Die Teufel und der Mörder
Ängstlich und schwitzend wagte Jonathan Fries einen Blick durch das verhangene Fenster seines Arbeitszimmers. Angsterfüllt riss er die Augen auf – die Pupillen zitterten – und sprang panisch hinter die schützende Zimmerwand. Er zog den dunklen Vorhang vor und Dunkelheit kehrte in das Zimmer ein, bis er das trübe Licht seines Schreibtisches einschaltete, das wie eine flimmernde Kerze aufflackerte. Im Zimmer stapelten sich verstaubte Bücher, alte Regale bedeckten die Wände und am Boden hatten sich allerlei Akten und Klamotten angehäuft. Mit einem wütenden Ruck warf Jonathan die Bücher vom Tisch, setzte sich auf den knarrenden Stuhl und lehnte sich über die Arbeitsfläche; Schweiß prasselte auf das Holz.
Umzingelt hatten sie ihn, in die Enge getrieben. Konserven und Kaffee neigten sich dem Ende zu, ebenso seine Kraft; seit Wochen hatte er nicht mehr geschlafen. Er konnte nicht! Diese Lügner, wie sie heuchelten, ihren Aufgaben in der Großstadt nachzugehen, wie sie sich aber durch gaffende Blicke verrieten! Langsam erhob er sich vom Stuhl und kniff die blutunterlaufenen Augen zusammen; taumelnd verließ er das Arbeitszimmer und schlich das völlig verdunkelte Treppenhaus hinunter. Kaum ein Sonnenstrahl fiel in das Haus, jedes Fenster, jedes Loch hatte er verriegelt und verschlossen, ertragen wollte er die Blicke seiner Mitmenschen nicht länger. Und obwohl er geradezu leichtfüßig durch das Obergeschoss schlich, knarrte das Holz mit jedem Schritt.
Auch das Wohnzimmer und die Küche hatte er verbarrikadiert, die Haustüre vernagelt, nur einen kleinen Spalt gelassen, um durch das Glas zu sehen, und Sofas und Tische gegen die Glasfront zur Terrasse gestellt, damit niemand auch nur daran dachte, in seine Festung, in die Höhle des Löwen einzudringen. Stolz betrat er die Küche, in der sich verschimmelte Essensreste auf Tellern stapelten und damit einen intensiven Geruch in die Luft stiegen ließen, und setzte Kaffee auf, schnitt sich ein Stück des englischen Weißbrots ab, fraß es gierig und schnaufend und wagte einen Blick zum Küchenfenster hinaus.
Vor seinem Haus erstreckte sich die stark befahrene Hauptstraße der Stadt, sein Haus war eines von vielen einer langen Reihe identischer, blasser Reihenhäuser, zu deren Fuße ein breiter Gehweg verlief. Auf diesem tummelten sich unzählige Fußgänger – Oh, sie wussten es! –, die scheinbar unbekümmert an Jonathans Haus vorbeischritten, den alltäglichsten Dingen nachgehend. Auf der anderen Straßenseite herrschte die Großstadt, große graue Fassaden mit allerlei Läden und Restaurants, bunte Lichter in der Dämmerung, kleine enge Gassen, die zu romantischen Spaziergängen einluden, ein unüberschaubares Dickicht, darüber thronend der gräuliche Wolkenhimmel, der die Sonne verschlang und in den die Rauchsäulen der Zivilisation aufstiegen. Jonathan bemerkte – da war er sich sicher –, wie in unregelmäßigen Abständen die Augen der Passanten auf sein Haus fielen. Sie beobachteten ihn!
Böswillige Augen!
Augen, die ihn durchschauten, die durch diese leichenblasse Fassade des Hauses blickten und nach ihm suchten. Und wenn er sich einen Moment der Unachtsamkeit leistete, dann würden sie sein Haus stürmen, ihn herausziehen, egal wie er sich wehrte, und ihn auf dem Marktplatz für all seine Verbrechen richten! Oh, sie würden ihn nicht verstehen! Sie wussten es!
Seit Wochen untersuchten sie das Haus nach Schwachstellen. Weshalb sonst marschierten sie den Tag lang an seinem Haus vorbei? Sie mussten es wissen! Zitternd warf er den Vorhang des Küchenfensters vor und trank vom Kaffee, der ihm die Zunge verbrannte. Fluchend schmetterte er die Tasse gegen die Tapete, die dort zerberstete, und stolperte über das Telefon, das er vor einem Monat aus der Wand gerissen hatte. Er schrie und rappelte sich wieder auf, dann beschloss er, wieder hochzugehen. Als er sein Arbeitszimmer betrat, war das zittrige Licht der Lampe erloschen und Dunkelheit herrschte in dem muffligen Zimmer. Grummelnd riss er den Vorhang vor und ließ gerade genügend Licht in den Raum, so dass er in den Schubladen seines Schreibtisches nach Kerzen und Streichhölzern suchen konnte. Nach kurzer Kramerei wurde Jonathan fündig und stellte die Kerzen auf den leergefegten Arbeitstisch, zündete sie an und schob den Vorhang hastig wieder vor. Hätten sie sein Haus nicht umstellt und ihre gaffenden Augen auf ihn gerichtet, so würde er sich tatsächlich geborgen fühlen. Wunschdenken!
Im Kerzenschein zog er ein Foto aus der Brusttasche seines Hemdes. Darauf waren drei kleine Kinder zu sehen, zwei Mädchen und ein Junge, die er einmal sehr geliebt hatte. Er setzte sich auf den Stuhl und blickte minutenlang in die starren Gesichter der Kinder. Sie waren sein Ein und Alles gewesen, sein kleiner Kosmos, oh, wie sehr er sie geliebt hatte! Sie hatten ihm das Herz gebrochen! Schweiß trat ihm auf die Stirn und die knochigen Fingern zitterten heftig. Sie hatten damit gedroht, ihn für alle Zeit zu verlassen, seine verbotene Liebe zu den kleinen Engeln den Menschen zu gestehen. Oh, war es denn falsch, einen Engel zu lieben? Welch schreckliche Stunden er durchlebte! Seine geliebten kleinen Freunde, die er stets so gütig in seinem Keller behandelt, die er so liebend gepflegt, die er auf Händen getragen hatte, deren bescheidenen Wünsche er alle erfüllt hatte – sie hatten seine Liebe nicht erwidert, hatten ihn verraten und betrogen. Aus Liebe war Hass geworden – Jonathan brach in Tränen aus –, aus Engeln waren Teufel geworden, sie hatten ihn ausgelacht, als er den Keller in verzweifelter Liebe betrat. Hörner und spitze Zungen hatten sie! Von ihren Köpfen schnappten teuflische Schlangen nach ihm und in der Dunkelheit des feuchten Raumes, der so tief unter der Erde lag, da hatte er gedacht, das Feuer der Hölle selbst gesehen zu haben. Furchterfüllt, ja panisch hatte sich Jonathan zurückgezogen und beschlossen, die Teufel zurückzuschicken, sie für ihren drohenden Verrat bezahlen zu lassen. Die Tür seines Kellers hatte er eines Nachts, als sie schliefen und nicht nach ihm riefen, verriegelt und verschlossen, Möbel und Kartons die Treppen hinunter geschleudert, so dass er ihre Stimmen niemals wieder hören musste. Doch sie alle da draußen, die Bürger, ihre Verbündeten, sie wussten es! Sie kannten ihn, sie wussten von seiner Tat! Sie hatten ihn durchschaut! Oh, diese Teufel!
Das Foto zerknüllte er wütend und warf es auf den Tisch, zwischen die Kerzen, die daraufhin gefährlich wackelten, dann sprang er auf und eilte die Treppen hinab. Etwas hatte ihn aufgeschreckt, aus seinen quälenden Gedanken gerissen; er hatte etwas an der Tür gehört. War der Zeitpunkt gekommen? Würden sie ihn holen, ihn heute richten?
Vorsichtig näherte er sich dem Flur, stieg über zerschellte Teller und Möbelstücke, wagte einen Blick durch die angelehnte Tür und sah durch den milchigen Spalt der Haustür, hinter der sein Schutzwall lehnte, den dunklen Umriss einer Gestalt. Jonathan zuckte zusammen, wuchtete die Tür des Flurs zu und sank zu Boden. Sie waren es! Sie wussten es! Schweiß tropfte auf den Parkettboden, auf die Trümmerteile, durchnässte sein Hemd, das er seit Wochen trug, und Verzweiflung löste den letzten Rest seiner Vernunft ab. Sekunden verstrichen, dann richtete er sich langsam auf und taumelte in die Küche, die sich links der Haustür befand, wo er den Vorhang zur Seite bewegte. Jonathan starrte zögernd aus dem Fenster auf die Wohnungstür, vor der ein großer Haufen alter Tageszeitungen lag, und sah den Mann, der die Treppen zu seinem Hause hinabstieg, ein braunes Paket in der Hand. Jonathan lachte.
Guter Versuch, lachte er triumphierend. Teufel!
Der Moment des letzten Gefechts war nah, schlussfolgerte Jonathan, da man jetzt schon auf plumpe Art und Weise versuchte, in seine Festung einzudringen. Er würde bis zum letzten Atemzug kämpfen, beschloss er. Die Türen des großen Küchenschrankes wurden aus den Angeln gerissen und Jonathan entnahm ihm zwei große Küchenmesser, die er sich in den Ledergürtel seiner Hose schob. Dann griff er nach einem alten Besenstiel, mit dem er die Schädel der Angreifer zertrümmern würde. Er war bereit, sich zu verteidigen.
Als er einen weiteren Schluck des erkalteten Kaffees nahm, stieg ihm ein intensiver Geruch in die Nase. Es war nicht der Geruch des verfaulenden Mülls und der schimmelnden Lebensmittel, die im Haus lagen, nein, es war ein ihm neuer Geruch. Jonathan verließ die Küche, die Nase wie ein scheues Tier in der Luft, schnuppernd und witternd, und schritt ins verbarrikadierte Wohnzimmer. Woher kam dieser Geruch? Verwirrt suchte er die Zimmer ab, schritt behäbig zur Kellertür, öffnete sie langsam und starrte die dunkle Treppe hinab. Die vollständig verbarrikadierte Tür des Kellers war so, wie er sie zurückgelassen hatte; würden sie dort drin auf ihn warten, die kleinen Teufel? Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, hinabzusteigen und nach ihnen zu sehen, sie liebkosen und küssen.
Er stieß einen Schrei aus und warf sich keuchend aus der Tür zurück ins Wohnzimmer, sein Herz schlug, das Atmen fiel ihm schwer. Jonathan ging zurück in die Küche, um noch einmal die Straße zu mustern. Langsam bewegte er den Vorhang zu Seite und sah das Grauen selbst. Teufel, schrie er und wich vom Fenster zurück, der Vorhang zappelte hinter dem Fenster. Auf der Straße standen sie alle, die ganze Stadt, und sie starrten auf seine Festung, hoben die Arme und zeigten mit den Fingern auf ihn, Jonathan Fries, den großen Verbrecher. Autos hielten auf der Straße, ihre Besitzer stiegen aus und gesellten sich zur gaffenden Menschenmenge hinzu; es waren so viele! Jonathan fiel und kroch zur Treppe, als er das erste Mal den feinen Dunst erkannte, der sich an der Decke sammelte. Brüllend kam er auf die Beine und erkannte den Geruch nun: es war kein Dunst, es war Qualm.
Feuer! Die kleinen Teufel hatten ihm die Hölle geschickt, begriff er, um ihn mit Sulfur und Flammen zu verschlingen!
Jonathan stürmte die Treppen hinauf, wo ihm große Flammen und dichte Rauchschwaden entgegenschlugen. Teufel, schrie er erneut und hastete ins Schlafzimmer, da die restlichen Zimmer des Obergeschosses in Flammen standen. Auch hier waren die Fenster verriegelt, das Zimmer in schützende Dunkelheit gehüllt. Er hustete und schnappte nach Luft, dann begann er, das Holz vor dem Fenster mit dem Besenstiel wegzubrechen. Erst lösten sie sich mühsam, doch dann brachen sie weg wie getrockneter Lehm, woraufhin er das Glas dahinter einschlug. Draußen vernahm er das schrille Geräusch von Sirenen und das Kreischen von Frauen, das Brüllen tiefer Männerstimmen. Mich bekommt ihr nicht!
Mit seinen Waffen schwang er sich zum Fenster hinaus und hangelte sich an der Regenrinne an der Hauswand entlang, während hinter ihm die Hausfront mit einem lauten Knall unter gewaltigen Flammen zusammenbrach. Neben dem Feuer erhellte das Blaulicht den bewölkten Himmel. Jonathan lachte, als er auf das Dach kletterte, die blitzenden Augen auf den Schornstein gerichtet. Mit wirrem Blick erklomm er den Schornstein und klammerte sich an ihm fest, zu seinen Füßen die riesige Menschenmenge, all die Autos und mehrere Feuerwehrfahrzeuge, die ihre Leitern ausfuhren und mit Wasser die Flammen bekämpften. Sie wollten ihn also lebend, mutmaßte er.
Diesen Gefallen würde er ihnen aber nicht tun. Feiglinge, schrie er, und kletterte verkrampft der Spitze des Backsteinkamins entgegen. Die Leiter eines Einsatzfahrzeuges kam ihm plötzlich näher, ein Feuerwehrmann stand im Lichte des Feuers auf ihr und streckte dem eingeengten Opfer die Hand aus, unter ihnen bekämpften sich Inferno und Wasser in einem tosenden Gefecht. Jonathan schlug mit dem Besenstiehl um sich, brüllte Unverständliches, warf den Stiel nach ihm und zog schließlich eines der Küchenmesser, mit dem er nach dem Feuerwehrmann schwang.
Lebend bekommt ihr mich nicht, ihr Teufel, brüllte er der Menge entgegen. Ich nehme alles mit ins Grab!
Doch niemand vermochte die Schreie zu verstehen, waren die Sirenen des Löschzugs und die Geräusche der zerberstenden Fassaden zu laut. Das Dach des Hauses brach in sich zusammen und die Flammen verschlangen Ziegel, Schutt und den verwirrten Mann, der dem Feuerwehrmann auf der großen Leiter sein Messer entgegenstreckt und geflucht hatte; der Retter schrie schmerzerfüllt auf, als er vor ihm sah, wie Jonathan Fries in den lodernden Flammen den Tod fand. Der Schrei steckte die versammelte Menschenmenge an und man kreischte und weinte, schlug die Arme über den Köpfen zusammen und fiel zu Boden, denn ihre friedlichen Geister waren nicht auf jene Tragödie vorbereitet gewesen, die sich vor ihren Augen abspielte.
Nachdem der Löschzug der örtlichen Feuerwehr nach einem mehrstündigen Kampf gegen die Flammen gesiegt hatte, machte man sich auf die Suche nach dem ehemaligen Bewohner. Den Mann fand man nie, zur Überraschung der Einsatzkräfte jedoch fand man im Keller die verbrannten Leichen dreier Kinder, nicht älter als sechs Jahre alt, die man seit geraumer Zeit vermisst hatte. Allerdings, so stellte man fest, waren die Kinder längst vor dem Inferno verstorben. Und so kam es, dass das Einzige, was Jonathan Fries mit in sein feuriges Grab genommen hatte, der eigene Wahnsinn war.