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Die Schlangengöttin (2. Fassung)
Um die Mittagszeit war die Hitze am stärksten. Wie eine unheilkündende Glocke hing sie über der Lichtung des Dschungels. Alyena hatte sich in den Schatten vor ihrer Hütte zurückgezogen. Nun kauerte sie auf dem lehmigen Boden und strich über Tarals Fell. Die Hündin trug diesen Namen, weil sie bei Vollmond geboren worden war.
Mit einem Mal richtete sie ihre Ohren auf und entwand sich Alyenas Arm.
„Was ist?“, fragte das Mädchen überrascht.
Doch Taral achtete nicht auf sie, sondern sprang bellend auf dem Vorplatz umher. Als Alyena ihren Kopf hob, erblickte auch sie jene drei Gestalten, die den Weg herauf marschierten. Es handelte sich um zwei Männer und eine Frau; ihre luftige, weiße Kleidung wies sie als Fremde aus. „Wer das wohl sein mag“, dachte Alyena. Kaum jemand verirrte sich jemals zu ihrer Wohnstätte. Umso größer war ihr Erstaunen darüber, was die Menschen hier suchten.
Nun hatten die Fremden den Schatten erreicht und begrüßten sie. Taral floh vor ihnen in die Hütte, nur ihr Gebell war noch zu vernehmen. Zögernd stand Alyena auf und erwiderte den Gruß.
„Mädchen, kennst du den Weg zur Tempelanlage?“, fragte die Frau und lächelte vertrauenerweckend. Der jüngere der beiden Männer hatte den Arm um ihre Hüfte geschlungen; offenbar standen sie sich sehr nahe.
Alyena dachte nach. Sie hatte schon oft in der Nähe des Tempels gespielt, obwohl die Mutter ihr verboten hatte, ihn zu betreten. Angeblich lauerten dort giftige Schlangen. Vielleicht, so überlegte sie, gab es dort aber noch etwas anderes – etwas, das so gefährlich war, das man seinen Namen nicht nannte. Nein, dies waren nichts als kindische Gedanken.
„Ich kenne den Weg“, antwortete Alyena. Der ältere Mann näherte sich ihr. Sein zerfurchtes Gesicht ließ sie inmitten der Hitze erschauern, doch sie rührte sich nicht. Nun öffnete er seine Hand und gab den Blick auf einige schimmernde Münzen frei.
„Willst du uns führen? Wir können dich entlohnen“, sagte er.
Alyena wusste nicht, was sie ihm entgegnen sollte. Der Mann war ihr nicht geheuer, doch die beiden jungen Leute schienen freundlich zu sein. In ihrer Gesellschaft würde sie sich gewiss wohl fühlen. Oder täuschte dieser Eindruck?
„So, du willst also mehr“, brummte der alte Mann und langte in seine Tasche. Ein weiterer Haufen Münzen kam zum Vorschein.
Das Mädchen runzelte seine Stirn. Sie wusste, wie glücklich ihre Eltern über einen solch unverhofften Segen wären. Noch am vorigen Tag hatte die Mutter geklagt, dass das Geld für neues Werkzeug fehle. Zudem war Alyena mittlerweile höchst neugierig geworden. Wenn sie die drei begleitete, würde sie vielleicht erfahren, woher sie kamen und was sie im Schilde führten.
„Ich bin einverstanden“, gab sie zur Antwort. „Bitte folgen Sie mir.“
Sie überquerte den Vorplatz und bog einige Zweige zur Seite. Nun betrat die Gruppe den dichten, wuchernden Wald. Wohin Alyena auch blickte, überall erkannte sie grüne Blätter, von denen Tautropfen perlten. Es war, als bräche der Dschungel ob der drückenden Hitze in Schweiß aus.
„Taral!“, rief sie. „Möndchen!“
Sie wartete, doch die Hündin erschien nicht. Ahnte sie etwa eine künftige Gefahr? Oder war sie einfach nur zu müde, um sie zu begleiten? Alyena verspürte eine leichte Unruhe, doch sie beschloss, nicht darauf zu achten.
Langsam setzte sich der Trupp in Bewegung. Alyena ging einige Schritte voraus und hielt ihre Augen auf den Trampelpfad gerichtet. Manchmal waren die Spuren verwischt, so dass sie ihren Kopf zu den hohen Baumkronen hob, um sich zu orientieren. Doch war der Himmel inmitten des wilden Gestrüpps kaum sichtbar. Ständig waren sie gezwungen, Zweige umzubiegen oder herabhängenden Ästen auszuweichen. Einmal war ihr Weg völlig versperrt.
„Das haben wir gleich!“, sagte der ältere Mann mit einem seltsamen Grinsen und nahm ein Buschmesser zur Hand.
Ein Schauer lief über Alyenas Rücken. Schon die ganze Zeit über war er dicht hinter ihr gefolgt, so dass sie seinen heißen Atem in ihrem Nacken gefühlt hatte. Sie wünschte ihn weit fort, obgleich sie ihre Abneigung gegen ihn nicht erklären konnte.
Schließlich hatte der Mann seine Arbeit beendet und die Menschen setzten ihren Weg fort. Die Luft war von allerlei seltsamen Tierstimmen erfüllt. Ein Kari-Vogel flatterte an ihnen vorüber und flüchtete in einen Baum. Schon als sie ihn längst nicht mehr sahen, vernahmen sie noch immer sein trauriges Lied. Alyena spürte, wie ihre Kleidung am Körper klebte. Auch die anderen waren sichtbar erschöpft.
„Wollen wir nicht eine Pause einlegen?“, fragte die junge Frau.
Die Männer stimmten zu. Sie rasteten auf einer kleinen Lichtung und tranken Wasser aus einer blechernen Flasche. Plötzlich erhob sich der ältere Mann und verschwand im Gebüsch. Alyena war froh, ihn nicht mehr in ihrer Nähe zu wissen. Sie kletterte auf einen kleinen Baum, um eine saftige Frucht zu pflücken. Gerade wollte sie nach ihr greifen - da hörte sie die Stimmen des Paares, das sich unter dem Baum niederließ.
„Tarek, weißt du, wo Gron ist?“, fragte die Frau.
„Keine Ahnung“, erwiderte der junge Mann.
„Aber die Kleine scheint ihn auch nicht besonders zu mögen.“
Alyena saß regungslos auf ihrem Ast. Sie konnte kaum fassen, dass die beiden von ihr sprachen.
„Das ist auch kein Wunder“, meinte die Frau.
„Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob wir ihm überhaupt trauen können. Was ist, wenn er doch nicht mit uns teilt? Wenn er sich allein davonmacht?“
„Ich verstehe dich, Lián“, antwortete Tarek. „Aber wir sind nun einmal auf ihn angewiesen. Er ist der Beste. Man sagt, niemand habe mehr Erfahrung als er.“
Ein Rascheln im Gestrüpp verriet, dass Gron zurückkehrte. Nachdem Lián und Tarek sich entfernt hatten, sprang Alyena auf die Erde herab. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wovon hatten die beiden gesprochen? Es schien, als teilten sie ein Geheimnis miteinander.
Sie waren nun schon sehr lange unterwegs, und Alyena fühlte, wie die Müdigkeit von ihr Besitz ergriff. Doch die Frage, was die Fremden vorhatten, hielt sie wach. Endlich schimmerten die Umrisse des Tempels durch die Zweige.
„Wir sind gleich da“, rief sie und lief voran.
Sie befanden sich nun inmitten einer größeren Lichtung. Vor ihnen ragte der pyramidenförmige Tempel in die Höhe. Er war aus rotem Gestein erbaut, und die Zeichen der Zeit hatten auch ihn nicht verschont. An einer Seite war er beinahe eingefallen, Schlingpflanzen rankten sich an seinen Mauern empor. Dennoch war Alyena jedes Mal, wenn sie ihn sah, auf unerklärliche Weise beeindruckt.
„Du kannst jetzt gehen“, forderte der ältere Mann.
„Sind Sie sicher, dass Sie auch wieder zurück finden?“, fragte Alyena.
So abstoßend sie Gron auch fand, hätte sie doch gerne erfahren, was er und das junge Paar im Tempel zu suchen hatten.
„Aber ja. Nimm dein Geld und warte nicht auf uns!“, sagte er in gereiztem Tonfall.
Alyena bedankte sich und steckte die Münzen in eine Tasche ihres Kleides. Langsam trat sie den Rückweg an. Als sie sicher war, dass die Leute im Inneren des Tempels verschwunden waren, kehrte sie um. Vorsichtig schlich sie die Stufen zum Eingang hinauf. Sie hatte Angst, dass das Gestein abbröckeln und sie verraten könnte, doch nichts dergleichen geschah. Sie wählte einen Platz, an dem sie nicht gesehen werden konnte, und lugte in den Tempel hinein. Ihr Herz klopfte laut, ihr Atem ging schneller. Was würde sie nun zu Gesicht bekommen?
Die drei Gestalten befanden sich im Halbdunkel, aber ihre Stimmen waren deutlich zu vernehmen.
„Ich weiß nicht…“, meinte Tarek, „irgendwie ist mir nicht wohl bei dieser Sache.“
„Warum?“, fragte Gron. „Hast du etwa Angst vor einem bösen Fluch?“
Sein boshaftes Lachen hallte von den Wänden wider.
„Unsinn!“, erwiderte der andere scharf. „Ich frage mich nur, weshalb wir hier noch etwas finden sollten.“
„Das kann ich dir sagen: Weil wir die Karte haben! Her damit, Lián!“
Alyena beobachtete, wie die Frau etwas aus ihrer Tasche hervorholte und es dem Mann anvertraute. Vor Spannung ballte das Mädchen die Fäuste. Was hofften die Leute zu finden?
Tarek zündete eine Lampe an und richtete sie auf ein vergilbtes Schriftstück. Im Lichtschein wirkten die Gesichter der Fremden geradezu ehrfürchtig. Nun schritten sie eine Wand entlang und begannen, sie abzutasten.
„Es muss hier irgendwo sein“, sagte einer der Männer. „Ein geheimer Mechanismus…“
„Tarek!“ Die Frau hatte laut aufgeschrieen.
„Was hast du?“
Der junge Mann wandte sich um. In diesem Moment entglitt die Lampe seinen Händen und erlosch. Tausende von Glassplittern regneten auf den Boden hinab.
Nun konnte Alyena sich nicht länger beherrschen: Sie musste ergründen, was im Tempel vor sich ging. Keiner der Fremden reagierte, als sie neben ihnen stand. Zu sehr waren sie von der Erscheinung gefesselt, die sich vor ihnen erhoben hatte. Es war eine Schlange von ungewöhnlicher Größe. Ihre Schuppen glänzten im herrlichsten Grün, auf ihrem majestätischen Kopf thronten zwei leuchtend gelbe Augen. Ihre gespaltene Zunge zitterte im Halbdunkel. Alyena drehte den Kopf und sah, wie Hunderte von Schlangen aus den Mauerritzen gekrochen kamen. Sie alle strömten in die gleiche Richtung. Sie wanden sich auf den zerbrochenen Tempelfliesen, bis sie die größte Schlange erreicht hatten, und verharrten wie eine Armee hinter ihrer Gebieterin.
Alyena erbebte. Sie wollte laufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Schweißperlen rannen ihre Wangen herab, und ihr Herz schien aus dem Brustkorb zu springen. Ein Gedanke schoss in ihren Kopf: die Erinnerung an eine alte Erzählung, die sie vor langer Zeit vernommen hatte. War dies nicht der Tempel der Schlangengöttin, der Hüterin des Dschungels?
Gegen ihren Willen starrte sie in die Augen der Schlange. Es war, als hätte sie einen Bannzauber über Alyena verhängt. Licht fiel durch den Tempeleingang und ließ die Staubkörner tanzen. Mit einem Mal erahnte Alyena die Gedanken der Schlange. Sie wusste, welche Worte sie sprechen würde, wenn sie dazu fähig wäre:
„Ihr seid gekommen, um zu rauben. Ihr wolltet nehmen, was euch nicht zusteht. Empfangt nun eure Strafe!“
„Nein!“ Noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte sie es ausgerufen.
Lián, die neben ihr stand, zuckte verstört zusammen. Gron sprang ruckartig auf und rannte dem Ausgang zu. Doch einige Schlangen folgten ihm, wanden sich um seine Beine und brachten ihn zu Fall.
„Elender Feigling!“, zischte Tarek.
Seine Stimme zitterte vor Angst oder Wut.
Nun war es an der Zeit, dass Alyena handelte. Auch wenn die Angst sie beinahe lähmte - niemand anderer war zugegen, um sie alle zu retten. Sie schloss kurz die Augen, dann blickte sie fest in das Angesicht der königlichen Schlange.
„Bitte verschone ihn!“, brachte sie hervor. „Es ist wahr, dass er grauenvoll erscheint. Aber in Wirklichkeit hat er nur Angst!“
In den Augen der Schlange zeigte sich keine Veränderung. Die Spannung schien die Luft zum Flirren zu bringen. Doch Alyena hielt dem Blick des überirdischen Wesens stand.
„Was hast du im Sinne?“, schien es zu fragen.
„Ich..., ich habe sie hergeführt“, erwiderte Alyena zögernd. „Ich wusste nicht, was sie vorhatten. Es tut mir zutiefst Leid. Bitte vergib mir!“
Die Schlange schob ihren Kopf nach vorne. Und doch wirkte sie nicht länger bedrohlich. Alyena war es, als blickte das Wesen sie wohlwollend an.
Ermutigt fuhr sie fort: „Auch die Fremden wussten nicht, was sie taten. Nun aber haben sie so große Angst, dass sie bestimmt nie wieder kommen würden. Ich bitte dich, lass sie gehen!“
Die prachtvolle Schlange sah Alyena noch einmal an. Dann glitt sie zur Seite und näherte sich der vergilbten Karte, die zu Boden gesunken war. Atemlos verfolgte das Mädchen jede ihrer Bewegungen. Sobald die Schlange das Schriftstück berührte, zerfiel es zu Staub. Nun wandte sie sich erneut Alyena zu.
„Du kannst gehen, Kind!“, schien sie sagen zu wollen.
„Ich danke dir!“, antwortete Alyena.
Nie zuvor hatte sie diese Worte so ernst gemeint. Langsam machte sie kehrt und gewahrte, wie die anderen aus dem Tempel flohen - Gron stürmte voran. Als sie noch einmal zurück blickte, war sie kaum überrascht, dass die große Schlange verschwunden war. Auch ihre Gefährten zogen sich in die Mauerritzen zurück, so dass schließlich nur noch Leere im Tempel herrschte. Und doch war etwas zurückgeblieben - etwas, das Alyena nicht in Worte fassen konnte. Sie verneigte sich noch einmal, dann verließ sie den Ehrfurcht gebietenden Ort.
Im angenehm kühlen Schatten des Abendlichtes saß Alyena wiederum vor ihrer Hütte. Sie nahm Taral auf ihren Schoß und kraulte sie hinter den Ohren. Die Hündin war wieder ganz munter, nichts deutete auf das vergangene Geschehen hin. Taral allein hatte sie ihre Geschichte anvertraut. Den Eltern würde sie erzählen, dass sie drei Fremden den Tempel gezeigt und dafür eine Summe Geld erhalten habe.
„Wir haben ein Geheimnis, Möndchen!“, flüsterte sie in Tarals Ohr.
Langsam sank die Sonne und breitete ihre letzten Strahlen über Alyena, den Dschungel und den weit entfernten Tempel aus.