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Die schwere Entscheidung und die kleine, perfide Ader
Martin überflog die Zeilen, die aus der Chefetage kamen, musste daraufhin dringend aufs Klo, ließ alles so liegen und eilte hinaus.
Als er wiederkam, konnte er in ihren erschrocken ängstlichen Gesichtern lesen, dass sie den Inhalt des Schreibens inzwischen kannten. Von den zu Dreiergruppen gestellten Schreibtischen flehten ihn elf Augenpaare an: »Bitte nicht mich!« Sogar die Telefone blieben einen Moment lang still, als spürten sie die gespannte Stimmung.
»Ihr wisst es also schon.«
Nicken.
»Glaubt nicht, dass mir das leicht fällt.«
Martin atmete tief ein, mit einem Stoßseufzer wieder aus, und setzte sich. Vor sich ein bedrucktes Blatt Papier der Werksleitung mit einem freien Feld, in das er bis Ende der Woche einen Namen einzutragen hatte. Flugs verschwand es in einer Flügelmappe und landete in der obersten Schreibtischlade. Der zweiten Lade entnahm er einen Urlaubsschein, füllte ihn für die kommenden drei Tage aus, vermerkte als PS »brauche Zeit und Ruhe zur Entscheidungsfindung« und schickte ihn mittels Rohrpost zur Firmenleitung.
Immer noch sahen ihn manche an, andere schienen in die Leere zu starren. Die beiden Dienstjüngsten wirkten nervös, als wäre es keine Frage, dass es einen von ihnen treffen würde.
Ein Telefon durchbrach endlich die Stille, und die Frauen und Männer der Exportabteilung setzten das Klopfen auf Tastaturen und Rechenmaschinen so eifrig fort, als wollte jeder für sich beweisen, dass die Firma nicht auf ihn verzichten konnte. Martin saß da, ließ seine Blicke von einem Mitarbeiter zum nächsten gleiten. Wessen Existenz sollte er vors Nichts stellen?
Schon längst hatte er sich mit der Frage auseinandergesetzt, Massenentlassungen kannte man seit Jahren aus den Zeitungen, doch da es bislang keinen konkreten Anlass gab, musste er sie nie zu Ende denken, konnte sich der Hoffnung hingeben, das alles würde diesen Betrieb nicht betreffen.
Ein dumpfes Geräusch hinter ihm kündigte die Rohrpost an. Er entnahm der Rolle seinen genehmigten Urlaubsschein, steckte ihn mit einer Büroklammer auf seinen Kalender und sagte: »Ich bin erst am Freitag wieder da. Wenn was Dringendes ist, bin ich zuhause erreichbar.«
Da angekommen, belegte er sich vier Scheiben Toastbrot mit Schinken, schnitt zwei Paradeiser in Scheiben, verteilte sie darauf, würzte mit Salz und Oregano, als Abschluß eine Scheibe Toastkäse, und legte sie in den halb geöffneten Plattengriller. Als sie fertig waren, setzte der sich damit vor den Fernseher, um die Nachrichten anzuschauen, und biss vorsichtig von einem Toast ab, um sich nicht an einem der Paradeiser die Zunge zu verbrennen. Wäre er nicht vorbereitet gewesen, hätte er sich verschluckt. »… dem Arbeitsmarkt-Frühwarnsystem dreihundert der knapp fünftausend Mitarbeiter zur Kündigung angemeldet.« Martin blies ein »bwww« zwischen seinen Lippen hervor, biss dann mit Wucht ganze Viertel von seinem Toast ab und kaute immer wilder und fester, bis alles aufgegessen war.
»Das muss ich jetzt erst einmal verdauen«, sagte er zu sich selbst, während er den Teller in den Geschirrspüler stellte. Dann zog er sich seine Schuhe wieder an, nahm sein Funktelefon mit und spazierte die vierhundert Meter zu seinem Schrebergarten, seinem liebsten Hobby, wo er den Rest des Tages damit verbrachte, Unkraut zu zupfen und auf der Gartenliege zu lesen. Dazwischen ließ ihm die Frage keine Ruhe: Wem standen die besten Möglichkeiten außerhalb des Betriebs in Aussicht, wer hatte praktisch null Chance?
Die jüngeren, die man normalerweise zuerst rausschmeißen würde, hatten kleine Kinder, Peters Frau war gerade im achten Monat schwanger. Von Gregor und Heinz wusste er, dass sie Kredite für ihre Häuser laufen hatten, Katharina und Heidi waren geschieden und hatten ebenfalls Kinder. Und die älteren Mitarbeiter, die über fünfunddreißig, hatten doch von vornherein auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr. Die ganze Umgebung war bereits offiziell zur Krisenregion erklärt worden.
Kurz vor Sonnenuntergang goss er mit dem Gartenschlauch alle Pflanzen, als sein Schwager, Karl, der den Nachbargarten besaß, ebenfalls kam. Gemeinsam tranken sie noch zwei Bier und Martin erzählte ihm, was los war. »Jetzt bin ich über dreißig Jahre im Betrieb, aber noch nie ist mir eine Entscheidung so schwer gefallen.«
Karl klopfte ihm auf die Schulter. »Du machst das schon, Martin. Wir könnten übrigens jemanden brauchen, der unsere Wohnung putzt – falls das dem, den es trifft, dann eine Hilfe ist.«
Am Abend des selben Tages, nachdem er alle Möglichkeiten noch einmal durchgedacht hatte, traf er seine Entscheidung.
Die restliche Zeit verbrachte er erleichtert und gut gelaunt von morgens bis abends in seiner kleinen Idylle. Die letzten Wochen war er nicht zu viel gekommen, so konnte er jetzt einige Arbeiten nachholen, die schon überfällig waren. Die Frage quälte ihn nicht mehr länger und er genoss das Leben. Freute sich an den Schmetterlingen, sah den Wespen zu, wie sie immer in dasselbe Loch im Holz flogen, beobachtete die Erdbeeren dabei, wie sie langsam rot wurden, aß Salat und Erbsen frisch geerntet, und er fixierte den erstochenen Gartenzwerg, den er von seiner Tochter zum Geburtstag bekommen hatte, neben dem Zaun zu seinem anderen Nachbarn, in dessen Garten die Zwerge wuchsen, wie bei ihm Obst, Gemüse und Blumen.
Er fühlte sich richtig wohl.
Als er freitags wieder ins Büro kam, erstarrte die ganze Abteilung. Er fühlte sich etwas flau im Magen und entschied sich, die Spannung noch etwas aufrecht zu halten und auszukosten. Ein Anflug eines Grinsens huschte über sein Gesicht, doch er verkniff es sich sogleich. Manche bemerkten es, zogen die Augenbrauen zusammen. Sie kannten ihn doch gut, waren schon so oft nach Dienstschluss gemeinsam beim Wirten auf ein Bier, alle duzten sich.
Martin meldete sich telefonisch vom Urlaub retour, lehnte sich dann zurück. Die Ellbogen auf den Armlehnen, die Finger verschränkt vor seinem Magen, fragte er: »Will jemand Tipps abgeben?«
»Komm, Martin«, ergriff Paul, der Älteste, das Wort, »spann uns nicht auf die lange Folter, ist doch nichts Lustiges, bei dem man Wetten abschließt. Also: Wen trifft es?«
Martin öffnete die oberste Schreibtischlade, nahm das Formular aus der Mappe, füllte es aus, steckte es in den Behälter für die Rohrpost und sendete es ab.
Dann fragte er danach, was sich die Woche über getan hat, und benahm sich, als sei ein ganz normaler Arbeitstag.
Eine halbe Stunde später wurde er in die Werksleitung gerufen. Fragende Gesichter und auch Worte verfolgten ihn beim Verlassen des Raumes und empfingen ihn wieder, als er eine Stunde später zurückkam. Endlich sagte er: »Ich kann euch beruhigen: Die Werksleitung hat bereits zugestimmt und der Betreffende weiß es schon. Wie ihr seht, ist es niemand von euch.«
Die Köpfe drehten sich zu Rainers leerem Platz, manche schauten erschrocken, wenige zuckten mit den Schultern, aber erleichtert schienen trotzdem alle. Rainer war seit zwei Wochen krank …
Abends traf Martin wieder Karl im Garten. Sie öffneten zwei Bierflaschen, stießen an. »Na, es scheint dir ja schon besser zu gehen. Hast’ dich schon entschieden?«
»Ja.« Jetzt konnte er endlich frei herauslachen. »Wann darf ich denn putzen kommen?«
Karl schaute ihn mit aufgerissenen Augen an. »Das meinst du jetzt aber nicht ernst, Martin.« Er zog eine Augenbraue hoch.
»Gut, das Putzen war ein Scherz. Aber warum sollte ich einem von den Jungen das Leben versauen, wenn ich die vier Jahre bis zu meiner Pensionierung gern hier im Garten verbringe? Ich hab alles und genug gespart, die Kinder sind erwachsen, ich hab für niemanden mehr zu sorgen, außer für mich selbst. Da wäre ich doch blöd, das nicht zu tun, oder? Paul schule ich natürlich noch als Abteilungsleiter ein, dann kann das Leben kommen.«
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