Die Seele kann warten
Manchmal, und meist aus heiterem Himmel, taucht die Erinnerung an meinen ersten Kuss wieder auf. Und obwohl seitdem etwa 20 Jahre vergangen sind, ist es noch immer so, als würde ein kleiner Stromschlag mein Herz neu antreiben. Das Kribbeln hat über all die Zeit hinweg nicht an Intensität verloren. Der Mann, der mir damals diesen Kuss gab, ist inzwischen alt geworden, unsere Beziehung auf wenige Begegnungen reduziert. Er wird aber immer einen Platz in meinem Herzen haben – die erste große Liebe scheint eben doch für die Ewigkeit bestimmt zu sein, und das umso mehr, je komplizierter diese erste Liebe ist, und meine war sehr kompliziert.
Ich war noch sehr jung, zu jung für große Gefühle, doch ich habe Arno Bender von Anfang an und niemals anders als mit den Augen einer Frau gesehen. Als ich ihn kennenlernte, war ich zehn Jahre alt. Arno war mein Klavierlehrer, Mitte vierzig, verheiratet, zwei Kinder.
Ich kam an diesem Dienstag in die Musikschule und wurde vom Direktor in sein Büro gerufen. Ein Mann war bei ihm, bei dessen Anblick mein Herz den Takt wechselte. Ich sah ihn und war plötzlich erwachsen. Natürlich konnte ich mir damals nicht erklären, was da mit mir geschah, aber ich empfand dieses neue Gefühl als etwas Wunderbares. Ich schaute ihn an und bemerkte, dass auch meinen neuen Klavierlehrer, als den ihn mir der Direktor vorstellte, irgendetwas bewegte, oder vielmehr beunruhigte. Zur Begrüßung hatte er mir in die Augen gesehen, ziemlich lange sogar. Er schaute wie gebannt, dann wendete er den Blick ab und sah nur noch durch mich hindurch. Er musste in meinen Augen etwas gelesen haben, etwas, das ihm Angst machte, große Angst. Heute weiß ich, was es war – er stand vor einem kleinen Mädchen, das ihn mit den Augen einer Frau ansah, in die er sich verlieben würde, wenn er länger hineinschaut. Damals wunderte ich mich nur, warum Arno Bender mir nicht mehr ins Gesicht sah.
Oft saß er neben mir am Klavier, beobachtete mein Spiel, doch er war abwesend, schien zu träumen. Ich machte Fehler, und er bemerkte es nicht, und er wagte es nicht, mich zu berühren, um beispielsweise die Haltung meiner Hände zu korrigieren. Er reichte mir nicht einmal die Hand wenn ich kam oder ging. Er wollte kühl und unnahbar sein, dennoch war die Atmosphäre im Unterrichtszimmer brennend heiß. So ging das viele Monate lang, und ich liebte ihn wie einen Gott.
Eines Tages, wir übten an einem vierhändigen Satz, rieb sich sein kleiner Finger an meinem. Er vergriff sich in den Tasten, zog seine Hand sofort beiseite und ich sah, dass sich die Haare auf seinem Arm aufgestellt hatten. Auch ich hatte einen Schauer gefühlt, wie einen leisen Windhauch, der sanft meinen Körper umspielt. Verwirrt sah ich ihn an und er blickte stumm zurück. Ich bemerkte die Angst in seinen Augen und wusste einen Moment lang nicht, wie ich mich verhalten sollte. „Daneben!“ prustete ich schnell und lachend hervor, wandte mich dem Klavier zu, als wäre nichts geschehen und half Arno damit aus dieser brenzligen Situation.
Ich saß jeden Tag Stunden lang am Klavier und übte. Nach jeder Unterrichtsstunde freute ich mich schon auf die nächste. Und Arno freute sich auch. Er verlor seine Angst, denn ich bemühte mich, Kind zu sein, ihn meine Gefühle als kindliche Zuneigung empfinden zu lassen. Ich habe mein körperliches Kind-Sein benutzt, um ihn darüber hinwegzutäuschen, dass mein Herz schon lange kein Kind mehr war, und meine Seele schon gar nicht.
Es war schwer, und sicher habe ich dadurch auch vieles verloren, was Kindheit ausmacht. Aber ich bin froh, es getan zu haben – nicht nur, weil es Arno Bender dadurch möglich war, zu einem engen Vertrauten, einer Art väterlichem Freund zu werden, sondern auch, weil ich heute viele Dinge mit anderen Augen sehen kann. Die Erfahrung mit Arno hat mich gelehrt, dass man sich nicht in ein Gesicht, einen Charakterzug oder einen schönen Körper verliebt, sondern in die Seele eines Menschens, oder das, was Seele ausmacht, wie auch immer man es bezeichnen möchte. Und wenn man das weiß, dann spielt es keine Rolle mehr, wie alt oder jung derjenige ist, in dessen Seele man sich verliebt hat. Manchmal steckt in einem Kind die Seele eines Erwachsenen, und dann entstehen solch komplizierte Geschichten, wie die meine.
Die Musikschule wurde irgendwann geschlossen und ich nahm Privatstunden bei Arno Bender. Mal kam er zu mir nach Hause, mal war ich bei ihm, er wurde zu einem Freund der Familie, seine Kinder waren wie ältere Geschwister für mich. Ich durfte sogar hin und wieder bei Benders übernachten. Wovon ich bei solchen Gelegenheiten träumte, brauche ich wohl nicht zu erläutern. Es waren jedenfalls keine Kinderträume.
Eines nachts hatte ich einen bösen Traum und wachte weinend auf. Arno und seine Frau standen an meinem Bett, und Arno nahm mich tröstend in den Arm. Eine unschuldige Szene, die jedoch voller tiefer Bedeutung war. Zum ersten Mal gab es körperliche Nähe zwischen uns. Er blieb bei mir, bis ich wieder eingeschlafen war und streichelte über mein Haar. Mir gefiel diese Nähe und ich wünschte mir so sehr, ihm viel öfter so nahe sein zu können. Von dieser Nacht an umarmte ich ihn immer, wenn wir uns zum Klavierspielen trafen. Ich ließ es freundschaftlich und familiär aussehen, aber das war es nicht. Und Arno wusste das genauso gut wie ich. Aber er ließ diese Umarmungen zu, gab mir sogar manchmal einen kleinen Kuss auf die Wange oder die Stirn. Er hatte sich längst in mich verliebt, nahm, was er an Zärtlichkeiten bekommen konnte, ohne sein Gewissen dadurch belasten zu müssen, Sehnsucht danach zu haben, einem Kind die gleichen Gefühle entgegenzubringen, wie einer Frau.
Damals war ich noch lange keine Frau, eher ein brust- und menstruationsloser Teenie, bei dem noch nicht einmal die Pickel-Phase eingesetzt hatte. Meine Freundinnen erzählten von ihren ersten Erfahrungen mit Jungen in ihrem Alter, mit Klassenkameraden, und ich interessierte mich überhaupt nicht dafür. Meine Gedanken kreisten in ganz anderen Sphären. Das Gefühl, verliebt zu sein, kannte ich schon so lange, und dass Arno Bender für mich nur eine Schwärmerei war, wie für meine Freundinnen ihre Sänger, Sportler oder sonst wer, traf eindeutig nicht zu. Allerdings machte ich mir schon Gedanken, warum ich mich für einen Mann interessierte, der älter ist als mein Vater – damals war mir die Seelen-Theorie noch nicht in den Sinn gekommen – doch ich fand keine Antwort. Es gab keine Erklärung für meine Gefühle, außer, dass ich viel früher als sonst bemerkt hatte, dass Frauen sich für gewöhnlich in Männer verlieben. Nichts anderes war mir passiert. Und ich hätte sogar glücklich sein können, denn mein Auserwählter liebte mich schließlich auch. Eigentlich perfekt, wäre da nicht mein kindlicher Körper gewesen und die vielen Jahre, die uns trennten.
Dann wurde Arno krank. Viele Wochen war er im Krankenhaus. Er kämpfte um sein Leben und ich kämpfte mit der Angst, zum ersten Mal in meinem Leben einen geliebten Menschen zu verlieren. Am schlimmsten war es, nicht bei ihm sein zu dürfen. Als es ihm wieder etwas besser ging, besuchte ich ihn einmal pro Woche im Krankenhaus – sein Keyboard unter dem Arm als Alibi, damit ich ohne Begleitung überhaupt auf die Station durfte. Er gab mir Klavierstunden, vom Krankenbett aus. Im Anschluss redeten wir viel, und einmal sprach er von seinen Ängsten, und er sprach auch davon, dass er stolz auf mich wäre, weil ich so tapfer und erwachsen mit der großen Verantwortung umginge, die meine Liebe für ihn erfordere, und dass ich meine Gefühle im Zaum halte, um ihm keinen Kummer zu machen. Er hielt meine Hand und sagte mir, dass er mich auch sehr lieb hat, und dass es ihm sehr schwer fällt, zu warten, bis ich alt genug wäre. „Was ist alt genug?“, wollte ich wissen und er sagte „Wenigstens noch fünf Jahre, meine kleine Geliebte.“
Fünf Jahre. Eine unvorstellbar lange Zeit, wenn man schon mehr als zwei Jahre vor Sehnsucht fast vergeht. Tränen kullerten über mein Gesicht. Arno wischte sie weg. Aber auch seine Augen wurden ganz glasig. Dass er Angst hatte, zu sterben und diese fünf Jahre nicht mehr zu schaffen, daran dachte ich nicht. Ich glaubte, er weinte, weil ich weinte. Arno saß in seinem Bett, ich neben ihm auf der Bettkante, und ich wünschte mir so sehr, in den Arm genommen zu werden. Er muss es gespürt haben, denn er zog mich zu sich, küsste mein Gesicht und hielt mich fest. „Wir werden das schaffen, Kleines! Ganz bestimmt!“ Ich fühlte mich besser, beinahe glücklich, denn nun wusste ich sicher, dass es gut war, meinem Herzen und den seltsamen, unbekannten Gefühlen gefolgt zu sein. Er liebte mich, und ich hatte mich in all den Monaten nicht nur irgendwelchen erwachenden Fantasien hingegeben, mir seine vorsichtigen Gesten nicht nur zurecht interpretiert.
Arno war noch lange krank, und oft wusste ich nicht, ob er den nächsten Tag überleben würde. Es gab keine Nacht ohne Tränen. Heimlich weinte ich in mein Kopfkissen. Ich hatte ja niemanden, dem ich meinen Kummer mitteilen konnte. Ich kämpfte meinen Kampf ganz allein. Selbst Arno gegenüber zeigte ich keine Angst. Es muss ein beinahe makabres Bild gewesen sein, wenn ich bei ihm war und diesen verzweifelten, ängstlichen Mann umsorgend in die Arme schloss, wenn ich seine zitternde Hand hielt, ihm die schweißnasse, kalte Stirn trocknete und ihm wie ein kleiner Engel zur Seite stand.
Diese Zeit machte mich unglaublich stark. Mit jeder Stunde wurde ich älter und reifer, jede überstandene Woche war wie ein ganzes Leben. Ich sah die Welt mit anderen Augen. Viele Dinge, die mir als Kind wichtig waren, wurden unbedeutend. Ich schickte all meine Kraft zu Arno, gab ihm meine Energie, schenkte ihm meine Liebe, damit er endlich gesund werden konnte. Er wurde gesund, und die druchstandene schlimme Zeit kettete uns ganz fest aneinander. Ich weiß nicht, wie ich dieses Erlebnis in so frühen Jahren überwinden konnte. Vielleicht war es mein trotz allem noch immer kindliches Wesen und daher die Fähigkeit, Ängste zuzulassen. Erfahrene Erwachsene zerbrechen oft an der Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren, ich bin nicht zerbrochen, und irgendwie macht mich das stolz.
Die Jahre vergingen. Arno und ich begnügten uns mit den kleinen, unschuldigen Zärtlichkeiten, die uns möglich waren. Manchmal fehlte nicht mehr viel, um diese Unschuld zu verlieren. Ich ging bebend zum Klavierunterricht, Arno wartete immer schon auf mich und auch seine Hände zitterten bei jeder noch so kleinen Berührung. Jahr für Jahr jeden Tag volles Adrenalin. Ich wusste nicht mehr, wie es sich anfühlt, keine brennenden Fingerspitzen zu haben. Selbst in der Schule kreisten meine Gedanken nur um Arno. Ich schrieb Klassenarbeiten wie im Rausch, Aufsätze kannten nur das Thema Liebe, im Musikunterricht war jede Note ein Liebesgruß an Arno. Mein Klavier war Arno, es zu berühren, hieß, Arno zu streicheln und ich schlief auf einem Kissen, unter dem die Noten unseres Lieblingsstückes lagen.
Eines Tages nahm Arno meine Übungsstücke, Tonleitern und Dreiklänge auf Tonband auf. Zur nächsten Stunde packte er die Kassette in den Rekorder, ließ sie abspielen und verbrachte die Zeit damit, mich im Arm zu halten. Er streichelte und küsste mich und konstatierte, dass ich inzwischen einen hübschen Busen bekommen hätte. Ich hatte schon darauf gewartet, wann es ihm endlich auffallen würde. Er liebte es, die neu gewonnene Weiblichkeit zu berühren, und ich genoss seine Hände. Aber schon damals wollte ich viel mehr. An diesem Nachmittag hatten wir fast vergessen, dass wir uns unsere Wünsche noch nicht erfüllen durften. Ich saß auf seinem Schoß, er streichelte meine Brüste und ich lehnte an seiner Schulter, sah ihn an und musste ihn einfach küssen. Nicht so, wie sonst. Ich wollte seine Lippen auf meinen spüren und ich küsste ihn. Zu meiner Überraschung ließ er es geschehen, und wir küssten uns sehr, sehr lange. Meine Brüste waren plötzlich uninteressant. Er hielt meinen Kopf und küsste mich, als wäre ich kein Mädchen von knapp vierzehn Jahren, sondern eine vollständige, erwachsene Frau.
Drei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag war der große Tag gekommen, an dem ich meine Unschuld verlor. Ich kam zur Klavierstunde und wusste, dass es an diesem Tag geschehen würde. Arno empfing mich mit einem Meer von Rosen, küsste und liebte mich, und bei diesem ersten Mal vereinten sich nicht nur unsere Körper. Wir verschmolzen ganz und gar miteinander. Endlich konnten sich unsere Seelen berühren. Sie hatten sehr lange darauf warten müssen.