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Die Sünden sollst du ihnen nehmen
Innerhalb der Gasse verloren sich sämtliche Farben, und zurück blieb das graue Geschmiere unbeholfener Pinselstriche, die es irgendwie in die Realität geschafft hatten.
Kurz war Moldenhauer darum bemüht, sich die Tristesse dieses Ortes an einem warmen, klaren Sommertag vorzustellen.
Es gelang ihm nicht.
Skrapps hatte seinen Vorgesetzten bereits bemerkt, und eilte humpelnden Schrittes in Richtung der Mülltonnen, neben denen Moldenhauer mit dem Drehen einer Zigarette beschäftigt war.
"Guten Morgen, Herr Polizeikommissar. Was ein Wetter, nicht wahr?"
Moldenhauer grinste ob der förmlichen Anrede. Skrapps hatte dieses nervöse Schmetterlingsflattern in den Lidern. Alles an seiner Mimik schrie geradezu: Du Arschloch hast mir hier auch noch gefehlt!
"Morgen, Herr Polizeihauptmeister. Small Talk übers Wetter?" - Er zündete die Zigarette an und schob sich mit einem verächtlichen Schulterklopfen an Skrapps vorbei.
"Ansonsten bitte nur die Details. Einen groben Überblick habe ich bereits."
Vor der Prostituierten hielt der Kommissar abrupt inne und hustete Qualm aus seinen Lungenflügeln.
"Da haben Sie die Details. Lassen sich mit einem kurzen Blick ganz gut erfassen, hm", stellte Skrapps mit nicht zu überhörendem Sarkasmus fest.
Moldenhauer überkam ein Anflug von Übelkeit, als ihm bewusst wurde, wie sehr ihn der Anblick faszinierte.
"Was für eine Scheiße!"
Skrapps kam neben ihm zu stehen, vermied es aber, den Leichnam erneut zu betrachten.
"Da bin ich ausnahmsweise ganz Ihrer Meinung."
Moldenhauer atmete zwei mal tief durch und ging dann vorsichtig in die Knie. Der Regen nahm wieder zu; prasselte inmitten formgewordener Schäbigkeit auf unregelmäßige Pflastersteine. Die Fensterscheiben maroder Altbauten schienen die Szene aus dem Hintergrund heraus zu beobachten. Wie ein trauriges, langsam zerfallendes Publikum.
Irgendwo bellte ein Hund.
"Das scheiß Wetter spült uns hier die Beweise weg. Warum ist keine Plane aufgespannt?"
Skrapps deutete in Richtung zweier Streifenbeamter, die unbeholfen einen zum Paket geschnürten Überspann heranschleppten.
"Wir sind dabei, wie Sie sehen."
Die beiden nickten kurz in Richtung des Kommissars, und machten sich an die Montage der notdürftigen Bedachung.
Moldenhauer schloss die Augen, aber das Bild der Toten wollte trotzdem nicht verschwinden.
Das trägst du jetzt für immer in dir, ging es ihm durch den Kopf.
Er stand auf und schnippte die Zigarette weg. Als er den Kopf in den Nacken legte, war der Himmel ein anderer geworden. Moldenhauers Gemütszustand ging nun weit über Melancholie hinaus.
Einige Sekunden verharrte er, den klebenden, argwöhnischen Blick Skrapps im Rücken vernehmend.
Schließlich fragte er: "Wer von unseren Leuten hat die Tote nach dem Anruf gefunden?"
Der Polizeihauptmeister zeigte auf den grünen Mannschaftswagen, der in einiger Entfernung zwischen zwei mit Brettern vernagelten Hauseingängen parkte.
"Sein Name ist Müller. Ganz junger Streifenpolizist. Steht unter Schock."
Hätte Moldenhauer es nicht besser gewusst ... Skrapps' Stimme klang tatsächlich nach Mitleid. Er nahm sich vor, diesen Müller später zu befragen.
Für den Moment bedauerte er die Leute von der Rechtsmedizin, die seinem derzeitigen Wissensstand nach noch immer auf der Autobahn im Stau standen.
"Wenn wir hier fertig sind", begann Moldenhauer, "dann brauchen wir Schaufeln. Die ...", er stieß Magensäure auf, "Beine ... können vielleicht auch noch teilweise so abgepackt werden."
Skrapps nickte. - "Den Rest müssen wir mit forensischen Instrumenten abtragen. Ist alles schon angefordert."
Ein Gedanke kam ihm: Gibt es hier Nachbarschaft?
Ein zweiter Gedanke gesellte sich hinzu: Gibt es hier brauchbare Nachbarschaft?
Ausnahmslos alle Gebäude wirkten wie von der Zeit zerbombte Ruinen. Kein wohnen, sondern hausen. Hier an diesem Ort, viele Kilometer jenseits der belebten Innenstadt, hatten Worte wie Miete oder Eigentum geringe Bedeutung. Die stinkenden Türmäuler verwaister Zimmer atmeten meist Leere, oder aber sie umschlossen Belagerer und Obdachlose mit ihrer giftigen, dreckigen Aura.
"Wie ist es mit Zeugen? Man hat vom Innenhof einen guten Blick auf die Gasse", richtete er den Blick auf Skrapps.
Dieser zuckte mit den Schultern.
"Schwierig. Die meisten Klingeln haben keine Schilder. Und Sie sehen ja selbst: Nicht ein einziger Gaffer."
Moldenhauer sah sich um. Irgendwo auf diesem grauen Friedhof musste jemand die Tat beobachtet haben. Kein Mensch wurde in der Öffentlichkeit ungesehen derart zugerichtet.
Nach einigen Augenblicken fand der Kommissar, wonach er gesucht hatte.
"Da hinten ist eine Wäscheleine aufgespannt. Dort fangen wir an."
Auf dem Weg trat Skrapps in eine Pfütze und stolperte über den unebenen Boden. Sein Handy fiel ihm aus der Hand und landete im trüben Wasser.
"So eine Scheiße aber auch!"
Moldenhauer konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er seinen Kollegen dabei beobachtete, wie dieser ratlos auf das gebrochene Display seines Mobiltelefons starrte.
"Neuestes Modell?"
"Ach, das ist echt ärgerlich. Ich habe drei Wochen drauf gewartet, und jetzt ..."
Jemand schrie.
Beide griffen nach ihren Waffen und sahen sich um. In einiger Entfernung taten die Streifenbeamten schulterzuckend ihre Ahnungslosigkeit kund.
"Woher kam das?"
"Aus einer der Wohnungen", mutmaßte Skrapps.
"Kommen Sie!"
Sie liefen auf die Tür des dreistöckigen Gebäudes zu, bei dem Moldenhauer die Wäscheleine entdeckt hatte. Der Kommissar drückte wahllos auf sämtliche Klingelknöpfe.
Nach wenigen Sekunden ertönte der Türsummer.
Sie betraten ein mit Müllsäcken zugestelltes Treppenhaus, das von einer nackten, an der Wand angebrachten Glühbirne nur mäßig beleuchtet wurde. Irgendwo über ihnen quietschte eine Tür.
"Polizei! Wir haben einen Schrei gehört."
Keine Antwort.
Vorsichtig näherte Moldenhauer sich den Holzstufen, den Blick nach oben gerichtet. Er konnte niemanden sehen.
"Ist da jemand", rief er.
Zu seiner Überraschung antwortete eine rauhe Männerstimme mit: "Ja."
Einen Moment lang hielt er inne. Als der Unbekannte nichts weiter sagte, fügte Moldenhauer seiner Frage ein "Alles in Ordnung?" hinzu.
Sekundenlang horchte der Kommissar in die Stille, die nur von den vor die Scheiben prasselnden Tropfen gestört wurde.
"Sind Sie noch da?"
Es blieb bei dem Geräusch des Regens.
"Wir kommen jetzt zu Ihnen hoch."
Er winkte Skrapps zu sich heran, und beide brachten hastig die knarrende Treppe hinter sich, wobei sie sich dicht an den Wänden hielten.
In der ersten Etage gab es vier Wohnungen. Zwei Türen waren mit allem möglichen Unrat verbarrikadiert, die anderen beiden standen offen.
Moldenhauer lehnte sich an einen der Rahmen und spähte in den dahinterliegenden Flur.
Ein Mann stand dort im Dunkeln. Seine breite, vom spärlichen Licht des Raumes hinter ihm angeschienene Silhouette, rührte sich nicht einen Zentimeter.
"Endlich", flüsterte der Mann.
Moldenhauer umschloss den Griff seiner Waffe.
"Waren Sie das ... haben Sie uns wegen der Toten angerufen?"
Der Fremde lachte und rannte auf den Kommissar zu.
"Stehen bleiben!" - Moldenhauer feuerte einen Schuss ab.
"Scheiße!" - Skrapps griff nach seinem Funkgerät.
"An alle. Wir haben hier einen zwei-achter. Erster Stock. Rufen Sie einen Krankenwagen."
Moldenhauer beugte sich über den zu Boden gegangenen Unbekannten, der laut nach Luft hechelte. Sein Pullover färbte sich oberhalb der Lunge dunkelrot.
"Verdammt, sind Sie wahnsinnig ... damit müssen Sie doch rechnen!"
Wieder lachte der Mann, während er allmählich starb.
"Sie wissen nichts ... nichts! Dieses Buch ... es macht einen, einen ..."
Er hustete und Moldenhauer spürte Blut, das ihm ins Gesicht spritzte. Angeekelt zog er seinen Kopf zurück.
"Wahnsinnig wird man davon. Sie haben keine Ahnung, wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe. Keine ..."
Dann verstummte er.
Langsam richtete der Kommissar sich auf; hörte Skrapps, wie er den Kollegen unten etwas zurief.
Ein seltsames Gefühl hatte Besitz von ihm ergriffen.
Wankend betrat er das bis auf einen Tisch völlig unmöblierte Wohnzimmer. Der Einband des Buches war in einer Farbe, die er bislang nicht kannte.
Moldenhauer las den Titel.
Die Pforte jenseits der Sterne
Als er das Buch aufschlug, fiel die Tür in ihr Schloss und er verstand.