Guten Tag lieber Jan Spoerri.
Ich habe deine Kurzgeschichte vor zwei Tagen gelesen und keinen Kommentar hinterlassen. Das tut mir an dieser Stelle sehr Leid, da ich persönlich finde, dass du mit diesem unglaublich kurzen Beitrag das perfekte Beispiel einer effizienten, guten Horrorgeschichte hinterlassen hast! Sie war nämlich so gut, dass ich anfangs gar nicht begriffen habe, wie gut sie ist und sie mich verfolgt hat und ich darüber nachgedacht habe, nachdem ich mich schon dazu entschlossen hatte keinen Kommentar zu schreiben. Und jetzt hinterlasse ich dir doch einen Kommentar dazu :=)
Was du da geschaffen hast, ist das perfekte Beispiel für steigenden Horror. Der Horror der Geschichte entfaltet sich nämlich erst, nach dem Ende deiner Geschichte. Jeder kennt das Szenario: Eine Spinne hängt in ihrem Netz irgendwo an der Decke in einem Zimmer. Ich hatte bei deiner Beschreibung sogar gleich das Gefühl: Okay ... da ist zwar eine Spinne im Raum. Aber sie ist an einem sehr hohen, spitzen Giebel ( an einer kompliziert zu erreichenden Stelle in meinem Zimmer) deshalb habe ich keine Lust, die Mühe aufzuwenden, die Spinne zu entfernen. Obwohl sie mich ja eigentlich offensichtlich stört! (Weil man Spinnen im allgemeinen halt einfach eklig und unangenehm findet) Ich ignoriere die Spinne also einfach, weil es mir zu unbequem ist, sie zu beseitigen und warte ab, was passiert.
Man könnte im übertragenen Sinne daher die Spinne im Zimmer des Protagonisten mit einem offensichtlichem Problem im Leben eines Menschen vergleichen, das einerseits noch nicht so schlimm ist, dass es Einfluss auf den Menschen selbst nimmt (Die Spinne wirkt ja wie tot, bewegt sich kaum und hängt in einem staubigen Nest. Alles eine gute Verschleierung der Umstände. Schließlich weiß der Protagonist ja, dass die Spinne am Leben ist und redet sich durch diese Wortwahl nur ein, dass es auch gut sein könnte, dass die Spinne auch schon so gut wie tot sein könnte)
andererseits allerdings existiert das Problem im Leben des Menschen und nur aus Trägheit (der Mühe sich eine Trittleiter oder einen Stuhl zu nehmen um an das Mistvieh anzukommen) kann sich der Mensch nicht dazu überwinden etwas gegen dieses einzelne, scheinbar unwichtige Problem zu unternehmen.
Und jetzt kommt der Moment wo deine Geschichte zu gutem Horror wird. Die Spinne stirbt (Der Protagonist ist sich anfangs gar nicht einmal so sicher ob die Spinne überhaupt gestorben ist oder nicht. super gut) und sie stirbt nicht einfach sondern bringt tausend kleine, neue Babyspinnen zur Welt, die sich alle in diesem einem Deckengiebel tummeln. Ein ungeachtetes Problem, ein Umstand den man nicht ausgesprochen hat, ein Fehler den man nicht behoben hat, ein simples Laster multipliziert sich um ein Vielfaches, weil man schlichtweg zu träge war, um sich mit dem "einfachen" Problem auseinander zu setzen. Und jetzt ist es zu spät, um es auf einfache Art und Weise zu beheben.
Und nun kommt dein Finale, was das Element des Horrors komplett und meiner Meinung nach deine Geschichte zur Perfektion bringt. Der Protagonist denkt darüber nach, die vielen kleinen Babyspinnen zu entfernen, entscheidet sich aber dagegen, weil es ihm wieder zu viel Aufwand wäre, in den Giebel hinauf zu steigen und die Spinnen zu beseitigen. Die Spinnen wachsen und hängen zu tausenden alle in diesem Giebel über dem Protagonisten. Und stören ihn nicht weiter, denn es sind ja nur tausend Spinnen, die an der Decke hängen, entstanden aus einer einzigen, über einem einzigen Menschen.
Und dann hörst du auf ...
Dann hört die Geschichte auf und du lässt uns zurück. Ein unglaublicher guter Schachzug! Besser hätte man deine Geschichte nicht beenden können. Wir werden natürlich mit der Sicherheit zurückgelassen, dass die tausend Spinnen am Giebel ja schließlich nicht so schlimm sind und der Protagonist auch mit den ganzen Spinnen "auf seinen Schultern" weiter machen kann, aber wir werden gleichzeitig mit der Gewissheit zurückgelassen, dass aus der Mutterspinne eintausend Babyspinnen geworden sind. Und dass aus eintausend aufgewachsenen Babyspinnen eintausend mal eintausend Babyspinnen kommen können. Und dann haben wir eine Population, die vielleicht nicht mehr nur den Dachgiebel einnimmt und so langsam richig widerlich wird sondern eine Spinnenpopulation (ein Problem) dass das Leben dieses Menschen aktiv beeinflusst, da er es nicht mehr ignorieren kann. Alles entstanden aus dieser einen ignorierten Spinne. Und das alles noch im Subtext nach dem Schluss deiner eigentlichen Geschichte. Ich finde diesen Gedanken brillant!
Lieber Herr Spoerri, bitte mehr von dir! Ich finde deine Geschichte großartig!
Ich muss auch zu @N. Ostrich nochmal sagen, ich finde der Protagonist ist nicht sonderlich wichtig für die Handlung. Beziehungsweise eine Charakterentwicklung ist in dieser Bandbreite kaum oder nicht notwendig. Dadurch entsteht der Horror, den ich persönlich hier sehe. Es geht meiner Meinung nach um die Umstände, in denen sich der Protagonist befindet und nichts dagegen unternimmt, und auch die Pointe ist aus meiner Sicht vollkommen da! Aber korrigiere mich gerne, falls ich falsch liege. Ich feiere diese Geschichte nämlich viel zu sehr, als dass es gut für den Autor wäre ;D
Aber man muss auch Lob bringen, wo Lob angebracht ist. Hut ab, für diesen kurzen Beitrag und präzisen Einblick in den bloßen Anfang einer langfristigen Überforderung. Nice!