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Die Straßenbahn
Frederik saß in der Straßenbahn. Es war ein Tag wie jeder andere: Die Sonne schien und es sollte schön werden. Doch nicht für Frederik. Er saß am Fenster, zusammengekauert; seine Aktentasche fest umklammert. Neben ihm saß eine etwas rundlichere Frau. Aus dem Lautsprecher ertönte mit einer ruhigen, gelassenen Stimme die nächste Haltestelle.
Flurweg! brannte es sich in Frederiks Schädel. Noch zwei Haltestellen. Frederik war diesen Weg jeden Tag gefahren. Jeden Tag war er hier mit seiner Aktentasche gesessen. Jeden Tag hatte er den Namen Flurweg gehört. Er wusste, dass die dicke Frau hier ausstieg. Weil sie es jeden Tag tat. Doch heute war alles anders. Heute würde sich entscheiden, was aus Frederik in Zukunft werden würde. Konnte er weitermachen wie gehabt? Mit Sicherheit nicht... Die Straßenbahn fuhr kreischend eine Kurve. Es war ein altes Modell. Frederik musste an den Unfall denken, der sich vor zwei Wochen ereignet hatte. Er hatte es in der Zeitung gelesen: Eine Straßenbahn, gleichen Typs, sprang aus den Schienen und begrub einen Fahrradfahrer unter sich. Der Mann starb.
Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht... Nach den Geschehnissen. Aber Mut! Es wird schon weitergehen. Irgendwie... Die Straßenbahn hielt. Die dicke Frau stand auf und die Türen öffneten sich. Die leise Karnevalsmusik, die nun von draußen an Frederiks Ohren drang, klang in ihm wie ein Spott. Die Frau lächelte ihm zu. Auch diese Geste interpretierte er falsch. Ihren Blick meidend sah er aus dem Fenster. Dort war ein Riesenrad aufgestellt, wie jedes Jahr. Und er sah Kinder, die fröhlich an einem Zuckerwattestand anstanden, während sie einem Mann mit einem Spielkasten zusahen, der einen munter umherspringenden Affen mit sich führte. Aus dem Kasten kam die Musik.
Frederik kam das vor, wie das Paradies. Er wollte aussteigen; gerne wieder selbst ein Kind sein. Doch was würde dann aus ihm werden? Was würde man mit ihm tun? Sein Chef? Was wird er tun? fragte sich Fredrik immer wieder. Endlich fuhr die Straßenbahn weiter. Noch eine Station lag zwischen ihm und seiner Arbeit. Seiner Zukunft.
Frederiks Bein begann zu zucken. Er versuchte es zu beruhigen, doch er war so aufgebracht, dass er nur seine Aktentasche darüberlegen und hoffen konnte, niemand würde es bemerken.
Paul würde einsteigen, sobald die Straßenbahn hielt. Er war immer ein guter Kollege gewesen. Ein Freund.
„Nächste Haltestelle: Industriegebiet Ost/BGS“ Als Frederik die Abkürzung BGS hörte, wurde ihm bewusst, wie problematisch seine Lage war. Wenn ich Glück habe, feuert er mich nur. Doch ich fürchte, das wird nicht reichen. BGS. Bundesgrenzschutz. Genau. Vielleicht sollte ich mich an die Polizei wenden. Er wird mich bedrohen. Angstschweiß stieg in sein Gesicht. Er dachte an Paul und seine immer fröhliche Laune. Er wird mich wieder aufheitern. Fast sehnsüchtig sah er aus dem Fenster. Paul hatte ihm schon einmal geholfen. Damals, als er seinen ersten großen Fehler gemacht hatte. Was hatte der Chef ihm damals gesagt? „Wenn so etwas noch einmal passiert, mach ich Ihnen das Leben zur Hölle!“ Dieser Gedanke hämmerte sich in Frederiks Schädel ein. Das Leben zur Hölle! Für Frederik war es bereits eine. Wo war Paul? Die Straßenbahn fuhr an der Haltestelle ein und hielt an. Doch bis auf einen alten Mann stieg niemand ein.
Frederik bekam Panik Er ist nicht hier, schoss es ihm durch den Kopf. Wo ist er? An der nächsten Haltestelle musste er aussteigen. Seine Zukunft... Ihm wurde bewusst, dass er keine Zukunft hatte. Der Schweiß stand ihm im Gesicht.
„Nächste Haltestelle...“ „Ich muss mich ablenken. Nur nicht hinhören“ „Schandtatstraße“ „Dieses Wort verursachte in Frederik unaufhaltsame Schmerzen. Was kann ich nur tun? fragte er sich immer wieder. Ich werde weiterfahren. Genau. Ich steige einfach nicht aus. Aber wenn er mich findet? Oder meine Familie? Ihr zuliebe muss ich aussteigen. Frederik atmete tief durch, versuchte seinen Herzschlag zu beruhigen. Doch es half nichts. Er begann nun am ganzen Körper zu zittern.
Draußen verdeckte eine schwarze Wolke die Sonne. Es wurde dunkler um ihn. Ein Donner ertönte. Ich muss nun aufstehen! Frederik zwang sich, den Halteknopf zu drücken und seinen Körper zu erheben. Mit einem hilfesuchenden Blick sah er sich nach dem Mann um. Der lächelte ihm zu, als wolle er ihm Mut machen. Müde lächelte Frederik zurück und wischte sich über die Stirn. Dann senkte er den Blick. Die Straßenbahn hielt und die Türen öffneten sich. Ein Tropfen schlug auf den Straßenbelag vor ihm und er spürte einen kalten Wind in seinem Gesicht. Dann atmete er tief durch und trat ins Freie...
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Das Haus:
Der Regen prasselte auf Frederiks Gesicht als er die Straße zu dem Bürogebäude lief. Allmälich war er dem Wahnsinn nahe. Was wird er mit mir tun? Als er vor dem Eingang stand hielt er ein letztes Mal inne. Noch weiß Martin, - sein Chef - nichts davon, hoffte er. Ich kann umdrehen, ich gehe heim und melde mich krank...
Es hätte alles so einfach sein können. Frederik hatte die Ware entgegengenommen und dann den Kontaktmann erschossen. Mit dem Geld hätte er seine Schulden bezahlen können. Er hätte sich abgesetzt und sich mit dem Rest der 4 Millionen ein schönes Leben gemacht. Wäre er doch nur nicht in Panik geraten... Aber Frederik war nie ein Mann der Nerven bewiesen hatte.
Schon als Junge traute er sich nie, im Mittelpunkt zu stehen. Er stotterte bei Referaten, bekam auf Vorlesen und Vortragen von Gedichten schlechte Noten, obwohl er eigentlich gut lesen konnte und er hatte auch tatenlos zugesehen als Swen ihm seine Freundin ausgespannt hatte.
Aber jetzt hatte er etwas tun wollen. Jetzt hatte er seine große Chance erkannt. 4 Millionen Euro...
Widerwillig drückte Frederik gegen die Tür. Er klappte sie langsam nach innen auf. Tief durchatmen, Freddi; tief durchatmen. Er holte noch einmal tief Luft und versuchte verzweifelt seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Seine linke vibrierte vor Anspannung, seine Rechte hatte sich in der Tasche verkrallt. Schritt für Schritt taumelte er nach vorne. Warme Luft strömte ihm entgegen. Niemand war hier. Als Frederik sich umschaute sah er keinen Menschen im Raum. Was ist passiert? Seine Augen traten hervor. Langsam verlor er völlig die Kontrolle. Sein Blick wanderte über die leere Rezeption des Hauses.
"Tina?"
Seine Stimme war zu einem Piepsen verkommen. Sind sie hier? Haben sie uns schon gefunden?
Langsam wankte Frederik dem Aufzug entgegen. Sie können uns unmöglich so schnell entdeckt haben...
Frederik hatte zu schnell gehandelt. Er hätte erst die Ware genauer kontrollieren sollen, bevor er den Kontaktmann erschossen hatte. Doch er war zu aufgeregt gewesen. Kaum hatte er die Tasche in der Hand gehabt und einen Blick riskiert hatte er die Waffe gezogen und abgedrückt. Dann hatte er zur Sicherheit noch zwei Mal geschossen und war davon gerannt. Erst als er Zuhause angekommen war hatte er noch einmal in die Tasche gesehen.
Es sind nur 25 Gramm... Der Rest ist Mehl... Nur 25 Gramm... Vielleicht merkte es Martin nicht... Er würde es kontrollieren aber wenn Frederik behauptete, er habe es bezahlt und sich nur über das Kreuz legen lassen... Selbst dann würde Martin ausrasten... 4 Millionen Euro...
Frederik war berechtigt alles zu tun um an die Ware zu kommen. Alles! Darum hatte er auch die Waffe, aber seine Verdammte Vorsichtigkeit hatte ihn in diese Situation gebracht. Jetzt war der Stoff nicht da, der Kontaktmann tot und wenn Martin erfuhr dass Frederik mit dem Geld abhauen wollte war er es auch so gut wie.
Paul war eingeweiht. Er hätte Martin beschwichtigen können... Er hätte ihn davon überzeugt dass es von Frederik ein geschickter Schachzug war, das Geld vorerst zu behalten. Wenigstens hätte er Martin überredet Frederik am leben zu lassen... Paul...
Die Tür des Aufzuges öffnete sich und Frederik betrat die Kabine. Auf einmal kam ihm der Raum so klein vor, obwohl er für 8 Personen ausgelegt war. Mit zittriger Hand presste Frederik den Knopf auf dem eine 19 leuchtete. Die Kabine schloss sich. Er presste sich die Hand auf die Augen... Ganz ruhig... konzentrier dich! Du gibst jetzt den Stoff ab, sagst du müssest gehen und bevor Martin etwas kapiert bist du längst über alle Berge mit dem Geld.
Was hätte es Martin gebracht, wenn Frederik das Geld bezahlt hätte? Für ihn musste es doch keinen Unterschied machen. Mit diesem Kontaktmann hatte Martin schon öfter Handel getrieben und nie kam ein Problem auf. Nun wollte der Mann ihn bescheißen. Also hätte ein normaler Handel zu demselben Ergebnis geführt. Ich habe immer noch das Geld. Wenn Martin es unbedingt wiederhaben will dann gebe ich es ihm! Langsam beruhigte sich Frederik wieder... Es ist nicht meine Schuld... Es ist nicht! meine Schuld!
Der Aufzug wurde langsamer und kam nach kurzer zeit endgültig zum Stillstand. Langsam öffnete sich die Tür. Auch hier war niemand auf dem Flur. Es ist noch zu früh. Daran liegt es!
Vor Frederik lag ein breiter Gang der zu Martins Büro führte. An den Seiten waren Plakate aufgehängt. Frederik las sie beim durchgehen. Es waren Werbeplakate der Firma; zumindest für die Produkte die sie offiziell herstellte. Wie bin ich hier hineingeraten?
Paul hatte ihn angesprochen. Ob er nicht auch auf der Suche nach dem schnellen Geld sei, hatte er gefragt. Frederik hatte schon damals Schulden; mehr noch als heute. Doch nicht nur aus diesem Grund willigte er ein. Er wollte etwas von dem Streberimmage loswerden das ihm, wie er jetzt bemerkte doch zu gut passte. Seit damals hatte er viel Geld verdient doch langsam wurde es ihm doch zu gefährlich. Darum wollte er es beenden. Der letzte Deal sollte ihn mit einem Schlag reich machen und dann würde er die Finger von etwas Derartigem lassen.
Frederik tastete sich zur Klinke der breiten Tür zu Martins Büro und drückte sie zaghaft nach unten. Die Tür glitt langsam zurück und Frederik trat ein. Martin saß vor ihm an seinem großen Schreibtisch und legte seine Hände auf das bräunliche Edelholz.
"Ah, Freddi", seine Stimme war überschwänglich und laut, doch Frederik erkannte in ihr einen bitteren Unterton. Sofort kehrte seine Panik zurück. Seine Stimme zitterte als er den Gruß erwiderte.
"Ist etwas nicht in Ordnung?" Martin wirkt ernsthaft überrascht, schoss es ihm durch den Kopf. Er weis es noch nicht. Fast hätte Frederik laut aufgeatmet. Er fasste sich, ging näher zu dem Schreibtisch und legte die Tasche ab.
"Ah, du hast die Ware" Martin lächelte.
"Die komplette Lieferung, wie du es wolltest", brachte Frederik hervor.
"Das ist ja Wunderbar..." Martins Freude schien kein Ende zu nehmen, bis sie plötzlich abbrach und er in ernüchterten eiskalten Worten hinzufügte: "Leider gibt es da nur ein kleines Problem..."
Frederik stockte der Atem. Sein Herz begann zu Rasen. Ein Problem? Er hat mich durchschaut! schoss es ihm durch den Kopf. Er tat einen Schritt zurück und spürte einen kalten Lauf in seinem Rücken. Frederik schreckte auf. Er wollte herumwirbeln doch er konnte sich nicht rühren. Wie angewurzelt stand er da. Das war´s, schoss ihm durch den Kopf.
"Der Kontaktmann der dir die 25g und das Mehl gegeben hat..." Er weis davon? Frederiks Augen sprangen ihm förmlich aus den Höhlen. In seinem Gesicht bildete sich pures Entsetzen ab.
"...und der mir heute Abend den Rest bringen wollte, nachdem ich die Probe gestestet habe..." Frederik schloss die Augen. Eine Träne lief ihm über die Wange.
"...ist leider heute morgen tot im Park aufgefunden worden" Die Stimme klang scharf und richtend. Martin stand auf und ging um den Schreibtisch auf Frederik zu. Dieser wagte nicht, etwas zu erwidern.
"Ich denke nicht dass du bei dem kurzen Treffen die Zeit gehabt hast alle Päckchen zu überprüfen...," fuhr Martin fort. Seine Stimme wurde lauter und erregter. Er redete sich in Rage:
"...um zu erkennen das das meiste davon nicht echt ist." Er blieb einen Schritt vor Frederik stehen und grinste ihm ins Gesicht.
"Also musst du ihn einfach so getötet haben..." Er drehte Frederik den Rücken zu und ging zu einem Fenster
"Vielleicht...", Martin tat so als müsse er überlegen.“...weil du ihm das Geld nicht zahlen wolltest?!", schrie er schließlich, während er sich erneut zu Frederik umdrehte.
"Ich wusste nicht das..." setzte Frederik an. Dann schwieg er. Man hatte ihn durchschaut; es war sinnlos. Martin ging zu seinem Tisch zurück und holte einen Ring aus einer Schublade. Dann näherte er sich Frederik während er ihn auf die Finger steckte.
"Du wolltest mich verarschen, ist es nicht so?"
Frederik vibrierte. Noch immer spürte er den harten Lauf in seinem Rücken.
"Nein ich..." weiter kam Frederik nicht. Martin hatte ihn mit dem Ring in den Magen geschlagen. Frederik sackte zusammen. Er krümmte sich auf dem Boden. "Du hast nicht nur einen langjährigen Geschäftspartner getötet, sondern wolltest mich auch noch bescheißen!" Bei diesen Worten trat Martin erneut gegen Frederiks Bauch. Dann zog er ihn hoch. Sein Gesicht berührte beinahe das von Frederik. "Und jetzt sag mir, wo ist das Geld?"
Frederik spürte den feuchten Atem des Mannes in seinem Gesicht. Er wusste dass er vorbei war. Wenn er ihm sagte wohin er das Geld gelegt hatte würde Martin ihn töten. Ansonsten so lange weiterquälen bis er ihm die Position verriet.
Frederik spürte erneut einen kräftigen Schmerz in seiner Magengegend, als er zu lange gezögert hatte. In ihm stieß es auf. Er übergab sich. Verzweifelt versuchte er die Hände auf vor seinen Bauch zu halten, als er erneut zu Boden sackte.
"In einer Hütte...", begann er. Als Martin merkte dass Frederik auspackte zerrte er ihn erneut hoch.
"Wo?", schrie er
"In... in einer Hütte vor der Stadt... Strehstraße...", Frederik fiel das Atmen schwer. Sein Magen pulsierte... "da ist eine alte Holzhütte..." zwang er hinaus.
Martin ließ ihn los und schlug ihm mit dem Ring ins Gesicht. "Wenn das nicht Stimmt...", knurrte er, dann wandte er sich dem Mann hinter Frederik zu.
"Bring ihn nach unten und pass auf ihn auf, Paul"
Paul?, schoss es Fredeik durch den Kopf. Er versuchte sich umzudrehen doch Paul hielt ihn fest. "Paul...", flüsterte er, dann wurde er zur Tür gestoßen...