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Die Sehnsucht
Nach Hause. Mehr wollte er nicht. Sein Gesicht legte sich in Falten und er betrachtete die spröde Landschaft vor ihm. Dürre, aschgraue Pappeln streckten sich in den fahlen Himmel, den erkalteten Überresten der Sonne entgegen. Beinahe wirkte es so, als wollten auch sie von hier weg. Alles schien von hier wegzustreben, mit dem Wind von hier weg zu wollen. Nur das kraftlose schwachgrüne Gras hatte sich mit seiner Situation abgefunden und lag plattgetreten auf der trockenen Erde. Wie ein unschönes Foto zerknüllte er die Aussicht auf den farblosen Flecken Erde, der vor ihm lag, und warf sie fort. So weit von zu Hause weg, gab es doch so vieles, das ihn an Zu Hause erinnerte. Die Luft. Sie war nicht genauso rein wie die Luft Daheim, genau betrachtet konnte er sich daran nicht mehr erinnern, aber immer wenn er einatmete, fühlte er einen Stich in seiner Brust, da wo seine Lungen das Blut mit frischem Sauerstoff speisen. Das Licht. Es war zwar nicht genau so strahlend wie das Licht Daheim, ein bisschen steriler glaubte er es. Aber jedes Mal, wenn das Licht auf seine faltige Haut fiel und sich in den Furchen seiner ledrigen Haut wilde Schatten bildeten, begannen seine Augenlider, schwer zu werden. Dann schloss er sie und vor seinem inneren Auge warf das Licht andere Schatten. Heimische Schatten. Die Geräusche. Sie waren nicht mehr da. Ab und zu, ganz vereinzelt, hörte er sie noch aus unüberwindbarer Ferne. Sie waren unwirklich und schmerzten in ihrer Stille. Oder in seiner. Nach Hause. Mehr wollte er nicht. Leise ging er in die Hocke, schlug die Hände vors Gesicht und wie sich so alle seine Glieder beugten, hatte seine Seele auch keine Kraft mehr und beugte sich tiefer Trauer. Aus seinen geschlossenen Lidern traten Tränen hervor. Sie liefen über seine alten Wangen, ließen keine Falte auf dem Weg nach unten aus, so als genössen sie ihre letzten gemeinsamen Minuten mit ihm, bevor sie ihn auf ewig verlassen mussten.
Die Trauer war schon lange bei ihm eingezogen. Als sie damals anklopfte, ließ er sie hinein. Denn Daheim war genug Platz für sie beide. Aber auch hier, fern von Daheim, so fern wie überhaupt möglich, war sie bei ihm. Sie hatte sich nämlich in ihn verliebt, in seine alte unebene Haut, in seinen glasigen Blick, in seine schmerzende Brust; und jeden Tag, den er fern von Daheim war, wurde er schöner für sie. Sie folgte ihm überall hin, meist lief sie hinter ihm und betrachtete seinen matten Hinterkopf, auf dem nur noch vereinzelt graue Haare ihr Dasein fristeten und dann und wann sich nach dem Wind legten. Immer wenn der Wind kam, säuselte sie ihm etwas ins Ohr und wies ihn darauf hin, dass er mit ihr hierher gekommen war.
Er versuchte dann immer, keine Antwort zu geben und schaute zerstreut die Ferne. Überhaupt hatte er schon lange kein Wort mehr gesagt. Denn alles, was er hätte sagen können, hatte er schon Daheim gesagt. Alles hätte ihn an Zu Hause erinnert. Und auch wenn die Landschaft jetzt eine andere war, war alles diesmal anders. Runzlige Olivenbäume reihten sich auf körniger schwarzbrauner Erde aneinander und behaupteten sich gegen die aufkommende dunkelblaue Nacht. Aber auch in ihrer gesetzten Eintracht konnten sie der Finsternis nichts entgegensetzen. Sie überwältigte sie und nahm sie völlig für sich ein. Diese Unaufhaltbarkeit euphorisierte ihn ein letztes Mal. Glücklich, wie er noch nie war, fand er die Antwort auf seine nie gestellte Frage. „Du und ich gehören zusammen.“. Dann wurde er eins mit der Trauer und die Nacht wurde unendlich.
Er, das war die Sehnsucht.
Die Nacht, das waren Du und Ich.