Die schwierigste Aufgabe
8:30 Uhr morgens. Normalerweise pflegen wir beide um diese Uhrzeit noch nicht wach zu sein. Aber heute müssen wir – hellwach. Das sind wir durch die Aufregung ob der wichtigen Aufgabe des heutigen Tages sowieso. Angespannt wie die Flitzebögen, nicht einmal ein dreifacher Espresso würde hier noch eine Steigerung erzielen. Ich stehe vor der Wohnungstür meiner besten Freundin, klopfe ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und warte darauf, dass sie endlich fertig ist und die Tür hinter sich zuzieht. Damit wir uns auf den Weg zu dem Ort machen können, an dem wir den vorletzten Schritt zur Beendigung unserer Aufgabe vollziehen können. Wir haben uns den Tag extra freigenommen, um es zu schaffen.
9:00 Uhr. Angekommen. Die Frist läuft, der Zeitdruck sitzt uns im Nacken, nein, er sitzt da nicht nur, er drückt sein ganzes Gewicht mit beiden Beinen hinein. Also an die Arbeit. Den Rechner hochgefahren, ungeduldig die Sekunden vom Drücken des Knopfes bis zur Eingabe des Passworts abwartend, um endlich arbeiten zu können.
Das erste Dokument ist auf der Festplatte gespeichert. Natürlich nicht nur dort, es existieren zahlreiche Sicherheitskopien. Doch die Festplatte hatte die letzten Wochen gute Laune und war bereit, das Werk von Stunden und Tagen bis heute anstandslos zu speichern. Ich rufe die Datei auf. Letzte offensichtliche Fehler werden ausgemerzt, Zeit, die unoffensichtlichen zu suchen, bleibt leider keine mehr. Nur noch ein kurzes Überfliegen – ist das Format auch überall stimmig? - dann die Druckoption gewählt. Genug Papier im Drucker? Ja. Dann los! Hoffentlich gibt es keinen Druckstau, solche unvorhersehbaren Dinge haben immer die Angewohnheit, im unpassensten Moment aufzutreten. Doch erstaunlicherweise klappt alles reibungslos, ich halte meine 25 wertvollen Seiten unversehrt in der Hand und atme tief durch. Setze mich auf den nächsten Stuhl, um mein Schriftstück noch einmal in gedruckter Version genau zu begutachten, auf Fehler zu überprüfen. Vielleicht ist das keine gute Idee, denn nochmaliges Korrigieren passt nicht mehr in unseren eng gestrickten Zeitplan.
9:45 Uhr. Zigarettenpause. Zigaretten sind ja bekanntlich Nervengift, aber irgendwie beruhigt alleine das Halten einer Zigarette die Nerven doch unheimlich! Den letzten Zug tief inhaliert, wieder zurück in den Raum, in dem das Technische Wunderwerk steht, auf dessen Funktionalität wir heute angewiesen sind, wie noch nie zuvor.
Das zweite Dokument auf Diskette. Nun ist meine beste Freundin dran. Die Diskette ins Laufwerk geschoben, dann die gleiche Prozedur. Durchsehen, letzte Fehler korrigieren, ausdrucken. Während sie damit beschäftigt ist, sehe ich hin und wieder von meinem Ausdruck auf und betrachte sie kurz. Meine beste Freundin. Meine beste Freundin und ich. Was wir schon alles zusammen gemeistert haben! Viele schwierige Aufgaben: Haben uns gegen gegenseitig bei Männern, die unseren Stolz verletzt haben, gerächt; haben uns während Diäten beigestanden, gemeinsam das Leben unserer Sportlehrerin während der allwöchentlichen zwei Stunden zu Hölle gemacht, haben uns bei nervenaufreibenden Umzügen geholfen…
Aufgaben, die das Leben einem so stellt. Doch heute stehen wir vor der schwierigsten. Wenn wir diese nicht bestehen, ist alles, worauf wir die letzten neun Jahre hingearbeitet haben, vorbei, umsonst gewesen. Last chance never comes back. Eigentlich ist das eine Aufgabe, in der jede von uns auf sich selbst gestellt ist. Doch wir wollen zusammenhalten, es zusammen schaffen.
10:30 Uhr. Wir verpacken unsere Ausdrucke Seite für Seite in die Klarsichtfolien einer Mappe. Vorsichtig, bloß keine Knicke ins Papier bringen, keine Seite verwechseln! Feinarbeit. Als das geschafft ist, packen wir die Mappen in unsere Taschen, mummen uns dick in warme Jacken und Schals ein und schieben uns hinaus in die Kälte. Tiefster Winter, 10° minus, der Frost beißt uns ins Gesicht. Doch wir machen uns tapfer auf den Weg. Der Weg ist der letzte Schritt zur Vollendung.
Wir stehen auf der Kuppe des Berges, der uns von der Haupstraße trennt. Einen Schritt weiter und das Tempo kommt ganz von alleine, wir rutschen den Berg mehr hinunter, als dass wir gehen, die Straße ist komplett vereist. Auf der horizontalen Ebene der Hauptstraße angekommen befinden wir selbst uns dem Himmel sei Dank immer noch in der vertikalen. Und weiter. Schritt für Schritt, so gut es eben geht. Rennen ist nicht drin, die Ausrutschgefahr ist einfach zu groß. Doc Martens, unserer Meinung nach die Mütter aller Schuhe, werden im Winter zu hinterlistigen Todesfallen! Wie oft schon lagen wir im Winter in einem unbedachten Moment plötzlich rücklings auf dem Boden, in dem Wunsch, er möge uns bitte gleich noch verschlucken, weil so viele Leute den uneleganten Sturz beobachtet haben.
Also befehlen wir unseren Füßen, sich schnell und trotzdem vorsichtig vorzutasten – halten uns dabei gegenseitig fest. Und nehmen uns ein Versprechen ab: Eine von uns muss es schaffen! Stürzt die eine, egal wie schlimm, muss die andere ihr Schriftstück an sich nehmen und den Weg alleine fortsetzen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Nur auf die Dokumente kommt es an, sie sind heilig!
Kämpfen uns weiter vorwärts, haben keinen Blick für die wunderschöne, stille Winterlandschaft. Nun über den Bürgersteig, den der nachlässige Anwohner noch nicht vom Schnee befreit hat. Unsere Beinmuskeln verkrampfen sich in der Anstrengung, durch die kniehohe Schneedecke zu gelangen. Aber wir schaffen es.
11:00 Uhr. Ausser Atem stehen wir vor den Türen des großen Gebäudes. Wir schauen uns an, schreien vor Freude kurz auf, grinsen. Nun ist es nicht mehr schwierig, wir haben es fast geschafft. Stürmen durch die Türen ins Innere des Gebäudes, rennen die 43 Stufen bis vor die Tür unseres Kontaktmannes. Klopfen, warten ungeduldig. Ist er da? Ja, er öffnet die Tür und schaut uns überrascht an, irritiert von unseren keuchenden Bemühungen, Luft zu holen und unseren hochroten Gesichtern, die Freude ausstrahlen, ihn zu sehen. Wir fassen in unsere Taschen, greifen nach unseren Mappen und überreichen sie ihm feierlich. Er nickt uns zu, schließt die Tür. Wir warten mit unserer Reaktion, bis wir wieder im unteren Stockwerk stehen. Fallen uns dort erleichtert in die Arme, jubeln, lachen unbändig.
Wir haben es geschafft! Wir haben es tatsächlich geschafft, unsere Facharbeiten eine Stunde vor Ablauf der Frist unserem Kollegstufenbetreuer in die Hand zu drücken und haben somit offziell alle Anforderungen für die Zulassung zur Abiturprüfung erfüllt.
Wir schwänzen auch noch die letzte Stunde und gehen in unser Stammkaffee für blaugemachte Stunden, um uns dort ein Glas Sekt zu genehmigen. Das haben wir uns verdient, oder?