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- 24.01.2009
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Die Streichlerin
Der alte Pagel saß am Fenster und schaute hinaus in den Frühling. Komm lieber Mai und mache, summte er, so gut es seine Stimme noch zuließ. Und ein bisschen hörte es sich an, als würde die Amsel mit ihm singen.
„Haben Sie das gehört? Die Amsel?“
Katja lächelte müde. „Ja. Habe ich. Und würden Sie jetzt bitte Ihre Tabletten nehmen.“
Aber Pagel war gar nicht bei der Sache. Und lass mir an dem Bache die kleinen Veilchen blühn!, sang er.
Katja fasste nach dem Rollstuhl und drehte Pagel ins Zimmer. „Nehmen Sie bitte ihre Tabletten. Danach können Sie von mir aus bis zum Mittag mit den Vögeln singen.“
Pagel griff nach den Rädern. Er wollte dieses Zimmer nicht sehen, nein, gewiss nicht, es war nicht so schön wie die Blütenpracht des Flieders. Aber Katja war schneller, sie blockierte die Räder und klapperte hässlich mit dem Tablettenbecher. Wütend schaute Pagel sie an.
„Sie hätten das schon lange hinter sich haben können“, sagte sie.
„Ich will duschen. Ich stinke.“
„Sie stinken nicht. Und geduscht haben Sie erst vor zwei Stunden.“
„Habe ich nicht!“
„Oh doch. Und das wissen Sie ganz genau.“
„Aber ich stinke.“
Katja seufzte, atmete tief durch und beugte sich dicht an Pagels Ohr. „Dann schicke ich Ihnen gleich den Jirka.“
„Nein!“, schrie Pagel auf. „Nicht der. Der ist“, Pagel überlegte, „brutal!“
„Ist er nicht.“
„Ist er doch!“
Katja schüttelte noch einmal mit dem Pillenbecher. Pagel riss ihn ihr aus der Hand, schluckte die Tabletten, trank einen Schluck Wasser nach und gerade als Katja nach dem leeren Becher griff, ließ Pagel ihn fallen. „Ups.“
Katja seufzte. „Das war doch Absicht.“
„Nein. Er ist mir aus den Händen geglitten.“
„Ach, Herr Pagel.“ Sie löste die Bremsen vom Rollstuhl und schob ihn zurück ans Fenster.
Wie möchte ich doch so gerne, ein Veilchen wieder sehn, sang Pagel als Katja aus dem Zimmer ging. Und nachdem sie fort war, flüsterte er: Ach, lieber Mai, wie gerne einmal spazieren gehn!
„Achtzehn“, sagte der Hohenegger.
„Hab ich“, sagte der Franz.
Pagel ließ seine Karten sinken. Aus jedem Dorf ein Weibe, das taugte beim Skat nichts. Für diese Runde war er raus.
„Zwanzig“, sagte der Hohenegger.
„Grand Hand“, sagte der Franz. „Kommste drüber?“
Der Hohenegger schnaubte, schob Franz den Skat zu, beugte sich vor und flüsterte: „Habt ihr schon von der Neuen jehört? Die, die jetzt im Zimmer von der Fusselheidi wohnt?“
„Was ist mit der?“, fragte der Franz.
„Die haben se ruhig jestellt.“
„Ach so“, murmelte der Franz, denn das war keine von den Geschichten, die er so gern vom Hohenegger hörte.
„Naja.“ Der Hohenegger rutschte mit seinem Stuhl näher an den Tisch. „Aber die Frage is doch: Warum?“
Der Franz hatte gerade den Pikbuben ausgespielt, da ließ er die Karten wieder sinken. „Und warum?“
„Die Unterwäsche sollen se ihr wechjenommen haben. Die Feine, aus Seide mit Spitze. Baumwollbüchsen haben se ihr dafür jejeben, wegen de Wäscherei und Hygiene und so. Und da soll die ausjetickt sein. Völlig explodiert. Jekeift, Jeschrien, jeschlagen nach allet, wat ihr vors Jesichte kam.“
„Wegen der Unterwäsche?“, fragte Pagel.
„So sagen se.“
„So ist der Teufel: Erst gibt er dir, dann nimmt er dir“, sagte der Franz. „Aber in Ordnung finde ich das nicht.“
„Und der Müller aus Zimmer 104“, erzählte der Hohenegger weiter, „der soll heut Nacht wieder nackt ins Schwesternzimmer rin und hat an seinem Schniedel jespielt.“
„So ist der Teufel“, sagte Franz, „den Verstand nimmt der dir, den Trieb lässt er dir. Hätte der Müller noch ein bisschen Grips, dann hätte er auch Moral und Anstand. Der Grips“, Franz tippte sich an die Schläfe, „macht, dass du anständig bleibst. Hat der Müller vor der Demenz ja nicht gemacht, so einen Schweinkram.“
Pagel schüttelte den Kopf. „Was geht mich der Müller an? Und die Unterwäsche von der Neuen? Lass den Franz jetzt seinen Grand spielen.“
„Pass uff“, sagte der Hohenegger. „Ene hab ich noch. Die jefällt och dir.“ Er lehnte sich weit über den Tisch und senkte die Stimme, so dass Pagel sich Mühe geben musste, ihn überhaupt zu verstehen.
„Der Exminister, blind und taub wie een Stücke Holz, aber der bekommt Besuch von ene Streichlerin.“
„Von einer was?“, fragte der Franz und guckte den Hohenegger an, als wäre der nicht ganz bei Trost.
„Nich' so laut!“, mahnte der. Und dann wieder so leise, das Pagel ihn kaum verstand. „So sagen se, Streichlerin. Offiziell is se wohl ene entfernte Verwandte, Großnichte oder so, aber in Wirklichkeit lässt die sich bezahlen. Erst is wohl so bisschen Massage und am Ende liegen die nackt beieinander im Bette. Nur rin in se, det darf er nich.“
„Nicht wahr!“, sagte Pagel und schaute den Franz an, der den Hohenegger anstarrte.
„Wenn ich es euch doch sag.“
Pagel klopfte dem Franz auf die Schulter. „Da hat es deinem Teufel wohl die Sprache verschlagen.“
Franz stand auf und warf seine Karten auf den Tisch. „Haste Geld, haste alles. Und mir hat der Teufel keins gegeben.“
Abends im Bett dachte Pagel nach. Ob das mit der Streichlerin nicht doch vom Hohenegger geflunkert war. Aber verstehen könne er ihn schon, den Minister a. D., auch wenn er ihn aus Prinzip schon nicht leiden mochte, weil der doch ein Einzelzimmer und einen Schlüssel für seine Zimmertür hatte. Bezahlen tat das alles die Tochter. Aber ob die auch …? Das konnte Pagel sich nun wirklich nicht vorstellen. Die war ja so eine Vornehme und stellte bei jedem Besuch einen Korb mit Obst und einen Blumenstrauß für die Allgemeinheit in den Aufenthaltsraum. Nein, von der Tochter bekam der Minister sicher kein Geld für eine Streichlerin. Und vom Heim schon mal gar nicht! Wenn die das oben erst spitz kriegten, dann bekäme der Minister keinen Damenbesuch mehr, dafür würden die schon sorgen. Dem Hohenegger hatten sie nicht einmal die Zeitschriften geduldet. Und das ist letztlich nur Papier, nicht Fleisch und Blut. Aber der Hohenegger war ja ein Fuchs. Seine Zeitungen, die hatte er nicht mehr im Zimmer, auch nicht im Haus, die putzten und schnüffelten ja in jeder Ecke. Der schnitt die Bilder jetzt aus, packte sie in eine Plastebüchse und die hatte er im Garten versteckt, hinten beim Zaun, unter einer Tanne.
Aber so eine Frau im Bett, das war schon was anderes als so Papierbildchen. Die war warm und weich, da schmiegte es sich an und kribbelte auf der Haut, wenn sie sacht die Finger führte. So wie bei der Gretha. Die war schon eine Gute, obwohl sie ihn oft geschimpft hatte, wenn er an den Wochenenden den Bus für die Ausflüge fuhr, während sie mit den drei Kindern zu Hause saß. Aber es brachte zusätzliches Geld und in den großen Städten, da gab es die Strumpfhosen, auf die die Gretha doch so scharf war. Und eine Freude war es ihm nun auch nicht immer. Wenn er zum Beispiel mit der Armee in die Stadt fahren musste, zum Theaterausflug. Als wollten die jungen Kerle dahin. Da kamen sie schon mal raus aus ihrer Kaserne und durften nach Berlin, und dann: Alle rin zum ollen Brecht oder Gorki oder Goethe. Nicht mal Ballett gab es da. Im Friedrichstadtpalast, da hätten die Jungs sich sicher mehr für die Kultur interessiert, da gab es Ballett mit nackten Beinen und Musik. Naja, ihm konnte es am Ende egal sein. Er lenkte den Bus und musste nicht in die Kultur. Er konnte währenddessen zum Alexanderplatz gehen und der Gretha ihre Strumpfhosen kaufen. Am liebsten waren ihm die Ausflüge mit den Frauen von der LPG, die, mit den Kuhstallfrauen. Und die durften ja nach der Kultur auch in der Stadt übernachten, in einem Hotel, die musste er erst am nächsten Morgen zurückjuggeln. Aber die wollten doch auch zum Alex und einkaufen, wo sie nun schon mal in der Hauptstadt waren. Gab ja zu Hause nichts. Und da haben sie ihn immer so geliebäugelt und ins Ohr gezwitschert, und er war ja nun auch nur ein Mann. Und das hat die Gretha wütend gemacht. Sie mit den drei Mädchen allein zu Hause und er jedes Wochenende auf Vergnügungsfahrt. Strumpfhosen hin, Strumpfhosen her. Zum Herrn Direktor von ganz oben im Haus wollte sie immer. „Der macht mir schöne Augen“, hatte die Gretha ihm unter die Nase gerieben. Hatte der auch, aber nur der Gretha, die Kinder wollte der nicht. War schon eine harte Zeit. Aber sie sind zusammengeblieben, obwohl die Gretha ihm an die Kehle gesprungen war und seine Sachen aus dem Fenster geworfen hatte. Am Ende hat sie ihn immer wieder rein gelassen in die Wohnung und auch ins Bett. Und jetzt hätte er sie gern bei sich. Aber Gretha war schon weg, während er Stück für Stück aus dem Leben faulte. Diabetes. Erst einen Fuß, später das Bein und dann das zweite. „Irgendwann fault er ab, dein Schwanz, von der Hurerei“, hatte die Gretha geschimpft und wer weiß, vielleicht tut er es tatsächlich. Aber sie hatte neben ihm gelegen, bis zuletzt, hat sich an seinen Körper geschmiegt und ihm die Hand gehalten. Hat ihm die Wange gestreichelt, das Haar gestrubbelt und mit den Fingerspitzen so Sachen gemacht, bis es kribbelte und sich die Härchen aufstellten. Und warm war die Gretha und ihr Geruch beruhigte ihn.
Pagel schlief kaum in dieser Nacht. Die Erinnerungen blitzten auf und tauchten wieder ab und er streichelte sich, aber es fühlte sich nicht wie Grethas Streicheln an und dann weinte er und fragte sich, ob die Streichlerin ihn auch besuchen würde, wenn er das Geld zusammen bekäme und dann schämte er sich sogleich für den Gedanken, und irgendwie war es ihm froh, als der Morgen anbrach.
Jeden Mittwoch halb vier, hatte der Hohenegger gesagt. Pagel schaute auf die Uhr. In zehn Minuten. Ungeduldig rollte er den Flur auf und ab. Seit zwanzig Minuten. Der Jirka hatte ihn schon gefragt, ob es ihm denn gut gehe und warum er hier so auf dem Flur rumstehe, wo doch das Wetter so schön sei und er solle doch den Park genießen.
Jetzt kommt auch der Hohenegger. Was will der denn hier?
„Pagel, wat treibst du dich bei dem Wetter im Haus herum?“, fragte der Hohenegger.
„Treibst dich ja selbst im Haus rum.“
„Wartest uff de Streichlerin vom Minister, wa?“
„Ich habe nur mal nachgesehen, ob der Franz hier ist.“
„So so. Der Franz“, sagte Hohenegger und verkniff sich ein Lachen. „Na, dann haste den ja nu jefunden. Da kommt er.“
Pagel drehte den Rollstuhl in die Richtung, in die der Hohenegger schaute. Und ausgerechnet jetzt kam tatsächlich der Franz.
Dass ich daran nicht gedacht hab, ärgerte sich Pagel, dass die beiden wohl auch die Neugier hertreibt. Dabei hatte er sich alles so schön zurechtgelegt. In drei Wochen hat er Geburtstag und da käme sicher auch ein wenig Geld von den Kindern. Sagen musste er es ihnen natürlich. Dass er sich Geld wünscht und keine Präsentkörbe, Strickjacken oder Duftkram. Aber wenn die das erst geschluckt hatten, dann bekäme er bestimmt ein wenig Geld zusammen. Die Frage war nur: Wie viel er brauchen wird? Und ob die Streichlerin auch zu ihm kommt, wo er doch nur ein oller Mechaniker und kein Minister war.
Die Drei schauten einander an. Keiner zuckte, keiner setzte zum Gehen an, keiner sagte ein Wort. Dafür kam der Jirka: „Sie führen doch was im Schilde.“
„Nein! Nix führen wir im Schilde.“
„Wir unterhalten uns nur ein wenig.“
„Alles ganz harmlos.“
Der Jirka lachte, sagte: „Ich habe ein Auge auf euch“, und verschwand kurz in das Zimmer vom Minister.
„Der streichelt den Minister nicht. So viel steht mal fest“, sagte der Franz.
„Vielleicht hat uns der Hohenegger ja doch nur einen Bären aufgebunden“, gab Pagel zu bedenken. „Und wir sind so blöde und fallen drauf rein.“
Da kam der Jirka wieder heraus, deutete mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Augen, während er den Dreien einen strengen Blick zuwarf, aber dann ging er und Pagel war es nur recht so.
„Vielleicht is die dit schon“, nuschelte der Hohenhegger und deutete mit dem Kopf in die Richtung, in die der Jirka verschwunden war.
Drei Augenpaare hofierten nun die Frau, die schnurstracks auf das Zimmer vom Minister zuschritt. Sie war klein, etwas pummelig, um die fünfzig, mit Kurzhaarschnitt, trug schwarze, flache Schuhe, Jeans und einen blauen Sommermantel. Sie klopfte, obwohl der Minister es ja nicht hören konnte, wartete ein paar Sekunden und trat dann ein.
„Es gibt sie also wirklich“, sagte der Pagel.
„Hab ich doch jesacht. Und ihr wolltet mir det nich glauben.“
„Ich habe mir die ganz anders vorgestellt“, sagte der Franz.
„Bisschen mehr wie Nutte, wa?“, sagte der Hohenegger. „Aber nee, so ene Streichlerin, det is kene von der Sorte. Dit is seriös. Deshalb darf der Minister ja och nich rin in ihr.“
Und wenn es nun doch nur die Großnichte ist, überlegte Pagel. Da machte man sich ja vollkommen lächerlich, wenn man sie fragte, wie teuer so ein Besuch sei. Es drang ein Stöhnen des Ministers durch die dünnen Wände und sogleich verwarf Pagel die letzten Zweifel an der Aussage des Hohenegger. Taub und blind, aber stumm ist der nicht, dachte er bei sich. So standen die drei Alten und lauschten bis der Jirka ein weiteres Mal über den Flur hetzte und sie nun doch in den Garten schickte.
Nur zehn Meter entfernt von des Hoheneggers Bilderbox standen sie am Tor und behielten den Hauseingang im Blick, denn hinaus musste sie ja wieder, die Streichlerin. Pagel blies auf seiner Mundharmonika das Lied vom Mai und die beiden anderen hörten zu oder summten mit. Der Hohenegger war vorher noch rasch aufs Zimmer geeilt und hatte sich umgezogen. Nun trug er ein Hemd und ein Sakko, welches ihm die Kinder zu Weihnachten geschenkt und er bis zum heutigen Tag nicht angerührt hatte, weil man so was hier nicht trug. Keiner lief so rum, da fiel man nur auf. Und das tat der Hohenegger auch, befand Pagel, dem das nicht passte. Sogar die Katja hatte einen Pfiff ausgestoßen und den Hohenegger gefragt, ob es einen Grund gäbe, dass er sich so schick gemacht hatte. Da war mal gut, dass der Hohenegger so ein Fuchs war. Für sie hätte er sich so fein gemacht, weil er sie doch fragen wollte, ob sie nicht mal mit ihm ausginge. Da hatte die Katja gelacht, aber nicht weiter nachgebohrt, sondern nur gesagt, sie sei ja leider schon vergeben.
Jetzt kam die Besucherin vom Minister aus dem Haus und lief direkt auf das Tor zu. Pagel steckte die Mundharmonika ein, der Franz trat von einem Bein auf das andere und der Hohenegger zog das Sakko straff. Er sollte die Frau ansprechen, das hatten sie so abgemacht.
Sie war schon an ihnen vorbei, als der Franz dem Hohenegger in die Rippen stieß, denn der stand nur da und bewegte sich nicht, und als sie schon fast an der Straße war, da rollte Pagel los und rief ihr hinterher: „Hallo! Darf ich Sie etwas fragen?“
Die Frau blieb stehen und wartete bis Pagel dicht bei ihr war. „Sicher“, sagte sie und das ermutigte Pagel ungemein. Er atmete tief durch, räusperte sich, rieb sich die Nase und fragte schließlich: „Sind Sie die Großnichte vom Minister?“
Die Frau lachte. „Nein. Wer erzählt denn so was?“
Pagel atmete innerlich auf. „Man erzählt hier viel. Die Leute haben wenig zu tun.“
„War es das, was sie mich fragen wollten?“
Pagel schaute sich zum Tor um. Warum kamen die beiden ihm denn nicht zur Hilfe? Der Franz nickte ganz aufgeregt und der Hohenegger zeigte ihm einen Daumen hoch.
„Nein. Nicht ganz“, gab Pagel zu. „Man erzählt sich auch, Sie würden Geld dafür bekommen, dass Sie den Minister besuchen.“
„Ja“, sagte die Frau, nun doch etwas irritiert.
„Naja“, Pagel spürte, wie ihm der Schweiß lief, „und die Leute erzählen, Sie würden den Minister massieren.“
„Das stimmt.“
Es klang ganz selbstverständlich, ihr „stimmt“, und auch sonst war nichts im Gesicht der Frau zu erkennen, dass ihr die Situation unangenehm war oder das Thema oder irgendwas. Sie sah Pagel offen und freundlich an und das ließ die letzten Hemmungen bei ihm fallen.
„Würden Sie mich auch einmal besuchen kommen? Ich bezahle auch. Wie der Herr Minister.“
„Wenn Sie das wollen“, sagte die Frau und öffnete ihre Handtasche. „Ich geben Ihnen meine Karte. Rufen Sie einfach an und vereinbaren Sie einen Termin.“
Pagel nickte eifrig.
„War das Ihre Frage?“
Wieder nickte Pagel und griff nach der Visitenkarte, die sie ihm hinhielt. „Vielen Dank.“
„Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.“ Die Frau reichte ihm die Hand. Pagel war so gerührt, so erleichtert, so beflügelt, dass er sie endlos schüttelte. Er blieb noch auf dem Gehweg stehen, bis sie mit ihrem Auto fortfuhr, dann schaute er auf die Karte. „Praxis für Physiotherapie“ stand ganz oben und sogleich löste sich das leichte, schöne, herrliche Gefühl in ihm auf. Alles weiß der Hohenegger eben doch nicht, fluchte Pagel still. Stumm reichte er die Karte an Franz weiter, der jetzt neben ihm stand und auch an den Hohenegger, der ebenfalls gekommen war, und schweigend gingen die Männer zurück ins Heim und jeder für sich aufs Zimmer.
Der alte Pagel saß am Fenster und schaute hinaus in den Frühling. Seine Mundharmonika lag vor ihm auf dem Tisch. Ihm war nicht nach singen oder spielen, ihm war auch nicht nach Frühling. Katja stand hinter ihm, sie hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt und gemeinsam schauten sie in den Garten.
„Mensch Pagel, was ist nur mit Ihnen los? Seit Tagen machen Sie ein Gesicht, als hätte man Sie in ein Sauerkrautfass gesperrt.“
„Geben Sie mir schon die Tabletten“, sagte Pagel.
Katja hielt ihm die Pillen und den Becher Wasser hin. Pagel nahm sie, schluckte, trank Wasser nach und stellte den Becher auf den Tisch.
„Und Skat spielen Sie auch nicht. Immer nur auf dem Zimmer. Sie können doch noch.“
Pagel drehte den Kopf, sah Katja an, griff nach ihrer Hand auf seiner Schulter und drückte sie sacht, bevor er zu seiner Mundharmonika griff und das Lied Am Brunnen vor dem Tore zu spielen begann. Katja hörte Pagel zu, summte leise mit und als der letzte Ton verklungen war, schenkte sie ihm ein Küsschen auf die Wange, so wie sie es manchmal tat, so wie sie es bei allen tat, wenn sie einen guten Tag hatte.