde wie eine wandelnde Leuchtreklame. Mein Blick schweift über den Boden, über die Wäscheberge, die sich angesammelt haben, seit ich zu ängstlich geworden bin, zu waschen. Unsere Waschmaschine ist älter als Alex und ich, vielleicht sogar älter als Mama, und führt ein Eigenleben. Sie funktioniert, wann sie will und streikt, wenn ihr danach ist. Bei jedem Schleudergang versucht sie polternd die Flucht zu ergreifen, reißt manchmal ihr Maul auf und bespuckt wütend das ganze Badezimmer mit Laugenspritzern. Dabei donnert sie so laut, dass der Boden vibriert und man sie bestimmt bis ins Erdgeschoss hören kann.
„Ich brauche mein blaues Sweatshirt“, sage ich zu Alex und beginne, mich durch Hosen, T-Shirts und Socken zu wühlen. Statt mir zu helfen, zuckt er wieder mit den Schultern. Ich fluche erst über ihn, dann darüber, dass wir nicht ein einziges sauberes Kleidungsstück mehr haben.
„Was willst du machen, wenn sie gar nicht mehr zurückkommt?“, fragt er herausfordernd.
„Sie kommt zurück. Wahrscheinlich ist sie schon auf dem Weg.“ Etwas Dunkelblaues liegt unter einem von Lilys Prinzesinnenkleidern. Mein Sweatshirt, vollkommen zerknittert und irgendwie feucht. Ich führte es an meine Nase, um zu überprüfen, ob es sich lohnt, dafür noch schnell das Bügeleisen aus dem Schrank zu holen und werfe es sofort angewidert und schaudernd zurück auf den Haufen. Der strenge, säuerliche Geruch hängt mir noch einige Sekunden in der Nase. Lily, fällt mir wieder ein, sie hatte ihre Milch verschüttet.
„Wie das hier aussieht“, murmle ich verärgert über mich selbst. „Wenn Mama kommt und das sieht ...“
„Als würde sie so was interessieren. Du hast doch nur Angst, dass du dann nicht mehr ihr Liebling bist.“
„Das bist du doch!“ Unglaublich, dass er das bis heute nicht bemerkt hat. „Egal, wie du mit ihr redest, oder was du mit deinen dämlichen Freunden anstellst, du bist und bleibst ihr Liebling.“
„Ich habe wenigstens Freunde.“ Er weiß, dass er mich nicht damit treffen kann. Ich bin gerne für mich alleine. Mit den Mädchen in meiner Klasse kann ich nicht viel anfangen. Und umgekehrt ist es genauso. Ihre Pausengespräche über all die ni-hiehied-lichen Sänger oder Schauspieler sind einschläfernd und strotzen nur so vor Stumpfsinn. Ich habe es einmal versucht, mich neben Alex vor den Fernseher gesetzt und mir das angesehen, was man sich in unserem Alter wohl so ansieht.
Passiert ist rein gar nichts. Kein Blitz, der in mich gefahren wäre und auch keine göttliche Eingebung, wie die, die ich aus den Bibelerzählungen von Frau Fischer kenne. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Alex und mich aufzuklären. Jeden Dienstag, wenn sie auf uns aufpasste, machte sie den Fernseher aus, setzte sich auf die Couch und versuchte, gläubige und gute Menschen aus uns zu machen. Und beinahe jeden Dienstag bekam ich Alpträume. Frau Fischer hat nicht gerade das beste Gespür dafür, mit welchen Geschichten man Kinder an Religion heranführen kann. Sie verwirrte mich. Einerseits versuchte sie uns von ihrem gütigen Gott zu überzeugen, und kurz darauf folgte eine Erzählung, die es problemlos mit jedem Horrorfilm aufnehmen konnte, die Alex und ich uns ansahen, wenn wir nachts alleine waren. Als sie zum Beispiel bei Abraham angekommen war, der gerade mit gehobenem Messer über seinem Sohn stand, kam meine Mutter zurück nach Hause. Ich klammerte mich sofort an meinen Bruder, um mich vor ihr zu verstecken. Da wir keinen Vater haben, würde bestimmt sie stellvertretend ein Opfer bringen müssen. Und als eine Person, die nie besonders religiös gewesen ist, hätte sie sicherlich keine Probleme damit, die Regeln ein wenig zu verbiegen.
„Ich weiß, ich weiß, Gott. Es ist nicht der geliebte Erstgeborene, aber sie ist ein liebes Mädchen. Gut in der Schule, sehr vernünftig und sie stört nicht. Man merkt gar nicht, dass sie da ist.“ Tut mir wirklich sehr leid. Filet Mignon ist aus, aber versuchen Sie doch mal den Eintopf, der ist auch nicht übel.
Tagelang schreckte ich aus dem Schlaf auf, sah in die Dunkelheit, bis ich meine Mutter erkennen konnte. Erst wenn ich sicher war, dass sie schlief, dass ihre Brust sich gleichmäßig hob und wieder senkte, kein großes Fleischmesser neben ihr lag, allzeit bereit, in mein Herz gerammt zu werden, traute ich mich, meinen Kopf zurück auf mein Kissen zu legen und die Augen wieder zu schließen. Es dauerte eine ganze Woche, bis Frau Fischer uns das Ende der Geschichte erzählte und ich meiner Mutter nicht mehr aus dem Weg gehen musste. Am schlimmsten waren allerdings die Worte, mit denen sie sich jedes Mal verabschiedete, während sie unsere Wangen tätschelte.
„Und immer schön daran denken. Der liebe Gott sieht alles. Alles!“
Nachdem sie ihre Drohung ausgesprochen hatte, lächelte sie wissend und ging. Ich war mir sicher, Gott hatte sie in einem dieser prophetischen Träume darüber informiert, dass ich Rebecca aus der Parallelklasse in Gedanken ihr perfektes, arrogantes Lächeln ausgetrieben hatte.
Erwachsenen kann man nicht trauen. Und Männern sowieso nicht. Ich verstehe die anderen Mädchen nicht. Naive Hühner. An die Geschichten, die Bücher, Filme oder Musikvideos uns zu erzählen versuchen, glaube ich schon lange nicht mehr. Sie werden schon sehen, was sie von ihrer blinden Schwärmerei haben, wenn sie erst einmal schwanger sitzen gelassen werden.
„Willst du es dir nicht doch lieber noch einmal überlegen?“, will Alex wissen. „Wir könnten versuchen, Hilfe zu bekommen. In ein paar Stunden wird es hell. Vielleicht können wir irgendwie die Nachbarn ...“
„Bist du verrückt geworden?“, fahre ich ihn an, bevor er seinen Gedanken zu Ende führen kann. „Willst du unbedingt ins Heim? Bestimmt trennen sie uns. Wie soll Lily ohne uns zurechtkommen?“
„Woher willst du wissen, dass so was passiert?“
„Ich kenne die Erwachsenen. Wir sind denen doch egal.“
„Den Fischers bestimmt nicht.“
„Denen vielleicht nicht, aber die sind nicht hier.“ Ich fordere ihn ungeduldig auf, endlich aufzustehen. „Komm, wir haben schon zuviel Zeit verloren.“
Lilys Geburt ist generalstabsmäßig geplant.
Das liegt an Frau Fischer von gegenüber, die die ganze Organisation an sich gerissen hat, sobald sie von der Schwangerschaft wusste. Vom Vorbereitungskurs, auf den Mama überhaupt keine Lust hat, aber um den sie nicht herum kommt, weil Frau Fischer jeden Dienstag Abend um Punkt sechs bei uns klingelt, um auf Alex und mich aufzupassen, bis hin zur Hebamme, ohne die es, wie sie sagt, einfach nicht geht.
An einem sonnigen Morgen im Mai wecke ich erst Alex und dann, als ich ganz sicher bin, dass er aufsteht, um sich zu waschen und anzuziehen, unsere Mutter. Eine halbe Stunde später stehen wir mit Schulranzen und Krankenhaustasche vor der Tür der Fischers.
In der Wohnung riecht es nach Kaffee, Kakao und frischen Brötchen. Alex und ich sitzen mit Herrn Fischer bei dem ersten richtigen Frühstück unseres Lebens am Tisch. Mama darf weder trinken, noch essen. Sie sitzt müde neben Frau Fischer und nickt brav, während die alte Frau die Liste in ihrer Hand abarbeitet und mit einem spitzen Bleistift Punkt für Punkt abhakt.
Wir werden in die Schule gebracht. Auch das ist neu. Genauso wie die Frühstücksdosen, die Frau Fischer uns in die Hand drückt. Es gibt einen Apfel, Gurkenscheiben, Käsebrotherzen für mich und Salamibrotdinos für Alex. Viel zu schade, um gegessen zu werden, wie ich finde. Mein Bruder hat da weniger Bedenken und sieht mich verständnislos an, während er den ersten Dinosaurier köpfte.
Wie geht es Mama?
Und Lily?
Ist sie sehr süß?
Wann fahren wir sie endlich besuchen?
Frau Fischer lächelt freundlich, während sie mir beim Mittagessen geduldig alles erzählt, was ich wissen will. Lily sei das hübscheste Baby, das sie je gesehen hätte, versichert sie mir. Allerdings müsste ich mich noch ein wenig gedulden. Ich schiebe enttäuscht eine Erbse über meinen Teller. Lily ist in der Uniklinik auf die Welt gekommen, nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt. Die Fischers wollten allerdings vorher noch einen Umweg machen. Wir könnten doch nicht ohne ein Geschenk für unsere kleine Schwester auftauchen.
Im ersten Stock des Kaufhauses bekommen Alex und ich einen Geldschein in die Hand gedrückt.
„Sucht euch was schönes aus“, sagt er. Und das machen wir.
Ich weiß sofort, was ich Lily mitbringen werde. Die Spieluhr in Form eines Teddys hat mich schon angelächelt, als wir noch auf der Rolltreppe gestanden haben. Alex entscheidet sich für einen Schnuller. Weil man davon nie genug im Haus haben kann, erklärt er. Die Fischers lachen.
Ich nicht. Ich weiß, dass er es ernst meint.
Am frühen Nachmittag sind wir endlich in Mamas Krankenhauszimmer. Sie hat es ganz für sich alleine und genießt es sichtlich. Ich trete ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während ich darauf warte, endlich meine Frage loswerden zu können.
„Wo ist Lily?“ Die Blase Aufregung in meiner Kehle ist geplatzt. Die Krankenschwester, die Mama gerade eine Spritze gegeben hat, lacht über meinen Ausbruch.
„Soll ich euch zu ihr bringen?“, fragt sie.
„Ja, bitte.“
„Wenn es sein muss“, murmelt Alex, der es sich gerade in einem der beiden Stühle am Fenster gemütlich gemacht hat. Ich kneife ihn in den Oberarm. Er wirft mir einen bitterbösen Blick zu, steht aber auf und trottet hinter mir und Schwester Klara her.
Das Neugeborenenzimmer liegt gleich nebenan. Die zugezogenen Vorhänge tauchen den Raum in ein Meer von Rot. Beinahe unerträglich warm ist es. Schwester Klara erklärt aber, es müsse so sein. Die meisten Babys schlafen, Lily auch. Ihr Bett steht am Fenster und zuerst sehe ich nichts als das dicke Kissen, mit dem sie zugedeckt ist.
In den letzten Monaten habe ich alles über Babys gelesen, was ich in die Hände bekommen konnte. Einschließlich der ganzen Zettel, die Mama dienstags mitgebracht hat. Danach habe ich mir geschworen, nie im Leben ein Baby zu bekommen. Um es richtig offiziell und feierlich zu machen, musste Alex als Zeuge herhalten. Aber nichts, wirklich gar nichts, hat mich auf diesen Moment vorbereitet.
Lily ist winzig und rosa im Gesicht. Mama hat sie bestimmt sofort ins Herz geschlossen. Rosa ist ihre Lieblingsfarbe. Ich bestaune die kleinen Finger und langen Wimpern. Auch Alex ist plötzlich still und ehrfürchtig. Ganz langsam zieht er die Mundwinkel in die Höhe, seine Augen strahlen.
„Sie ist so klein“, flüstert er.
„Ja, sehr klein.“
„Und wunderschön.“
„Ja, wunderschön.“
„Wie ich sehe, gefällt euch eure kleine Schwester“, bemerkt Schwester Klara amüsiert.
„Ja, sehr“, antworte ich und. Obwohl es mir schwer fällt, den Blick von Lily zu lösen, sehe ich zu der fülligen Frau auf. Sie steht an einem durchsichtigen Kasten, der nicht weit vom Bettchen unserer Schwester an der Wand steht, öffnet ihn und greift hinein, um eine Decke zurechtzurücken. „Was ist das?“
„Ein Wärmebettchen. Für Neugeborene, die noch Probleme mit ihrer Temperatur haben.“
„Darf ich es mir ansehen?“
„Natürlich.“
Trotz der Erlaubnis, komme ich erst kaum vom Fleck. Ganz, ganz vorsichtig taste ich mich vor, bis ich mehr erkennen kann. Erst dann sehe ich die zwei Babys im Wärmebettchen.
„Sind das Zwillinge?“
Schwester Klara nickt und auf einmal tun mir all die Neugeborenen, die ganz alleine in ihren Wannen liegen müssen, unendlich leid.
„Denken Sie, mein Bruder und ich lagen auch zusammen?“
„Bestimmt. Viele Krankenhäuser machen das so. Warte kurz hier, ich will dir was zeigen.“
Sie verschwindet, aber nur kurz. Als sie zurückkommt hat sie die Kopie eines Zeitungsartikels in der Hand, den ich nicht verstehe. Ich entziffere die Überschrift; The rescuing hug. Auf einem körnigen Schwarz-Weiß-Foto erkenne ich gerade noch so zwei neugeborene Babys, die auf dem Bauch liegen. Ganz nahe beieinander, eines der Kinder hat den Arm um das andere gelegt.
„Die beiden Mädchen sind nach ihrer Geburt erst in getrennte Brutkästen gekommen. Eines von ihnen hat sich gut entwickelt, dem anderen ging es sehr schlecht“, beginnt Schwester Klara. „Dann, eines Tages, nachdem man schon alles versucht hatte, um dem Schwächeren der beiden zu helfen, kam eine Schwester auf die Idee, die Zwillinge zusammen in ein Bett zu legen. Da umarmte plötzlich das Größere seine Schwester und sofort begann sich der Zustand des Babys zu bessern.“
„Hast du das gehört?“ Ich gehe zurück an Lilys Platz und zupfe aufgeregt an Alex’ T-Shirt.
„Was ist denn?“
„Hast du zugehört?“
Er sieht mich an, als hätte ich ihn gerade aus einem Traum gerissen. Verwirrt schüttelt er den Kopf. „Nein, aber weißt du was?“
„Was?“
„Ich glaube, Lily hat Mamas Haarfarbe.“ Er gibt sich keine Mühe, das Bedauern in seiner Stimme zu überspielen.
„Ich habe gelesen, dass sich das noch ändern kann.“
„Na hoffentlich.“
Ich glaube, mir wird schlecht. Es ist gut nichts außer Leitungswasser im Magen zu haben. So erspare ich mir die Blamage vor Alex, der zu einem letzen festen Knoten ansetzt. Mit meiner Panik hat er gerechnet, und weil er sich sicher ist, dass ich mich nicht trauen werde, hat er seine Schuhe angezogen, als ich ihn in die Küche geschickt habe, um die Wäscheleine zu holen.
Diese Genugtuung will ich ihm auf keinen Fall geben, allerdings hatte ich vergessen, wie steil nach unten geht. Im Dunkeln wirkt es sogar noch tiefer.
„Soll nicht doch lieber ich ...“, beginnt Alex, aber ich schüttle energisch den Kopf. Nicht, solange ich hier die Verantwortung habe.
„Ich schaffe das schon.“ Ich hole tief Luft und wage mich ein Stückchen über das Geländer. Langsam, ein Schritt nach dem anderen, dann wird es schon gehen.
„Was um Himmels Willen macht ihr da?“
Ich gerate gefährlich ins Schwanken, als ich die hysterisch ausgestoßene Frage unserer Nachbarin höre. Alex hat mich sofort und zieht mich zurück auf den sicheren Boden.
„Wo ist eure Mutter?“
Alex sieht mich an. Ich höre, wie etwas fällt und vermute, dass es das Seil ist, was er vor dem neugierigen Blick von Frau Krüger zu verstecken versucht. Ich brauche ein paar Sekunden, um mich von meinem Schrecken zu erholen und mir etwas auszudenken.
„Sie ist krank“ antworte ich schließlich außer Atem.
„Oh. Was hat sie denn?“ Frau Krüger verschränkt die Arme vor ihrer Brust und ich verfluche still ihre Leidenschaft für Balkonbepflanzung. Wie es aussieht, hat sie Besuch. Stimmen dringen aus ihrem Wohnzimmer, es wird gelacht und gerufen. Und zwei weitere Frauen bewundern die Tomaten, die wie Unkraut auf ihrem Balkon wuchern.
„Nichts Schlimmes. Wahrscheinlich hat sie sich nur verkühlt.“
„Weiß sie, was ihr hier draußen macht?“
„Nein.“ Ich starre auf meine Schuhe.
„Dann geht wieder rein. Um diese Uhrzeit gehört ihr schon längst ins Bett.“
Ich nicke nur.
„Oh, und ich habe hier einige Briefe, die der Postbote einfach auf die Kästen gelegt hat, weil euer Briefkasten voll ist.“
„Danke“, presse ich hervor. Aus und vorbei, aus dieser Lüge komme ich nie wieder heraus. Wenn morgen niemand den Briefkasten leert und die Post abholt, wird sie bestimmt misstrauisch werden. Wenn sie es nicht ohnehin schon ist.
Alex ergreift mein Handgelenk und zieht mich hinter sich zurück ins Wohnzimmer. Als ich den Raum betrete, will ich am liebsten sofort wieder nach draußen laufen. Der Gestank erschlägt mich. Schweiß und Müll, seit Wochen kein geöffnetes Fenster. Und das Chaos erst. Es ist nicht nur die Wäsche, die sich auf dem Boden verteilt hat, sondern auch noch Unmengen von Lilys Spielsachen, mit denen sie seit Tagen nicht mehr gespielt hat, benutztes Geschirr und leere Verpackungen. Wie konte ich das bis jetzt übersehen?
Ich spüre eine Hand auf meinem Rücken. „Ich sehe kurz nach Lily“, sagt Alex leise. Er kennt mich und weiß, wann ich alleine sein muss.
Ich lasse mich einfach auf den Boden sinken. Meine Beine sind wie Gummi und selbst wenn ich es versuchen würde, ich käme keinen Meter weiter. Ich klebe fest wie eine Mücke an Fliegenpapier. In der Falle. Alles Kämpfen und Strampeln umsonst. Die Kräfte sind aufgebraucht. Ich bin kein großes Mädchen, gestehe ich mir ein. Ganz und gar nicht.
„Ich glaube der Kleinen kein Wort.“ Frau Krüger ist deutlich zu hören, obwohl sie mit gedämpfter Stimme spricht.
„Wieso?“, fragt eine ihrer Freundinnen.
„Die Mutter lässt die Kinder öfters mal alleine, denke ich. Ich habe sie jetzt schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sie wollte in den Urlaub fahren. Ich dachte, sie hätte die Kinder dieses Mal mitgenommen, weil so lange keiner mehr die Post reingeholt hat, aber vor ein paar Tagen erzählte mir eine andere Nachbarin, sie hätte die Kleinste immer wieder mal gehört.“
„Wie alt ist die Kleine denn?“
„Vier, denke ich. Höchstens fünf.“
„Und jetzt? Willst du das melden?“
„Lieber nicht. Man weiß nie. Am Ende ist es doch alles Unsinn.“
„Könnte aber auch was dran sein.“
„Ja, allerdings habe ich keine Lust auf Ärger. Außerdem sind die zwei Großen ja auch schon alt genug, in den Sommerferien mal ein paar Tage alleine zu ...“
Nach kurzer Zeit ist Alex wieder da. Er schließt die Balkontür und damit die fremden Stimmen aus unserer Welt aus. Mit besorgtem Gesichtsausdruck steht er vor mir.
„Lily schläft“, sagt er.
„Ich habe ihr versprochen, dass sie zum Frühstück Milch bekommt.“ Ich sehe Alex schräg von unten an. „Und Mama habe ich versprochen, dass ich mich hier um alles kümmere.“
Alex seufzt und setzt sich neben mich. Unsere Knie berühren sich kurz. Dann legt er einen Arm um mich. Nach kurzer Zeit auch den zweiten. The rescuing hug, die rettende Umarmung. Jetzt weiß ich endlich, was das bedeutet.