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Die Suche nach den Farben

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19.05.2015
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Die Suche nach den Farben

Panama

Zwischen den aufragenden Glastürmen Panamas kreisen Geier, ein Symbol oder eben einfach Vögel, die in der Stadt zwischen den Meeren eine ideale ökologische Nische gefunden haben. Containerschiffe am Horizont, die den Kanal in die eine oder andere Richtung durchqueren. Sie gleiten wie schlafende Tiere durch die Schleusen des Kanals, während über ihnen das Tropenlicht flimmert. Die Stadt flüstert unentwegt und berichtet von Gier, als wäre sie selbst ein Marktplatz aus Stimmen.
Mein Budget ist großzügig bemessen, also übernachte ich in der Altstadt im Hotel Central, klassizistisch, im 19. Jahrhundert erbaut, dicke Teppiche und Personal, das mich mit meinem Rucksack und den Wanderschuhen im ersten Moment etwas genauer beäugt, als ich aber meinen Namen und die Organisation nenne, für die ich arbeite, werde ich mit ausgesprochener Freundlichkeit behandelt und nach meinen Wünschen gefragt. Dass ich nach den Farben suche, verheimliche ich. Genauso gut hätte ich die Sehnsucht nach der blauen Blume nennen können und wäre auf dieselbe Verwunderung gestoßen. Ich reise allein, ein Influencer des Klimawandels. Am Abend poste ich Clips mit Blick über die Skyline, einem Geier am Hotelpool und von mir selbst, gut gelaunt bei Pisco Sour und einem fetten Burger. Der Himmel ist leer wie mein Herz. In Peru werde ich Hamster essen und eine Menge Likes verzeichnen. Wie lange werden meine Posts viral gehen? Von der Rooftop-Bar aus beobachte ich die Containerschiffe auf ihrem Weg zwischen Ozeanen und Urwald - der Kanal, das Tor der Welt. Ich suche nach dem perfekten Bild, einem Moment der Wahrheit. Ich suche und suche. Odi et amo. Ich hasse und ich liebe. Nähe gibt es nicht. Schein dominiert die Welt. Ich verliere mich im Nichts der Bedeutungslosigkeit.
In der Nacht träume ich von Dämonen, Wesen, die mir etwas zuflüstern, ohne dass ich verstehe, was sie meinen. Beim Aufwachen bin ich nicht in der Lage, etwas von dem in der Nacht Erlebten, dem Fantasierten, in die Wirklichkeit zu retten. Zurück bleibt die Leere meines heimatlosen Lebens.

Am frühen Morgen hebt der Flug in Richtung Süden ab, über den Dschungel, das Meer, die Grenzen, die nur auf Karten existieren. Unter den Wolken verschwindet Mittelamerika wie eine Kette von Erinnerungen, gebrochen und wieder verbunden. Lima leuchtet wie ein Raster aus Lichtpunkten, eine Stadt, die so viel mehr weiß, als sie preisgibt. Eine Stunde Aufenthalt.


Cusco

Die Sonnenstadt darf nur tagsüber angeflogen werden. Durch das Fenster sehe ich die ersten Gipfel der Anden, bis sich die Maschine über Cusco senkt. Sobald ich die Flughafenhalle verlassen habe, um auf den Fahrer zu warten, der mich zum Hotel bringt, spüre ich, was diese Stadt ausmacht und was einen unweigerlich begleitet, wenn man sich dort aufhält: grelles Licht und das beständige Gefühl, der Himmel sei einem näher als die Erde. Steine atmen Geschichte. Straßen führen spiralförmig hinauf und hinab, als suchten sie einen Mittelpunkt, der längst verschwunden ist.
Panama und Cusco, zwei Pole derselben Reise. Das eine geschaffen, um Wasser zu teilen, das andere, um Himmel und Erde zu vereinen. Und zwischen ihnen eine Bewegung, die mehr ist als Geografie – ein Übergang zwischen Tiefe und Höhe, Kontrolle und Vertrauen, Maschine und Mythos.
Über den Gipfeln singt der Wind in sieben Tönen. Man sagt, wer sie alle hört, findet den Weg, der weder nach Norden noch Süden führt, sondern nach innen. Irgendwo da draußen warten die Farben.
Mein Hotel heißt El Balcón und liegt oberhalb des historischen Zentrums, verborgen in einer schmalen Gasse. Ein uraltes Haus, kurz nach der Eroberung erbaut, schlicht, weiße Wände, Balken, Galerien, Balkone aus Holz im Innenhof und ein spektakulärer Blick über die Stadt. Ein goldener Schleier liegt über den Dächern, Kirchen, deren Kuppeln schimmern wie pulsierende Herzen. In der Ferne hupende Autos, Rufe von Menschen, bellende Hunde. Eine Kirchenglocke wird geschlagen.
Die ersten Stunden in Cusco fühlen sich an wie ein zögerndes Erwachen. Der Kopf ist leicht, fast schwebend, der Körper träge. Jeder Atemzug verlangt Aufmerksamkeit. Gleichzeitig erfüllt mich ein stilles Staunen über die Klarheit des Lichts, die Weite über mir, den Gedanken, dass man sich hier vielleicht den Göttern nähert, wenn es sie jemals gegeben hat – oder sich selbst. Vielleicht ist das der wichtigste Grund, hier zu sein, dem Unermesslichen zu begegnen, zu atmen, wirklich zu atmen.
Ich bekämpfe die Müdigkeit, indem ich meine Blicke wandern lasse und mit den Händen das glatte Geländer umklammere. Wer mag hier schon gestanden haben, welche Erinnerungen haben sich in das Holz gefressen? In meinem Zimmer riecht es nach Kalk, Kiefernharz und dem scharfen Tee aus Koka-Blättern, der neben der Rezeption bereitsteht.
Ich beschließe, einen Rundgang durch die Stadt zu machen, gehe langsam, fast tastend, durch die Straßen. Die Luft scheint zu flimmern, dabei ist es nicht übermäßig heiß. Jeder Atemzug ist zu leicht, zu dünn, um den Körper wirklich zu füllen. Ein Schritt die steilen Gassen hinauf genügt, um den Puls zu beschleunigen. Die Linien der alten Inka-Mauern schweben an mir vorbei, fugenlos, als hielten sie noch immer die Schwingung einer vergangenen Ordnung. Die Straßen riechen nach Erde, Metall und süßem Mais. Frauen in bunten Ponchos sitzen an den Ecken, vom Wetter und Leben gegerbte Gesichter, die Hände ruhig und geduldig. So geht man mit der Höhe um. Auf der Plaza de Armas jagen Kinder Tauben und Reisende aus allen Himmelsrichtungen fotografieren, als müssten sie sich vergewissern, dass dieser Ort wirklich existiert. Aus den offenen Türen der Kathedrale weht Orgelklang, vermischt mit dem fernen Hupen eines Taxis. In der Sonne scheint alles zugleich zeitlos – das Lächeln eines Kindes, die polierte Kante eines Steins, der seit Jahrhunderten dort liegt. Ich esse eine Kleinigkeit, trinke Bier und Coca-Tee. Ceviche schmeckt hier noch besser als in Panama.
Meine Schritte sind schwer, als ich wieder zum Hotel zurücklaufe, der Schwindel bleibt, das Herz schlägt schneller und der Körper will sich so weit es geht weiten. Abends verwandelt sich der Balkon in eine Bühne aus Schatten und Laternenlicht. Von unten dringen Stimmen und Musik herauf, während über den Ziegeldächern das Blau des Himmels in ein tiefes Violett übergeht. Ich schlafe tief, wache mit wirren Träumen auf. Diesmal begegne ich keinem Dämon, stattdessen mir selbst, der atemlos durch ein Parkhaus läuft und nach seinem Wagen sucht. Es ist lange her, dass ich ein Auto besessen habe, einen alten Mercedes, den ich geliebt habe.
Am zweiten Tag bewege ich mich kaum, setze mich auf eine Bank im Garten des Koricancha, wo die fugenlosen Mauern einst von der Sonne vergoldet waren. Zur Inkafestung schaffe ich es nicht, obwohl ich überlege, einen Uber zu rufen. Ich suche nach Farben und muss keine Hotspots abarbeiten. Menschen flanieren an mir vorbei. Ich bekämpfe die Gedankenflut mit einem Nickerchen. Für mich hängt die Zeit zwischen Himmel und Erde. Der Herzschlag hält mich fest. Keinerlei Träume begleiten mich. Ein gutes Gefühl.
Ich bin ein Influencer der langsamen Art, sagen manche, weil meine Clips weniger von Geschwindigkeit leben als von Stille. Vielleicht ist das der Grund, warum mich eine Umweltorganisation unterstützt. Sie wollen Bilder im Übergang, Landschaften, die sich verändern, Orte, an denen der Klimawandel Linien zieht, die man früher nicht sah. Ich bin kein besonders guter Fotograf, interessiere mich kaum für die technische Seite, aber umso mehr jedoch für die Architektur des Bildes, für Licht und Perspektive. Deshalb krieche ich über die nackte Erde, suche eine abgelegene Stelle oder klettere auf einen Baum. Von dort aus gestalte ich, was mein Instinkt vorgibt.
Aus den Recherchen der Organisation weiß ich, dass der Vinicunca erst seit wenigen Jahren sichtbar ist. Der Schnee hat sich zurückgezogen, und darunter sind Farben aufgetaucht, die mehr erzählen als die Statistiken. Ein Berg, der das Verborgene zeigt, ein Auftrag, der sich mit meinen Fragen überschneidet.
Das passt zu meiner Arbeit, aber ich wusste, dass ich dort nicht allein sein würde. Ein Berg, der plötzlich berühmt wurde, zieht andere an wie ein Signalfeuer.
Ich habe nichts gegen Reisende, aber ich fürchte den Spiegel, den sie mir vorhalten. Viele von uns kommen freiwillig hierher, getragen von Sehnsucht, Neugier, Algorithmen. Und doch weiß ich, dass ich inmitten der Menge für mich sein werde, allein mit einer Landschaft, die gerade erst begonnen hat, ihr Gesicht zu zeigen.
Ich schreibe ein paar Zeilen in das Notizbuch:
 „Morgen breche ich auf, aber die Reise selbst hat längst begonnen. Ich habe eine Ahnung, was es heißt, unter freiem Himmel zu stehen. Wo die Felsen unterschiedliche Farben aufweisen, wird die Luft noch dünner sein.“
Die Nacht bleibt leer und stumm.


Vinicunca

Der frühe Morgen beginnt wie ein Versprechen. Kaltes Licht liegt über den roten Ziegeldächern und die Stadt atmet langsam. Ich trete aus dem Innenhof des Hotels. Die dünne Luft drückt mir sanft gegen die Brust wie eine Hand. Mein Fahrer wartet bereits. Ein alter Toyota, staubig, die Scheiben leicht beschlagen. 
„Quesiuno“, sagt er knapp. Der Name klingt nicht wie ein Ziel, eher wie eine Schwelle.
Die Fahrt führt heraus aus Cusco, vorbei an halbfertigen Mauern, bellenden Hunden. Mit jedem Kilometer weitet sich die Landschaft. Mit jedem Höhenmeter wird die Stille dichter.
Irgendwann, jenseits der letzten Dörfer, höre ich sie zum ersten Mal.
Nicht Stimmen im eigentlichen Sinn, sondern ein Flüstern, Atemzüge, die in der Luft vibrieren. Ein Wispern, das sich in den Gräsern verfängt, über die Felsen streicht, ein Chor, der keine Menschen braucht, um gehört zu werden.
Der Fahrer bemerkt meine Blicke. 
„Pachamama“, sagt er, ohne sich umzudrehen.
Ich nicke, obwohl ich nicht sicher bin, überhaupt etwas gehört zu haben, frage mich, ob die Höhe mit mir spielt, diese leichte, vibrierende Schwere, 
die Cusco und die Andentäler mit einem unsichtbaren Schleier überzieht.
Wir erreichen Quesiuno am späten Vormittag. 
Ein paar Häuser, ein paar Hühner, ein Stand mit Tee und Sandwiches.
 Der Guide winkt uns zu, ein Mann mit ruhigen Bewegungen und einem Blick, 
der den Himmel häufiger betrachtet hat als jede Straße.
„Heute steigen wir nur langsam“, sagt er. „Die Berge mögen keine Hast.“
Der Weg führt sanft bergauf, ein vom Schritt der Tiere und Menschen über Jahrhunderte geschaffener Pfad. Alpakas stehen auf den Hängen, reglos wie Skulpturen, ihr Fell leuchtet in der Sonne.
Mein Atem wird kürzer, die Farben der Umgebung intensiver. 
Braun, Grün, Blau – alles schärfer, als hätte jemand den Kontrast überdreht.
Dann höre ich Schritte hinter uns. Erst leise, dann deutlicher – ein rhythmisches Knirschen von Schuhen auf trockenem Staub. Eine kleine Gruppe taucht auf: zwei junge Frauen, ein älteres Paar, ein Mann mit einem Kameragurt, den er wie eine Waffe trägt. Ihre Gesichter sind gerötet, aber sie lächeln, als hätten sie das Flimmern in der Luft bemerkt.
 „Alles gut?“, fragt eine Frau mit Kopfband nicht aus Höflichkeit, sondern aus dieser seltsamen Solidarität heraus, die zwischen Fremden in großer Höhe herrscht. Ich nicke. Der Guide antwortet für uns beide. „Wir sehen uns im Camp.“ Einen Moment schweigen alle. Dann gehen sie weiter, ein Stück vor uns, ihre farbigen Jacken wirken wie Tupfer im Braun und Blau der Hänge.
 Der Mann mit dem Kameragurt dreht sich zu mir um, bevor sie hinter der nächsten Biegung verschwinden, als hätte er etwas gehört, das man nicht auf Bildern festhalten kann. Vielleicht dasselbe Raunen wie ich.
Am Nachmittag erreichen wir das Camp. Die Zelte liegen verstreut auf ebenem Gelände zwischen Findlingen. Dazwischen niedrige Tola-Büsche, die sich an die Steine klammern. An manchen Stellen einzelne Yareta, knallgrünes Moos, steinhart, obwohl es wie ein Polster wirkt.
Nach und nach versinkt das Licht hinter den Bergen. Wir bauen das Zelt auf, zünden ein Feuer an, schweigen, essen Proteinriegel und eine warme Suppe aus der Thermoskanne. So wie alle anderen, die in Sichtweite campen. Die Leute, die ich treffen wollte, sind nicht aufgetaucht. Ich brauche sie nicht, bin mir schon lange selbst genug. Deshalb suche ich auch den Mann mit der Kamera nicht. Freundschaft persönlicher Art wird völlig überschätzt. Die Temperatur fällt und das Wunder der Sterne lässt sich beinahe greifen, so nah der Himmel. Stetiges Blinken am Firmament. Darunter absolute Dunkelheit.
Pedro setzt sich neben mich. Wir schauen gemeinsam in die Weite. Die Augen fallen mir zu. Ich schaffe es mit knapper Not ins Zelt. Wilde Träume und Stimmen, die mir etwas zurufen, die wieder und wieder dasselbe erzählen, ohne dass ich ein einziges Wort verstehe. Ich wälze mich im Schlafsack hin und her und warte auf den Dämon, der mich gefangen nimmt. Ich frage mich, warum ich reise, ob ich fliehe, warum ich fotografiere, was ich über meine Follower weiß und was echte Freunde sind, ob ich überhaupt welche habe.
Am frühen Morgen wache ich auf. Kälte drückt auf Haut und Knochen, kriecht durch meinen Körper. Ich zittere. Die Sonne zeigt sich rosa und zart und diesmal verstehe ich einen Teil des Flüsterns.
„Schau genau hin! Warum siehst du sie? Was bedeuten die Farben, was dieser Berg?“
Ich verstehe nichts, versuche die Stimmen zu entschlüsseln. Vergeblich. Raunen im Wind. Die Schönheit des Morgens überwältigt mich. Instinktiv nehme ich meine Kamera in die Hand. Klick, klick. Ich spüre, dass es falsch ist, dass ich die Augen aufmachen, die Ohren spitzen und das Herz öffnen muss, mehr nicht.
Pedro setzt sich neben mich.
„Die Pachamama“, sagt er und macht eine ausladende Geste, „spricht mit uns.“
„Ich verstehe die Worte nicht.“
„Das musst du gar nicht.“ Er reicht mir eine Tasse heißen Coca-Tee.
„Langsam trinken!“ sagt er. 
Das Hochland liegt still vor mir, der Boden hart, staubtrocken, voller Risse und Linien.
Wir packen zusammen und setzen den Weg fort. Der Pfad zieht sich wie eine schmale Narbe durch die Landschaft, gezeichnet von Hufen, Füßen, Jahrhunderten. Die Stimmen rauschen fern. Irgendwo in mir beginnt etwas zu arbeiten. All die Städte, Orte, Berge und Seen, all die Meere ziehen in einem endlosen Strom an mir vorbei. All die Bedeutungslosigkeit des Instagram-Glanzes. Hier oben wirkt all das weit entfernt, lächerlich. Ausgedünntes Bewusstsein. Überflüssiges fällt von mir ab. 
Übrig bleibt Klarheit, roh und ungezähmt – und ein leises Staunen. Nach einer Weile erreichen wir ein Plateau, das wie eine vergessene Bühne wirkt, ein dunkler, fast schwarzer See, Gletscherzungen schimmern in der Ferne. Als wir die letzten Kurven nehmen, verändert sich das Licht. Es kippt von Grau zu einem metallischen Glanz, der die Schatten löscht. Die Berghänge sind wie Haut, die in Schichten atmet. Rot. Grün. Ocker. Ich denke an oxidiertes Eisen, Kupfer, Schwefel – und an etwas anderes, das ich nicht zu benennen vermag. Ich schieße viel zu viele Fotos, ohne dass ich das greifen könnte, was sich vor mir ausbreitet.
Als wir das letzte Stück des Weges zurücklegen, spüre ich die Erschöpfung wie eine zweite Haut. Die dünne Luft legt sich auf meine Schultern, jeder Schritt wird dumpfer. Im Camp sinke ich auf die Matte. Der Guide stellt mir noch eine Tasse Tee hin, ich trinke ein wenig, sauge die Wärme auf. Ich höre noch Stimmen, Schritte, das Rascheln von Stoff. Dann nichts mehr. Ich lege mich hin, schließe die Augen, falle, falle in tiefen Schlaf.
Ich weiß nicht mehr, wann und warum ich aufgestanden und losgezogen bin. Vielleicht war es der Wind, der sich verändert hatte, tiefer, fast wie ein Atemzug des Berges selbst. Die Dunkelheit hing schwer über dem Hochplateau, der Mond war ein dünner Strich am Himmel. Ich weiß nicht, wohin meine Füße mich tragen.
Ich erinnere mich an das Knistern kleiner Steine unter meinen Schuhen. An den metallischen Geschmack der Höhe auf meiner Zunge erinnere ich mich. An das Gefühl, nicht ganz in meinem Körper zu sein, sondern einen Schritt daneben, als würde jemand anders über das Ziel entscheiden. Der Pfad gleicht einer hellen Ader zwischen den Schatten. Ich folge ihm. Irgendwann höre ich etwas – ein leises Pfeifen, als rufe mich jemand. Ich bleibe stehen, schwanke, die Kälte beißt. Meine Stirn brennt. Ich schaue mich um, aber es ist niemand da. Ich glaube zu fallen. Ich gehe weiter, weiter. Der Abhang rechts von mir ist schwarz wie ein offener Mund. Links ragen Findlinge wie gebogene Rücken aus dem Boden, und zwischen ihnen wächst niedriges Buschwerk, das in der Nacht aussieht, als bewege es sich.
Ich weiß nicht, wie lange ich gegangen bin und wie ich zurückgefunden habe. Ich erkenne das silbrige Zelt, die dunklen Schatten der anderen Schlafsäcke. Ein leises Murmeln aus dem großen Küchenzelt. Und dann die Schritte des Guides, der sich gerade umdreht.
„Miro?“, sagt er scharf. „Wo warst du? Ich wollte schon los und dich suchen.“
Ich hebe den Kopf, als würde es helfen, eine Antwort zu finden. Aber es gibt keine.
„Ich ... wollte … raus“, sage ich, und weiß im gleichen Moment, dass es nicht stimmt.
Er mustert mich. Dann nickt er kurz, als wolle er die Situation nicht größer machen als nötig.
„Geh schlafen! Morgen wird ein langer Tag.“
Ich krieche ins Zelt, die Finger klamm, die Stirn heiß, das Herz rast. Und während ich mich in den Schlafsack schiebe, habe ich das Gefühl, dass draußen etwas passiert ist. Etwas, das in der Dunkelheit geblieben ist.
Am letzten Morgen folge ich Pedro ausgelaugt. Jeder Schritt zieht durch die Waden.
Irgendwann sehe ich ein Stück abseits des schmalen Pfades unvermittelt eine Frau stehen. Unklar, woher sie kommt. Beinahe, als hätte die Erde sie eben erst freigegeben. Eine kleine Gestalt, in mehrere Tücher gehüllt, das Gesicht dunkel vom Wind, von der Sonne, vom Alter vielleicht. Augen klar wie ein Bergsee.
Pedro bleibt stehen, zögert und neigt kurz den Kopf. Die Frau fixiert mich, beachtet den Guide überhaupt nicht.
 „Du warst in der Nacht draußen“, sagt sie.
 Eine leise Stimme, die ich mehr im Bauch als im Ohr spüre. Ich will etwas antworten, vermag es aber nicht. Sie tritt einen halben Schritt näher, bleibt aber außerhalb meiner Reichweite. In ihrer Hand hält sie etwas, das wie eine kleine Schale aussieht. Darin glimmt dunkle Asche, ohne dass Rauch aufsteigt. 
„Der Berg öffnet nachts manchmal sein verletztes Herz“, sagt sie. „Die Pachamama zeigt sich nicht jedem.“ 
Ein Luftzug fährt durch die Steine am Wegesrand. Irgendwo klirrt loses Gestein.
 „Wer zuhört, versteht“, fügt sie hinzu.
 Mein Herz schlägt schneller, als es sollte. Nicht aus Angst. Eher wie nach einem Lauf. Die Frau hebt die Schale ein wenig an, als würde sie etwas prüfen, das wir nicht sehen können. Dann senkt sie den Blick.
 „Heute ist ein stiller Tag“, sagt sie.
 Der Guide räuspert sich. 
Die Frau tritt zurück. Ein Schritt. Noch einen. Der Wind bläst an der Stelle, wo sie eben noch stand.
 Pedro sagt: „Wir müssen weiter!“
 Etwas in mir bleibt zurück.
Ich folge ihm dennoch. Erst zögernd, dann Schritt für Schritt. Der Weg nimmt uns auf wie etwas Vertrautes. Die Steine unter den Sohlen strahlen Kälte ab. Der Wind greift mir noch einmal in den Nacken. Als ich mich umdrehe, ist von der Frau nichts mehr zu sehen. Geröll. Licht. Sonst nichts.
Wir erreichen den Wagen schweigend. Pedro startet den Motor nicht gleich, als wolle er etwas sagen, schaut mir in die Augen. Der Motor springt an. Die Straße windet sich ins Tal. Staub liegt auf der Scheibe, auf meinen Gedanken. Ich sehe die Farben, wenn ich die Augen schließe. Mein Körper ist müde, der Geist geschärft. Unruhe. 
Pedro fährt ohne Eile. Cusco kommt als Geräusch näher, lange bevor die Stadt sichtbar wird. Stimmen. Motoren. Bewegung. Händler rufen, Mopeds knattern durch die Gassen.
Zum Abschied zieht er mich kurz an sich. Eine schlichte, feste Umarmung, ohne Erklärung. Es ist alles gesagt.


Cusco

Später stehe ich wieder auf dem Balkon des El Balcón, den Blick auf die Stadt gerichtet, die nichts von mir weiß und mich doch empfängt, als wäre ich nie weg gewesen.
Die Kamera liegt im Zimmer auf dem Tisch zwischen Wasserglas und Notizbuch. Der Akku ist fast leer. Ich schalte sie nicht mehr ein.
Unten auf der Plaza kreisen Tauben. Händler bauen ihre Stände ab. Ein Junge lässt einen Drachen steigen, der im Abendwind taumelt, sich fängt, wieder verliert. Ich lehne mich gegen das Geländer. 
In mir rauscht der Berg. Ein Nachhall, ein fernes Dröhnen unter der Haut. Die Nacht. Das verletzte Herz im Fels. Es ist alles da, ohne dass ich es greifen könnte.
Ich schlage das Notizbuch auf. Die letzte Seite ist leer.
 Lange zögere ich, wäge die Worte. Schließlich schreibe ich: 
„Ich habe gesehen, was kein Bild festhalten kann.“ 
Ich klappe das Buch zu.
Als ich den Blick noch einmal über die Plaza schweifen lasse, bilde ich mir für einen Augenblick ein, unter den Arkaden die Silhouette einer kleinen, in Tücher gehüllten Gestalt zu erkennen. Ein Flackern. Ein Schatten, der sich löst. Als ich genauer hinschaue, ist da nichts mehr.
Das Handy vibriert. Drei Nachrichten. Ein Ping. Ein Herzchen. Jemand fragt, wann die Fotos kommen. Ich drehe das Display nach unten.
Die Stadt wird dunkler. Lichter gehen an. Der Himmel über Cusco färbt sich tiefviolett. Irgendwo schlägt eine Glocke.
Keinen Ort braucht es mehr.
Kein Bild.
Nicht einmal mich selbst.
Der Berg bleibt dort oben. Und etwas von mir bleibt bei ihm.

 
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Zwischen den aufragenden Glastürmen Panamas kreisen Geier, ein Symbol oder eben einfach Vögel, die in der Stadt zwischen den Meeren eine ideale ökologische Nische gefunden haben.

Moin,

das setzt so den Rahmen des restlichen Textes. Wie immer bei dir geht es irgendwie um etwas Exotisches, das Setting, oder was man sich darunter eben so vorstellt. Da habe ich erwartbare Tropen im Kopf, die sich dann auch während des Lesens voll bestätigt finden.

Mein Budget ist großzügig bemessen, also übernachte ich in der Altstadt im Hotel Central, klassizistisch, im 19. Jahrhundert erbaut, dicke Teppiche und Personal, das mich mit meinem Rucksack und den Wanderschuhen im ersten Moment etwas genauer beäugt, als ich aber meinen Namen und die Organisation nenne, für die ich arbeite, werde ich mit ausgesprochener Freundlichkeit behandelt und nach meinen Wünschen gefragt.
Und dann so diese Art Mensch, die ich privilegiert nenne.

Ich sag mal so, ich kann so etwas eigentlich nur noch ironisch lesen, so wie ich mir heute auch meine alten Mötley Crüe Schallplatten nur noch ironisch anhören kann. Ich komme ja nicht aus dieser bildungsbürgerlichen Schicht, leider bildet die Gegenwartsliteratur eigentlich nur diese Schicht ab, von dieser für diese. Und die paar, die sich dann Arbeiterklasse nennen, haben dennoch alle Abitur und studiert, die begreifen sich trotzdem als intellektuelle Elite und faseln über die Lebensbedingungen vielleicht ihrer Eltern.

Ich suche nach dem perfekten Bild, einem Moment der Wahrheit. Ich suche und suche. Odi et amo. Ich hasse und ich liebe. Nähe gibt es nicht. Schein dominiert die Welt. Ich verliere mich im Nichts der Bedeutungslosigkeit.
Das empfinde ich als das größte Problem: ich nehme dem Erzähler kein Wort davon ab. Mir fehlt das Unmittelbare, hier wird, oder hier soll mir der Sinn erklärt werden, der Sinn der Suche, gleichzeitig wird mir auch noch jedes Gefühl vermittelt und die Unmöglichkeit des ganzen Unterfangens. Ich muss den Text eigentlich nicht mehr lesen, denn was erwarte ich noch? Es steht doch alles da. Wenn DAS die Prämisse wäre, und der Text nun diese beweisen müsste, wäre es etwas anderes; dann wäre der Text anders angelegt, der Protagonist müsste wirklich auf die Suche gehen, er könnte den Moment der Wahrheit nicht benennen im Grunde, er würde das nicht so kokett paraphrasieren. Hier, so wie es da steht, ist das alles hohl, leer, eine Intonation, nett klingende Behauptungen, die nie erreicht werden, das ist wie eine Inszenierung für Insta, so fühlt es sich für mich an.
Die Straßen riechen nach Erde, Metall und süßem Mais. Frauen in bunten Ponchos sitzen an den Ecken, vom Wetter und Leben gegerbte Gesichter, die Hände ruhig und geduldig.
Das sind auch so Beobachtungen, ich weiß nicht ... vom Leben gegerbte Gesichter. Ich versuchte letztens diesen viel gelobten Roman Lazar zu lesen, da bin ich bis auf Seite 30 gekommen, da tauchten dann das erste Mal die gut gebauten Stallburschen auf, ähnlich geht es mir hier auch: das ist Mottenkiste, da steigt mir Grabesgeruch in die Nase. Ich meine auch: wer denkt wirklich so etwas? Das sind doch Platitüden, bzw ich nehme sie so wahr.
Später stehe ich wieder auf dem Balkon des El Balcón, den Blick auf die Stadt gerichtet, die nichts von mir weiß und mich doch empfängt, als wäre ich nie weg gewesen.
Muss man auch schnell lesen: die Stadt weiß nichts von ihm, empfängt ihn aber doch so, als wäre er nie weg gewesen. Verstehe ich einfach nicht. Was soll mir damit gesagt werden? Dass er dort hingehört, dass er sich dort zugehörig fühlt, ist das wie eine Heimat für ihn geworden? Warum kann man das nicht anders audrücken, ehrlicher, einfacher, mit mehr Erdung? Warum muss da so verschwurbelt werden?

Ich lese den Text zuende und kann mich an nichts erinnern, alles bleibt vage, alles verschwindet sogleich aus meinem Kurzzeitspeicher. Und dabei sind die Namen und Orte doch so exotisch, die muten an wie aus weiter Entfernung, als ob das alles hochspannend sei und man sich dafür unbedingt interessieren müsste, weil es da die ganzen wettergegerbten Gesichter und tolle Geschichten und Mythen gibt, aber es bleibt letztendlich alles nur bei einer Benennung, wie in einem Reiseprospekt, da bleibt nur der Hochglanz des wertigen Papiers. Ich will ja gar nicht spotten, um Himmels Willen!, das liegt mir fern, aber ein klein wenig finde ich mich in kirolys Kommentar schon auch wieder, nur empfinde ich das im Gegensatz zu ihm handwerklich leider nicht so exzellent erzählt, sondern einfach zu verschwurbelt, zu gewollt, zu konstruiert. Vielleicht bin ich aber auch nicht die Zielgruppe; Paulo Coelho passt da sicher schon eher.

Gruss, Jimmy

 
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Hallo @Isegrims,

ich schreibe eher einen Meta-Kommentar, denn dieser Text ist meiner nicht. Jedoch möchte ich mich dennoch für deinen Kommentar revanchieren. Und ich habe deinen Text schon auch (an)gelesen und letztlich sind wir ja auch und vor allem für die kritischen Stimmen hier, oder nicht?

Nun, wie soll ich meinen Eindruck kondensieren? – Vielleicht mit einem Rückgriff auf die Challenge von vor zwei Jahren. "Weiße Weihnachten war gestern", hieß sie, soweit ich mich erinnere. Da hattest du eine Story über einen armen Jungen in Südafrika geschrieben und meine Kritik war, dass das nicht authentisch wirkt. Das bezog sich sowohl auf das Setting wie auch auf die (Jugend)Sprache. Damals hast du nicht sehr offen auf meine Kritik reagiert, was übrigens auch ein Grund dafür ist, dass ich dieses Mal nicht kommentieren wollte. Als Veteran des Forums hast du mittlerweile oft genug Feedback bekommen, um wissen zu können, was in den Augen mancher Leser Stellschrauben zur Verbesserung wären. Wenn du diese Stellschrauben trotzdem nicht anziehst (oder lockerst – je nachdem in welcher Richtung man sich in dieser Metapher verlieren will), dann ist das mittlerweile eine reflektierte, ganz bewusste Entscheidung. Du willst schreiben, wie du schreibst, mit einer bestimmten Kritik kannst du scheinbar gut leben.

... yadda yadda yadda ... Trotzdem noch ein (letztes?) Mal: Auch bei diesem Text ist mein Eindruck, dass du letztlich von außen auf deinen Protagonisten und das Setting geguckt hast und dass das durchschlägt. Ich weiß ja ungefähr, wie alt du bist, darum mutmaße ich, dass mehr oder weniger noch jugendliche Globetrotter auf Social Media nicht in dein primäres Interessensgebiet fallen dürften. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du abends mit dem Handy in der Hand auf der Couch sitzt und dir von einem Zwanzigjährigen die Welt durch eine Go Pro gesehen zeigen lässt, zumal du ja selbst welterfahren und weitgereist bist.

Kurz: Ich glaube, du hast hier eine Figur erschaffen, ohne wirklich in ihr Leben und ihre Sichtweisen einzutauchen. Und über diese Figur hast du dann – so muss ich leider diagnostizieren – altbekannte Motive (Sehnsucht, Sinnsuche ...) gelegt. Das ergibt einen Text, der irgendwie doppelt enttäuscht: Weder komme ich einem digitalen Twen nahe, noch wird in mir selbst eine Sehnsucht oder eine Nostalgie als Erinnerung an vergangene Sehnsüchte geweckt.

Es ist halt auch leider immer ungünstig, wenn ein Leser selbst schon am beschriebenen Ort war und damit weiß, was literarischer Schwulst ist. Ich war zwar nicht in Cusco, aber immerhin im Norden von Peru, war in den Anden, in Ecuador auf "Klein Galapagos" und im Amazonas und meine Eindrücke vor Ort waren ganz anders.

Hier ist die Sache: Dass mit der Sehnsucht, dem Fernweh, der Sinnsuche ist ja nicht grundsätzlich falsch. Natürlich existiert das alles in Reisenden, vor allem bei Backpackern, die in halbwegs exotische Länder reisen. Aber der Kitsch muss weg. Beispiel: Ich habe in einem Hostel mal irgend so einen schrägen Vogel aus Hamburg kennengelernt. Dürrer, drahtiger Kerl, weil er immer das halbe Jahr als Fahrradkurier gearbeitet hat, um dann wieder ein halbes Jahr lang zu reisen. Der hatte zweifelsohne irgendeine Sehnsucht, aber da war halt auch diese Entwurzelung, die direkt mitschwang. Eines Nachmittags saß der Typ in der Hängematte und hat gezeichnet. Das Bild war ziemlich gut und es kam heraus, dass er gerne Kunst machen würde. Gleichzeitig war das Bild aber eher technisch gut – als "Kunst" taugte es nicht. Da lag also sein Drama: Sein Talent war unbrauchbar, nicht gefragt in Deutschland, denn Kunsthandwerk bzw. Illustration hat keinen rechten Markt bei uns. So jemand wäre in meinen Augen ein Beispiel für eine komplexe Traveler-Figur mit Sehnsüchten. Dann hat er noch von Ayahuasca-Experimenten im Dschungel erzählt und dass man so lange davon kotzt, bis "die Seele rein ist" und so einen Kram. Und ein Franzose hätte 15 Jahre lang gekotzt. Mit solchen kruden Dingen hat er sich beschäftigt, denn das kommt erfahrungsgemäß auch noch dazu: Leute, die oft und lange reisen, verlieren ihre Spannung und ihre Ordnung. Das immer Neue zu sehen, wird zur Routine, die Reize neuer Orte und Sensationen werden immer geringer, sie müssen nie irgendwo sein und irgendwas tun. Langzeitraveler wirken dadurch irgendwann kein bisschen dynamisch mehr, sondern eher wie totale Slacker: Lethargisch, desinteressiert, gelangweilt. Das finde ich in deinem Text nicht, der Typ ist trotz seiner Reiseroutine unter ständiger Spannung. Denke, das passt psychologisch nicht.

Auch diese hypersensiblen Wahrnehmungen. Ich weiß, dass die leider nicht und nur sehr selten auftreten. Es wäre ja ein Traum, wenn man von jeder Reise mit tausenden sprechenden Sinneseindrücken zurückkäme und die nur aufschreiben müsste. Aber Reisen ist Stress pur: Taxi finden hier, einchecken dort, übersetzen, ständig aufpassen, nicht abgezockt zu werden, dauernd muss man sich mit Grundbedürfnissen auseinandersetzen (Hunger, Durst, aufs Klo müssen, schwitzen, müde werden ...). Da schaut man nicht ständig auf die Farbe des Himmels oder die Klarheit der Luft usw. Das passiert manchmal, in seltenen Momenten, die man selbst bei längeren Reisen locker an einer Hand abzählen kann. Und selbst dann sind die Erinnerungen doch nicht lyrisch, sondern eher abstrakt-unkonkret. Und nicht (sinngemäß): "Das Holz roch nach Zimt, über mir war ..." Das sind erkennbare literarische Konstrukte, die man sehr gut kaschieren muss, damit sie nicht stark auffallen.

Auch glaube ich nicht, dass sich ein Influencer ständig mit sich und seinem Tun in einer ewig währenden Reflexion auseinandersetzt, wie in deinem Text: "Wie lange werden meine Posts noch viral gehen?" – Und schon gar nicht in diesem Sprech. Er sieht sich selbst ja nicht als Influencer-Schema; da kommt genau das durch, was ich meinte: Man merkt, dass du hier von außen auf eine Figur schaust. Wenn dieser Mensch reflektieren würde, dann eher wie wir alle. Etwa: "Wie lange komme ich noch mit all dem durch?" – Er benennt doch nicht für sich selbst sein Tun mit Fachbegriffen ("Posts", "viral gehen").

Ich mache hier mal Schluss. Bitte sieh mir nach, wenn ich praktisch keine Textstellen zum Beleg herangezogen habe – kann ich gerne auf Nachfrage noch tun. Abschließend will ich aber noch fragen, warum du deine Texte immer so ins Schematische kippen lässt? Aus deinen Kommentaren als Leser ist doch klar erkennbar, dass du über großes Text-Wissen verfügst. Kann es sein, dass du dich ein wenig hinter deinen Figuren versteckst? Ich meine, immer geht es ums Reisen und die Ferne – das hat wohl einen starken biografischen Bezug. Aber dich selbst spürt man eigentlich nie so richtig in den Texten. Das lässt mich an etwas denken, was Stephen King, von dem ich gar kein Fan bin eigentlich, mal gesagt hat:

The most important things are the hardest things to say. They are the things you get ashamed of, because words diminish them — words shrink things that seemed limitless when they were in your head to no more than living size when they’re brought out. But it’s more than that, isn’t it? The most important things lie too close to wherever your secret heart is buried, like landmarks to a treasure your enemies would love to steal away. And you may make revelations that cost you dearly only to have people look at you in a funny way, not understanding what you’ve said at all, or why you thought it was so important that you almost cried while you were saying it.

Hier muss man jetzt nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen oder einen literaturtheoretischen Diskurs beginnen. Das trifft einfach ins Schwarze: In deinen Texten fehlt mir dieses Risiko. Sie finden immer viele, sogar äußerst kunstvolle Worte. Aber vielleicht wirken sie genau deswegen immer irgendwie flach. Schreib doch mal über deine ganz eigenen Reisen, ob nun konkret oder allegorisch!

Freundliche Grüsse

Henry

 

Jimmy,

danke für die ausführliche Rückmeldung. Ich möchte auf einige Punkte direkt eingehen, weil sie weniger den konkreten Text als ein übergeordnetes Deutungsnarrativ betreffen, das bei deinem Kommentar sehr deutlich durchkommt.


Zum Vorwurf des „Verschwurbelns“:
Der Text arbeitet bewusst mit Verdichtung, Wahrnehmungsverschiebung und innerer Bewegung. Bedeutungen werden nicht vollständig erklärt, sondern erfahrbar gemacht. Das ist kein Mangel an Erdung, sondern eine ästhetische Entscheidung. Literatur muss nicht jedes Gefühl ausformulieren oder jede Aussage einem eindeutigen Sinn unterwerfen. Offenheit ist nicht gleich Unklarheit. Und schon gar kein Zeichen mangelnder Ehrlichkeit.


Zur Frage der Authentizität und des „bildungsbürgerlichen“ Blicks:
Ich halte es für problematisch, Authentizität an soziale Herkunft zu koppeln. Lebenserfahrung ist kein exklusives Gut einer bestimmten Klasse. Wahrhaftigkeit entsteht nicht dadurch, dass man sich auf eine biografische Ausgangsposition beruft. Wenn du schreibst, du seist bildungsfern aufgewachsen und durchklingen lässt, du wüsstest deshalb, was „wahres Leben“ sei, ist das eine persönliche Perspektive, aber kein Maßstab, mit dem sich andere Texte delegitimieren lassen.


Gerade dieser implizite Gegensatz – hier „wahres Leben“, dort angeblich distanzierte Literatur – wirkt weniger wie Textkritik als wie Grenzziehung. Ein Appell an Solidarität gegen bestimmte Formen von Literatur und läuft am Ende darauf hinaus, Leser voneinander zu separieren. Das hier ist nix für euch. Diese Art von Gatekeeping halte ich unabhängig von der Richtung für unfruchtbar.


Zum Vorwurf der Inszenierung:
Der Text reflektiert Inszenierung bewusst: Social Media, Blick, Bilder, Selbstentfremdung. Dass du ihm genau das vorhältst, bestätigt eher das zentrale Thema, als dass es dies widerlegt. Der Erzähler ist sich der Hohlräume, in denen er sich bewegt, bewusst. Das ist keine Koketterie, sondern Teil der Figur.


Ich will ja gar nicht spotten, um Himmels Willen!, das liegt mir fern, aber ein klein wenig finde ich mich in kirolys Kommentar schon auch wieder, nur empfinde ich das im Gegensatz zu ihm handwerklich leider nicht so exzellent erzählt, sondern einfach zu verschwurbelt, zu gewollt, zu konstruiert. Vielleicht bin ich aber auch nicht die Zielgruppe; Paulo Coelho passt da sicher schon eher.

Dass dich der Text nicht erreicht hat, akzeptiere ich ausdrücklich. Nicht jede Literatur ist für jeden Leser gemacht. Ich widerspreche jedoch der Unterstellung, sie sei deshalb unehrlich, elitär oder lediglich Hochglanz. Ablehnung ist legitim, Abwertung über Herkunftsnarrative halte ich für problematisch.

Grüße
Isegrims

 

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