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Die Straße unter dem Leben
Gerald blickte sich nicht um. Im Gegenteil, er schaute überwältigt nach vorne auf die graue breite Straße, die ihm wie eine auf dem Boden liegende Säule erschien, zu deren Seiten die Welt im Grau verschwamm und an deren Spitze sich der Sonnenschein und blauer Himmel tummelten.
Kein Laut drang in seine Ohren außer dem Scharren seiner Stiefel auf kaltem Grund und einem starken Windhauch, der ihn von hinten erfasste. Überhaupt schien es, als sei die gesamte Existenz auf das Ende dieser Straße fixiert, denn nicht nur er selber fühlte sich auf merkwürdige Weise dorthin gezogen, nein, auch seine Umwelt drängte dorthin. Alles, einfach alles. Und das, obwohl er der einzige Mensch war.
Gerald hatte das Gefühl, als würde die Welt unter ihm nach jedem Schritt erzittern, als wäre er der Mittelpunkt des Ganzen. Doch er wusste, dass das nicht stimmt, denn der Mittelpunkt lag vor ihm. Die Häuser zu beiden Seiten, deren Türen offen standen, als seien sie in Hast verlassen worden, sahen aus, als würden sie sich Millimeter um Millimeter nach vorne recken, hin zum Ende der Straße, welches Gerald selbst mit seinen scharfen Augen nur erahnen konnte.
Der Himmel schien fort zu sein, statt dessen erstreckte sich ein weites graues Feld von dunklen und tobenden Wolken über ihm, gleich dem Himmelsfirmament, als wenn alle Sterne gleichzeitig explodiert und das All grau gefärbt hätten. Die Straßenlaternen flimmerten kurz auf und erloschen wieder; kurz danach kam ein noch kürzerer Hagelschlag nieder, dem ein windiger Nieselregen folgte.
Gerald war das nicht wichtig. Seine Gedanken waren auf das Ende der Straße gebannt, und er wollte es erreichen, bevor…
„Bevor was eigentlich?“ dachte er kurz, doch ein noch heftigerer Windstoß ließ ihn kurz das Gleichgewicht verlieren.
Gerald konnte sich nicht umdrehen. Er wusste das nicht, denn er dachte nicht einmal daran sich umzudrehen. Und wie soll jemand wissen, was er verpasst, wenn er nicht einmal weiß, dass er überhaupt etwas verpasst? Doch selbst, wenn er es gewusst hätte: Die Mächte der Straße hätten mit aller Kraft gegen den Drang protestiert.
Er hörte die blattlosen Bäume knarren, wie sie sich im Wind bogen, doch dann fiel ihm auf, dass nicht nur die Gebäude nach vorne drangen; selbst die Bäume neigten sich zum Ende der Straße hin. Die Zeit verging, obwohl Gerald sie nicht mehr spürte. Er sah den dunkler werdenden Himmel über sich und den heller werdenden blauen Himmel weit vor sich und er wusste, dass er vor Einbruch der Nacht ankommen wollte. Dass er ankommen wollte, ehe es zu spät war.
„Wofür zu spät?“
Doch ein lautes Heulen einer quietschenden Haustüre, die langsam hin und her schlug, vernichtete den Gedanken wieder. Wie in Trance schleppte er sich vorwärts, nicht wissend, was hinter ihm ist. Nein, er wollte es nicht mal wissen, er wusste nicht, dass er selber entscheiden konnte, ob er sich umdreht oder nicht. Kanaldeckel lockerten sich und wippten in der Erde, ein einzelnes Eichenblatt wirbelte an Gerald vorbei und folgte dem breiten Strom zum Ende des Weges. Gerald verlor es schnell aus den Augen.
Er schloss die Augen, zu müde um sie offen zu halten. Fuß für Fuß, Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer kämpfte er sich vorwärts. Ein Orkan wütete, umschlang ihn, doch auch er blies von hinten, sodass Gerald mit vor Kälte verzerrtem Gesicht glücklich war, schneller anzukommen.
Die Dunkelheit hatte ihn erreicht, die Nacht war da, ein lautes Brausen dröhnte an seine Ohren, ein trommelndes Regenschlagen.
Und dann war Stille. Die Augen noch immer geschlossen trat er mit dem rechten Fuß gegen eine Steinmauer. Seine Lider öffneten sich und Gerald musste zwei Schritte rückwärts treten. Der blaue Himmel, den er von weitem gesehen hatte, war verschwunden; alles war schwarz. Alles, bis auf zwei große Türen, die in hellem Blau leuchteten.
Der natürliche Drang seine Neugierde zu befriedigen zwang Gerald die erste Türe zu öffnen.
Eine weite grüne Wiesenlandschaft eröffnete sich. Ein blauer Himmel, eine gelbe Sonne, seichte Teiche. Gerald flog über die Felder hin zu einem kleinen Haus und öffnete die Türe. Er wurde bereits erwartet. Mit vollem Genuss ließ er sich in Karins Arme fallen, ließ sich von ihren Küssen bedecken, ließ sich fallen.
Er wusste ganz genau, wo er war. Er war in der Welt, die er das Paradies nannte. Alles war so, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Alles war vertraut, er kannte jeden Winkel der Welt, jeden Grashalm. Er konnte tun was er wollte, erschaffen, was er wollte. Er genoss die absolute Freiheit ohne Einschränkungen. Es war nicht wie im Paradies, sondern er war IM Paradies. Einen Tag, eine Woche, einen Monat. Er veränderte, brachte Abwechslung, schuf Freuden, alles gehorchte ihm. Er lebte in einer Welt ohne nennenswerte Probleme. Und dann, nach einigen Monaten bemerkte er plötzlich etwas: Es wurde langweilig. Er hatte das Paradies erreicht, es gab nichts mehr, auf das er hätte zuarbeiten können. Nichts. Ewige Wiederholungen bildeten seinen Lebensmittelpunkt, so sehr sich alles auch täglich veränderte. Irgendwann wiederholte sich schließlich auch der tägliche Prozess der Veränderung.
Nach drei Jahren trat er durch die Tür, durch die er gekommen war und fand sich in absoluter Dunkelheit und Schwärze wieder. Er schloss die Tür hinter sich und sie leuchtete wieder hellblau. In stiller Vorahnung, was ihn hinter der anderen Türe erwarten würde, die genauso hellblau war, drückte er die Klinke herunter, zog die Pforte einen Spalt auf, und wurde in der selben Sekunde durch den Spalt in eine noch tiefere Dunkelheit gezogen.
Er fiel, fiel und fiel, bis er schließlich unter starken Schmerzen auf der Erde aufschlug. Es gab kein Licht, doch kaum war er da knabberte ein kleines Etwas an seinem rechten Bein, während ein anderes ihm seinen linken großen Zeh abbiss. Der Zeh wuchs nach und das Etwas biss erneut zu. Er wurde lebendig aufgefressen, schrie aus voller Seele und stand auf. Er schüttelte die kleinen Dinger ab, und vor seinem geistigen Auge wusste er, dass sie rote ameisenähnliche Geschöpfe waren, die die Größe eines Skorpions hatten. Kaum stand er flog eine Rasierklinge vorbei, die ihm den Hals aufschnitt, der sofort wieder zuheilte. Er lief und lief. Hörte nicht auf zu rennen, bis er schließlich ein kleines Haus fand, dem Haus des Paradieses nicht unähnlich. Er öffnete die Türe, sperrte die Tiere alle aus und sah Karin auf einem kalten schwarzen Stuhl sitzen. Sie war blind. Und er sah, wie sie sich die Pulsadern aufschnitt. Wieder und wieder.
Er war in der Hölle und er wusste es. Er fand die Türe nicht, durch die er gekommen war, fand überhaupt nichts, was ihm helfen konnte, denn das war die Hölle. Die Hölle, wie er sie sich immer vorgestellt hatte: Ausweglos.
Er wanderte durch die Dunkelheit, Schmerzen durchjagten seinen Körper. Jede Minute wurde zu einem Tag der Folter. Er litt Qualen in seinem Kopf und sah, wie seine Frau täglich versuchte sich das Leben zu nehmen.
Er hatte einen Tag überstanden, als der nächste anbrach, der neue Qualen für ihn bereithielt. Doch er starb nicht, so sehr er sich das auch wünschte, denn in der Hölle war man schon tot. Der zweite Tag ging, die erste Woche ging. Tägliche Schmerzen. Tägliche Folter. Keine schönen Zeiten, keine Erholung.
Ein Monat ging vorbei. Er alterte nicht, blieb gleich. Doch sein Geist gewöhnte sich an die Schmerzen. Seine Hilflosigkeit akzeptierend ließ er die Schmerzen an sich vorübergehen, jeden Tag, jede Minute. Der Körper war nicht alles, der Geist war der Schlüssel, und so sehr er auch abstumpfte, der Geist würde überleben.
Alles wiederholte sich. Auch die Schmerzen wechselten sich kaum noch ab, und so sehr Gerald täglich litt, so gleichgültig wurde ihm alles. Die Schmerzen wurden trotz ihrer gleich bleibenden Intensität geringer, bis er sie nach zwei Jahren Hölle nicht mehr fühlte.
Sein Bewusstsein machte einen Sprung nach vorne, als er daran dachte, wie schlimm die Hölle am Anfang war, und mit einem Mal erschien die blaue Türe vor ihm. Er schüttelte noch den letzten Käfer von seinem Bein und fand sich plötzlich wieder in der leicht bläulich erleuchteten Schwärze wieder, in der zwei Türen standen.
Er ging einige Schritte rückwärts von wo er gekommen war, seinen Blick weiterhin auf die zwei Türen gerichtet. Er hatte Jahre in ihnen verbracht, doch als er sich über das Gesicht fühlte, stellte er fest, dass er nicht gealtert war. Der Sturm kam wieder auf und die Schwärze um ihn herum wurde grau, während die Türen und ihr blaues Leuchten schwarz wurden. Der Himmel über der Schwärze wurde wieder Blau und die Sonne schien, während der Himmel über Gerald selber wieder grau in grau und unfreundlich wurde.
Schritt für Schritt ging er rückwärts, sich mit aller Kraft nach hinten tastend, denn nicht nur der Wind drückte ihn nach vorn. Er wollte sich umdrehen, doch wurde ihm klar, dass ihn irgendwas daran hinderte.
„Nur was?“ fragte er sich. Hagelkörner schlugen auf ihn hernieder, doch Schmerzen machten ihm nichts mehr.
„Was?“
Das Wetter wurde grausam. Blitze zuckten, Regenmäntel verhüllten seine Existenz, Donner grollte.
„WAS?“
Der Wind peitschte, zwang ihn nach vorne. Schnee fiel. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte drehte er seinen linken Fuß nach links. Sofort kam ein Sturzbach aus Regen nach vorn geflossen und umspülte seinen Fuß.
Sein Körper drehte sich. Der Lärm war ohrenbetäubend, nichts drang in sein Bewusstsein außer dem Willen endlich zurückzuschauen. Sein Kopf machte eine kleine Drehung, als ein kleiner Kieselstein auf seine Wange wirbelte und ihn zurückschnellen ließ.
Er nahm seine ganze Energie zusammen, konzentrierte sich auf all seine Muskeln, kontrollierte seinen Verstand und … … … drehte sich.
Er sah hellen Sonnenschein, am Horizont einige Wolken. Eine leichte Brise wehte, als er vor sich sein Heim erblickte. Der Briefträger brachte gerade die Juli-Rechnungen, während Karin Unkraut jätete.
Er rieb über die Wunde, die der Kieselstein in seinem Gesicht hinterlassen hatte und dachte: „Vielleicht sollte ich endlich leben.“