Die Russen
Die Russen
Die Wohnungen in der Siedlung wurden mit dem Mauerfall nicht schlechter, eher besser, weil saniert, es waren aber nun einmal Plattenbauen, in den 70igern auf die grüne flämische Wiese gesetzte Fremdkörper aus grauem Ost-Beton, die fortan im Wortschatz der außerhalb Lebenden, später auch der Bewohner, das Ghetto bildeten. Wer es sich leisten konnte, zog aus, ging in den Westen oder wenigstens in einen richtigen Ort mit richtigen Häusern, die leer stehenden Wohnungen nahmen zu und später sah man Blöcke, in denen nachts nicht ein Licht brannte.
So viele Russen besaß die Kommune nicht, um den Leerstand wieder auszugleichen. Es waren trotzdem genug, die in Siedlung verfrachtet wurden, wo früher ja keine armen Schlucker gehaust hatten, sondern fast ausschließlich Soldaten vom Stützpunkt oben im Wald, Offiziere mit ihren Familien, nicht einmal DDR-Proletariat, sondern beinahe feine Leute. Und als die Russen kamen, wollte der beinahe feine deutsche Rest erst recht weg. Dabei waren es keine schlechten Wohnungen und die Russen im Grunde harmlose Menschen, die selten aus den Häusern kamen; sie sahen nur ein bisschen asozial aus.
Meine Großmutter, nicht die aus Berlin, sondern die vom Dorf, hat erst kurz vor der Wende eine richtige Toilette ins Haus bekommen, und auch nur weil mein Onkel und wir Kinder in den Sommerferien die Rohre verlegt haben. Vorher musste jeder für seine privaten Geschäfte auf das morsche Plumpsklo auf dem Hof gehen, was zu keiner Jahres- oder Tageszeit angenehm war. Für die Nacht stellte Großmutter einen Eimer mit Abwaschwasser vor die Schlafzimmertür - es war schon eklig; allein das plätschernde Geräusch, wenn sie darüber hockte und hineinpieselte; aber mit einer Taschenlampe bewaffnet bei Neumond über einen verschneiten Hof zu stapfen, den blanken Hintern einem stinkenden, gefährlich knirschenden Loch anzuvertrauen und dabei noch sechs Jahre alt zu sein, stellte keine echte Alternative dar.
Zudem war ich im Großen und Ganzen ein ordentliches Kind und hatte daher auch zu keiner mir im Gedächtnis gebliebenen Zeit Freude an den Lichtspielen, die eine in ein gut gefülltes Plumpsklo gefallene Taschenlampe bei Nacht hervorbrachte. Ich hätte sie einfach untergehen lassen und in Nauen für drei Mark eine neue gekauft. Großmutter fand hingegen nichts Ekliges dabei und fischte sie jedesmal wieder heraus, putzte sie ab und gut war. „Nu hab dir nich so!", sagte sie immer. Manchmal auch: „Nu scheiß dir nich ein!" Sie war schon eine derbe Frau und nahm das Leben auf die gleiche derbe Art.
Was sie allerdings nicht vertrug, war meine kindliche Affinität für Feuer und Kokelspielchen, die ich nur bei ihr relativ folgenlos ausleben konnte, sofern mein Vater nichts davon erfuhr. Sie hielt mir auch keine Vorträge wie Vater oder brüllte herum und der enttäuschte Tonfall, wenn sie mir prophezeite: „Irgendwann fackelst du uns noch mal die Bude überm Kopp ab", reichte gerade aus für 20 Stunden schlechtes Gewissen, bis zum nächsten Tag, wenn ich wieder allein mit mir und den Streichhölzern war. Das Wohnzimmer hat wer weiß wie oft unter dichtem Verschmortes-Plastik-Rauch gestanden, die Küche mit dem Sintflut-Herd ebenso, und es ist ein Wunder, dass die Scheune immer noch steht, trotz der Russen, die 45 eine Hälfte weggesprengt haben, und meinen Zündelspielen in den 80igern, als dort noch frisches Stroh gelagert wurde. Sie gehört nur mittlerweile einem Wessi, wie auch der Hof und alles, was geblieben war, nachdem der Russe 45 die Familie meiner Großmutter großzügig enteignet hatte, vielleicht auch vergewaltigt - weiß man ja nicht.
Großmutter hasste jedenfalls die Russen, so weit diese derbe aber doch recht nette Frau dazu in der Lage war, ob mit oder ohne Vergewaltigung. Immerhin hatte ihre Familie über dreihundert Jahre auf der gleichen Scholle gesessen, als Schmiede und Bauern, und als Hitler sein Reich und seinen Krieg veranstaltete, hatte ihnen fast das halbe Dorf gehört, ein Wald, zwei, drei Wiesen, Felder, eine Menge Land eben. Wir sind einmal im Bruch spazieren gegangen, über die Wiesen, am Wald vorbei, und immer wieder stand sie da, zeigte in die Pampa und sagte ohne besonderen Gesichtsausdruck oder Schwermut in der Stimme: „Das hat uns auch mal gehört." Sie müssen reiche Leute gewesen sein, derbe, grobschlächtige Bauern, aber reich.
Der Russe hatte die Hälfte der Scheune weggesprengt, aus dem Hof zwei Höfe gemacht, die Wiesen, Felder und den Wald an irgendwen verschenkt, der sie schließlich an die LPG weiterverschenkte, und Großmutter musste fortan und die nächsten vierzig Jahre jeden Morgen um sechs Uhr quer durch den Ort in einen vereinzelten Kuhstall marschieren, der auch einmal jemand anderem gehört hatte, um dort auszumisten und die Kühe mit Futter zu versorgen. Der Hof mitsamt Haus, Waschküche, Schweine- und Hühnerstall, Garten, Scheune und einem kleinen Acker dahinter auf dem sie alles Mögliche von Gurken bis Kartoffeln anpflanzten, blieben Großvater und ihr. Sie hielten gut ein Dutzend Enten, Hühner, einen Hund names Molli und drei Schweine, was für manchen und besonders uns Plattenbau-Insaßen, die nicht einmal einen Garten ergattern konnten, viel erschien, aber keinem Vergleich zu früher stand hielt.
Großvater war wie alle männlichen Diesdows in den Jahrhunderten zuvor gelernter Schmied, den brauchte nachher kaum jemand mehr, und dazu war er aus Russland mit einem kaputten Bein zurückgekehrt. Womöglich hatte ihn das zu dem mürrischen, wortkargen Schlecht-Wetter-Menschen gemacht, den er in den vier Jahren spielte, die wir gemeinsam auf dieser Welt lebten. Er starb recht passend für seinen freudlosen Charakter im Mai 84, just an jenem Tage, als meine Großeltern Silberhochzeit feierten, das heißt er lag wieder einmal im Krankenhaus in Nauen, während sie sich in ihr für den Anlass umgenähtes Brautkleid zwängte, das Wohnzimmer mit Tischen, Torten und Schnaps dekorierte und die üblichen dreißig Bekannten und Verwandten um die bucklige Festtafel postierte.
Mein Gott, hat sie gestrahlt an dem Tag und ein wenig betrunken wird sie dann auch gewesen sein. Sie hat gekichert und gegackert wie ein kleines Mädchen, so als hätte sie das Brautkleid zum ersten Mal getragen. Sogar mein Vater feierte ordentlich und ausgelassen mit und beteiligte sich an dem Gelage mit zwei Packungen vom guten Russenkonfekt, das er vom letzten Manöver mit seinen sozialistischen Waffenbrüdern mitgebracht hatte, obwohl er als sozialistisch geschmiertes Elite-Rädchen die ganze Bauern-Bande doch eigentlich für unter seiner Würde hielt und sich auch nicht zu peinlich war, ihnen bei Gelegenheit und insbesondere meinem schon zu Ostzeiten leicht lebensunfähigem Onkel Ralf Vorträge über Weltpolitik und Marxismus zu halten, immer garniert mit seiner Lieblingsfloskel: „Fakt ist..." und einer Attitüde: „Fakt ist, ich höre mir selbst gern beim Reden zu."
Gegen Nachmittag hielt der Barkas vor dem Haus, ein B50, und ließ mit einem Schlag die Stimmung kippen. Im Nachhinein und nach so langer Zeit kann es auch dreifach verdrehte Erinnerung sein, aber ich glaube, die Gäste im Wohnzimmer haben gewusst, was die beiden geschniegelten Anzugsmenschen im Font des Barkas’ zu uns trieb. Meine Mutter beschwichtigte noch: „Vielleicht wollen die woanders hin", während der Rest untätig, stumm und peinlich berührt aus dem Fenster starrte - eine unangenehme Situation.
Vater blieb als Einziger gelassen und öffnete, als es klingelte, während ich mich im Flur in eine Ecke drängte und das Schauspiel beobachtete. Mutter kam hinzu, steckte den Kopf zur Tür hinaus, dann rief sie nach Großmutter, denn immerhin war es ihr Mann gewesen und die Anzugsmenschen bestanden darauf, nur mit ihr zu sprechen. Ich habe nicht gehört, was sie sagten, aber selbst mit vier Jahren ist man nicht so dumm, um das nicht zu verstehen. Großmutter strich ihr Kleid glatt, folgte zur Tür, wer weiß, was sie sich noch für dumme Hoffnungen auf den paar Metern dahin gemacht hat, einige Worte wurden gewechselt und sie brach in Tränen aus. Sie heulte den ganzen Nachmittag und Abend lang, bis der Letzte gegangen war, während sie trotzdem fortwährend die Gäste aufforderte, sich die Laune nicht verderben zu lassen und doch zuzugreifen. Noch ‘n Stück Kuchen? Noch ‘n Schnaps? Eierlikör? ‘n Pils? Konfekt? Hat Detlef extra aus Kasachstan mitgebracht. Nu greift doch zu! Habt euch nich so! Is doch alles halb so wild.
War es vielleicht auch. Sterben muss schließlich jeder einmal, obwohl ich, ehrlich gesagt, am Abend in meinem Bettchen lag, wieder zurück in der Siedlung, und über genau diesen Sachverhalt nachdachte, ganz banal und wenig tiefsinnig, aber mit der unverdaulichen, unauflösbaren Erkenntnis am Ende, dass tatsächlich jeder einmal sterben muss, auch meine Mutter, meine Schwestern, meine Großmutter, meine Freunde, jeder. Ich habe vor Angst, Verzweiflung, Ohnmacht, warum auch immer geheult und mir vorgenommen, entweder unsterblich zu werden oder wenigstens als erster zu sterben, vor allen Leuten, um die ich eventuell trauern müsste. Großvater war mir doch egal gewesen, aber das mit Mutter war schon ein harter Brocken.
Aber einerlei! Die Wohnungen im Ghetto waren jedenfalls nicht schlecht und die Russen haben auch kaum gestört. Bei Großmutter wurde zum Beispiel immer sonntags und noch auf ganz altmodische Weise in der Waschküche gebadet. Zwischen all dem Gerümpel, der Werkbank vom toten Großvater und diversen Heizstellen stand eine über die Jahre dunkelmatt gescheuerte Metallwanne, Marke: vor dem Krieg. Im Kesselofen, in dem übrigens auch die Blutwurst gekocht wurde, wenn Großmutter ein Schwein schlachtete, in diesem großen Kessel mit Ofenluke darunter und den angetrockneten Blutspritzern an der Wand dahinter machten wir Wasser heiß, schöpften es zurück in die Eimer, in denen wir es aus dem Haus geholt hatten, und schütteten es zusammen mit kaltem Wasser in die Wanne. Erst stieg Großmutter hinein, dann ich und wer sonst noch wollte, nacheinander und einzeln natürlich, sogar die verwöhnte Westverwandtschaft, die alle Jubeljahre in Form eines Haribo-beladenen Graubartes für zwei Wochen im Kinderzimmer von meinem Onkel gastierte.
Es war fast wie ein normales Bad, nur dass das Badezimmer in einem separaten Gebäude untergebracht war und man sich den Hintern abfror, wenn man im Winter aus der dampfenden, vor Hitze schwitzenden Waschküche zurück ins Haus ging bzw rannte, je nach Alter und körperlicher Verfassung.
Unsere Wohnung dagegen besaß Wasserklosett, Badewanne, Zentral-Heizung, fließend heißes Wasser bis zum Abwinken, dass meine Schwester damit sogar einmal das Bad; unfreiwillig natürlich, sie hatte vergessen, den Wasserhahn zu schließen; in eine Art Sauna verwandeln und die Tapete von den Wänden lösen konnte. Das gab einen Ärger, besonders weil die dumme Kuh wieder alles auf mich geschoben hatte. Das Bild werde ich mein Leben nicht vergessen, wie Mutter in der Tür von meinem Zimmer stand, bewaffnet mit einem Handfeger, und drauf und dran war, mir damit eine überzubraten. So wütend habe ich sie vorher und nachher nie gesehen, schon weil sie normalerweise genug mit sich und ihren diversen Macken zu kämpfen hatte.
Telefon besaßen wir auch und ich habe bei Oliver Geißen gelernt, dass man daran erkennen konnte, wer was zu sagen oder zu melden hatte im Staate DDR. Mein Vater war Berufssoldat, zuletzt Hauptmann, beim Nachrichtenbataillon; seine Mutter, meine Großmutter, so eine immer bessere, distanzierte Frau, war irgendetwas Wichtiges beim Neuen Deutschland. Das Telefon war jedoch nur der Dienstapparat meiner Mutter, die als Postangestellte jeden Abend außer Sonntag um 19.00 Uhr die Telegramme vom Tag durchgesagt bekam, auf kleine Formblätter notierte und sich anschließend auf ihr Fahrrad schwang, um die Zettel in der Siedlung zu verteilen.
In meiner Dienstleistungsphase, so mit acht Jahren, als ich unbedingt alles Mögliche helfen wollte, habe ich die Telegramme ausgefahren und mir auf die Weise 50 Pfennig Taschengeld pro Tag verdient. Die Touren dauerten bei mir nur manchmal länger, weil es vorkam, dass ich die Zettel verwechselte und den Weg noch einmal fahren musste, um die irrtümlich abgegebenen Telegramme auszutauschen. Es stand auch nie etwas Welt bewegendes darin; ich habe sie natürlich alle gelesen; weshalb sich auch nie jemand darüber beschwerte, wenn ich wieder einmal einen Fehler gemacht hatte.
Der Service wurde mit dem Mauerfall eingestellt. Die Leute hatten dann auch sehr schnell alle ein eigenes Telefon. Heutzutage kennen viele wahrscheinlich gar nicht mehr diese Form der Kommunikation. Und selbst wenn, als die Russen im Ghetto Einzug gehalten hatten, hätte da sowieso niemand mehr im Dunkeln Telegramme ausliefern wollen. Sie waren sicherlich harmlose Menschen, die nur ein bisschen asozial aussahen, aber es waren Russen und denen traut doch keiner über den Weg - erzähl einer ernsthaft etwas Anderes.
Wir haben später sogar einmal Jagd auf einen von denen gemacht, auf einen groß gewachsenen, ungefährlichen Schlaks, weil der mit einem Fahrrad herumfuhr, das aussah wie jenes, das mir ein paar Tage zuvor gestohlen worden war. Als wir ihn endlich gefasst hatten, stellte sich das als Irrtum heraus, als ob wir das nicht vorher gewusst hätten, aber wir haben ihn trotzdem noch eingehend befragt, ob er nicht etwas wisse. Das tat er nicht, doch es wäre ja möglich gewesen. Und zu der Zeit waren wir, jedenfalls die Kinder aus meinem Freundeskreis, sowieso allesamt Nazis mit allem, was dazu gehört, peinliche Gestalten eben, die mit einem Schlag die deutsche Härte verloren, als die Mutter vom Schlaks über den Spielplatz auf uns zu raste, mit Lockenwicklern im Haar, geblumter Schürze, in der Hand eine Klobürste, mit der sie umherfuchtelte, während sie uns in Russisch ankreischte, beschimpfte, keine Ahnung, wir hatten nie Russisch in der Schule gehabt.
Der erste von uns verlor die Nerven und rannte los und der Rest machte sich dann herdentriebig natürlich auch aus dem Staub, die alte Frau mitsamt Klobürste hinterher.
Diese Slapstick-Jagd muss filmreif ausgesehen haben und blieb damit, abgesehen von kaum hörbaren „Scheiß Ausländer"-Sprüchen, auch der einzige Versuch von uns, mit den Russen im Ghetto Kontakt aufzunehmen. Sie lebten für sich und wir für uns, wobei wir wie überall auch keine homogene Jugendmasse bildeten, sondern uns auch in streng getrennte Cliquen mit eigenem Rumhäng-Revier teilten, einschließlich der Jugendlichen, deren Freundeskreise sich außerhalb des Ghettos befanden und meist mit solchen Sprüchen wie „Ich wohne hier nur" glänzten. Das wechselte über die Jahre auch, je nachdem wer gerade weggezogen war, und ich stand mehr als einmal vor der Aufgabe, mir eine neue Clique zu suchen. Am Ende hing ich als 18jähriger mit 14jährigen Mädchen und 22jährigen Kerlen herum. Da waren nicht mehr viele übrig und uns verband eigentlich nur noch, dass wir der verbliebene deutsche Rest aus alten Tagen waren und für den Rest der Welt zum Abschaum gehörten, denn zu der Zeit wohnte für ihn im Plattenbau, in den Karnickelbuchten, doch nur noch, wer sich nichts Anderes leisten konnte, was übrigens nicht stimmte - Vater wollte einfach nicht. Viel miteinander anfangen konnten wir nicht, Freunde sein schon gar nicht. Was hatten wir schon miteinander zu schaffen?
Nur die Russen und auch die deutschen Asozialen wurden mehr, aber mit denen konnte man ebenfalls nichts anfangen. Die wollten auch gar nicht, was nicht heißt, dass wir wollten. Es ist einfach dumm gelaufen im Ghetto wie in den vielen anderen Plattenbau-Enklaven des Ostens. Die Wohnungen waren nicht schlecht, sogar saniert, und selbst die Russen haben kaum gestört. Sie sahen zwar reichlich asozial aus, waren aber ansonsten harmlos und zeigten sich auch kaum außerhalb ihrer Wohnungen.