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- 30.06.2004
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Die toten Götter
Die Nacht schien Samur auf einmal dunkler, als er es je erlebt hatte. Wolken waren vor den vollen Mond gezogen und der Pfad lag in Finsternis. Schemenhaft hoben sich die krüppeligen Kiefern vor den Felswänden ab. Ihre Zweige wirkten wie skelettierte Hände, die nach ihm griffen. Die Hände des Berges, schlich sich ein Gedanke in seinen Kopf und er schauderte.
Ach Unsinn, rief er sich dann selber zurecht. Es sind Bäume, nichts weiter. Und bald bin ich zu Hause, dann wird alles gut. Er blieb stehen und lauschte in die Nacht. Bis auf das stete Plätschern eines Baches irgendwo am Hang über ihm, lagen die Berge ruhig, beinahe verlassen.
Er triumphierte innerlich. Die Priester schlafen noch, niemand hat etwas bemerkt. Seine rechte Hand fuhr in die Jackentasche. Dort lag es, das Kleinod, sorgsam in ein Tuch geschlagen. Alles war bestens. Ihm würde nichts geschehen.
Etwas grollte in der Dunkelheit. Ein Gewitter? In dieser Jahreszeit? Samur blickte zum Himmel. Keine Sterne zu sehen. Allerdings auch keine Blitze. Sei nicht blöd, im Frühjahr gibt es keine Gewitter in dieser Gegend! Trotzdem begann sein Herz, schneller zu schlagen. Hatte wirklich niemand etwas bemerkt? Was war, wenn er sich geirrt hatte? Was war, wenn die alten Götter nicht so tot waren, wie er immer geglaubt hatte?
Wieder das Grollen. So tief, dass es direkt aus der Unterwelt zu kommen schien. Samur spürte, wie der Boden unter seinen Füßen bebte, als schüttele sich der Berg, um sich von seiner Last zu befreien.
Er blickte nach oben. Weit, so weit hinter ihm, ganz oben auf dem Gipfel, den sie den "Reißzahn" nannten, lag der Tempel. Ein düsterer roter Schein umhüllte ihn, wie Samur ihn noch nie gesehen hatte. Während er noch hinauf sah, grollte es wieder, lauter diesmal. Die Erde schwankte für einige Augenblicke und der rote Schein um den Tempel glühte auf wie eine lodernde Feuerwand. Hastig schlug Samur das Schutzzeichen, holte tief Luft, dann lief er los. Seine bloßen Füße trommelten über den felsigen Pfad, jede Wendung, jede Kehre, jede Wurzel waren ihm hier bekannt. Bald, bald würde er zu Hause sein.
Dann spürte er auf einmal, dass etwas hinter ihm her war. Er wusste nicht, was, doch er konnte die Anwesenheit deutlich wahrnehmen. Es war groß, sehr groß und schnell. Samur rannte. Seine Füße stießen gegen scharfkantige Steine, rissen auf, er spürte das warme Blut an seinen Knöcheln und Waden. Sein Atem ging stoßweise und seine Seite schmerzte höllisch. Das Ding hinter ihm kam näher. Er warf einen Blick über die Schulter zurück, aber da war nur die Schwärze der Nacht. Er war sich nicht sicher, ob das Keuchen, das er wahrnahm, sein eigenes war, oder das des Wesens.
Er stolperte, rang um sein Gleichgewicht und stürzte dann. Der raue Fels riss ihm die Handflächen und Knie auf. Er glaubte zu spüren, wie sich die Dunkelheit um ihn zusammenzog. Das ist wohl das Ende. Er wunderte sich, dass er kaum Bedauern empfinden konnte.
Er kam wieder auf die Füße, rang nach Luft, und rannte wieder los. Seine Beine trugen ihn weiter, immer schneller, doch er wusste, dass es vergebens war.
Dann, plötzlich, war es weg. Die Präsenz, das Ding war verschwunden. Bevor er sich noch wundern konnte, spürte er, wie seine Füße durch Wasser platschten. Er hielt inne. Beinahe übertönte das Rauschen in seinen Ohren und das Hämmern seines Herzens das Donnern des Wasserfalls. Er war am Fluss unterhalb des Dorfes. Der Fluss, der ihnen nicht gehörte. Das Wesen war geflohen. Er war in Sicherheit. Beinahe hätte Samur vor Erleichterung gejubelt. Er spürte, wie eine Träne über seine Wange rann und wischte sie ärgerlich fort. Er hatte es geschafft. Nun konnte nichts mehr passieren. Die toten Götter hatten aufgegeben.
Vorsichtig watete er aus dem Fluss heraus und ließ sich am Ufer nieder. Das kalte Wasser hatte das Blut von seinen Füßen gewaschen. Bedächtig zog er das Stoffbündel aus seiner Jackentasche, schlug das Tuch beiseite und betrachtete den Inhalt. Da lag es, das Kleinod, selbst in der Dunkelheit noch glitzernd. Samur konnte sogar die einzelnen Steine darauf ausmachen. Fasziniert berührte er das kühle Metall, ließ seine Finger den verschlungenen Mustern folgen. Er dachte an das Geld, das ihm der fürstliche Bote dafür versprochen hatte. Jetzt würde alles gut werden.
Er schloss die Hand fest um das Bündel und erhob sich. Vorsichtig suchte er sich seinen Weg in Richtung der Brücke. Da war sie, stabil und Zuversicht verheißend. Samurs Erleichterung schlug in ein Hochgefühl um, als er die rauen Planken unter seinen Füßen spürte.
Ein donnernder Knall zerriss die Nacht. Auf der Mitte der Brücke fuhr Samur herum. Dem riesigen Schatten, der auf ihn zu stürzte, konnte er nicht mehr ausweichen.
***
Immer weiter fiel die Stadt hinter ihnen zurück. Immer wieder blickte Norik zurück, wie um sich zu überzeugen, dass sie noch da war, auch wenn sie er sie nie wieder sehen würde. Norik spürte, wie sich Luaras Fingernägel in seine Handfläche bohrten, so fest klammerte sie sich an ihn.
"Sie werden mir nichts mehr tun?"
Norik drückte ihre kleine Hand und beugte sich zu ihr herunter. "Nein, dir passiert nichts mehr. Wir gehen weit weg, dahin, wo wir in Sicherheit sind. Samur und ich, wir passen auf dich auf. Wir werden arbeiten. Und wenn wir genug Geld haben, dann kaufen wir uns ein Haus, irgendwo". Luara nickte, vertrauensvoll.
Ein Donnern zerriss die Stille, in der Ferne zog ein Gewitter auf.
***
Norik fuhr aus dem Schlaf hoch. Im ersten Moment glaubte er, dass die Welt unterging. Ein Krachen, gefolgt von einem Poltern, die Erde bebte unter ihm. Norik warf einen hastigen Blick zu Luara, die mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett saß, die Decke bis ans Kinn hochgezogen, zitternd nicht nur wegen der Kälte. Noriks Blick flog weiter. Samurs Decken waren zurückgeschlagen, sein Lager verlassen.
Wieder wurde der Boden erschüttert, dann folgte ein lautes Klatschen, als wäre etwas sehr Schweres ins Wasser gefallen. Daraufhin war es ruhig, bis auf ein leises Wimmern aus Luaras Richtung, und Stimmen, die sich draußen erhoben.
Norik schwang seine Beine aus dem Bett und angelte seine Hose vom Hocker. "Du bleibst hier!", zu Luara, dann war er schon angekleidet und aus der Tür heraus.
Die meisten Bewohner der kleinen Siedlung hatten sich auf dem Dorfplatz versammelt. Norik gesellte sich zu ihnen, zitternd in der Kälte der Nacht.
"Was ist passiert?"
"Der Berg ist eingestürzt"
"Der Berggott zürnt"
"Die Mine muss zusammengebrochen sein"
"Was ist nur los?"
"Was sollen wir tun?"
"Lasst uns zum Tempel gehen!"
Die Stimmen, verängstigt, durcheinander, flogen über den Platz. Keiner hörte auf den anderen, Männer, Frauen, alle redeten aufeinander ein. Selbst Erfaran, der Dorfschulze stand bei einer kleinen Gruppe Männer und sprach eindringlich mit ihnen, statt für Ruhe zu sorgen. Erst, als Norik näher kam, besann sich auch Erfaran. Er trat von den Männern zurück, suchte sich einen erhöhten Platz auf einer nahen Mauer.
"Ruhe jetzt, Ruhe!"
Er war nicht umsonst der Schulze. Zwar dauerte es seine Zeit, aber schließlich beruhigten sich die Menschen auf dem Platz genug, um ihn anzuhören. Norik drängte sich ganz nahe an die Mauer vor, um nichts zu verpassen.
"In Ordnung, Ruhe jetzt. Es scheint keine direkte Gefahr zu bestehen. Als Erstes: Ist jemandem etwas passiert?"
Die meisten Dorfbewohner schüttelten den Kopf. Einige schienen schon jetzt etwas beruhigt zu sein. Wenigstens gab es jemanden, der die Sache in die Hand nahm. Norik hob zaghaft die Hand.
"Samur fehlt!" Die Blicke wandten sich in seine Richtung. Unbehagen breitete sich in ihm aus und er verspürte das Bedürfnis, sich rechtfertigen zu müssen. "Ich weiß nicht, wo er ist. Er muss sich davongeschlichen haben."
Was die Stimme des Schulzen nicht vermocht hatte, dafür hatte nun Norik gesorgt: eine drückende Stille legte sich über den Dorfplatz. Norik zog die Schultern hoch und war sich nur zu sehr der Missbilligung bewusst, die ihm entgegenschlug. Selbst Erfaran schwieg und starrte Norik zornig an.
In einer fließenden Bewegung trat ein schmaler Schatten vor den Dorfschulzen. Roane, die Priesterin. Ihre hellblauen Augen schienen Norik zu durchbohren, doch ihre Stimme war leise, beherrscht, beinahe freundlich.
"Wahrscheinlich ist er wieder dem Ruf eures Gottes gefolgt. Ich habe ihm gesagt, dass der Gott der Städter hier oben keine Macht hat, aber er wollte nicht auf mich hören. Er wird sich ins Unglück gestürzt haben. Bestimmt ist es seine Schuld, was auch immer geschehen ist." Sie blickte zum Dorfschulzen auf, und der verstand den Wink.
"Wenn dem so ist, dann fällt es an dich, Norik, als den nächsten Familienangehörigen, die Sache zu untersuchen!" Norik spürte beinahe, wie die Welle der Erleichterung durch die Menge ging, beinahe im selben Maß, wie sein Unbehagen zunahm. Doch gegen den Entschluss des Schulzen konnte er sich nun nicht wehren. Er war jetzt hier zu Hause und das hieß auch, dass er sich den Regeln der Dorfgemeinschaft beugen musste.
Eine kleine Hand schob sich in die seine und er blickte hinunter, direkt in Luaras helle Augen. Natürlich hatte sie nicht auf ihn gehört, und war zu Hause geblieben. Sie hörte ja nur auf Samur. Aber vielleicht war das auch ganz gut. Norik konnte die Hilfe seiner kleinen Schwester jetzt sehr gut gebrauchen. Er seufzte, drückte ihre Hand und verließ langsam den Dorfplatz. Die Stimmen der Dorfbewohner hinter ihm schwollen wieder an, je weiter er sich entfernte.
"Wohin gehen wir?" Luaras Stimme, leise und vertrauensvoll. "Wonach suchen wir?"
"Wir suchen nach Samur." Er brachte die Worte kaum hervor, an dem Klumpen in seinem Hals vorbei. Luara sah ihn für einen Moment unergründlich an, dann nickte sie nur, drückte seine Hand und deutete zur Klippe, die unweit des Dorfes ins Tal abfiel.
"Sehen wir dort nach!"
Norik akzeptierte ihren Vorschlag, ohne weiter nachzufragen. Er hatte noch nie verstanden, woher Luara wusste, was sie wusste, aber ihre Vorhersagen waren nur selten falsch.
Die Leute in der Stadt hatten sie deswegen gefürchtet. „Hexe“, hatten sie sie genannt. Norik hatte es genau gehört, bei der Beerdigung ihres Vaters. Die anderen Trauergäste hatten um sie herum gestanden und geflüstert, dass wahrscheinlich Luara schuld an seinem Unfall war. Sie sei verflucht und würde wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen enden. Das war der Moment gewesen, als Samur beschlossen hatte, die Stadt zu verlassen, und das Glück woanders zu suchen. Viel besser war es nicht geworden. Ja, sie durften hier sein, und sie hatten auch Arbeit in der Mine, aber auch die Dörfler liebten Luaras Gabe nicht. Und Roane hatte sie einmal das Werk von Dämonen genannt. Aber Roane mochte sowieso niemanden aus Samurs Familie.
Samur hatte sich vom ersten Moment an, als sie in das Dorf gekommen waren, mit Roane angelegt. Er liebte es geradezu, zu streiten. Er war der Starke der Familie, Norik und Luara liefen meist einfach nur hinter ihm her und ließen sich von ihm beschützen. Nun war Samur weg, und Norik hatte furchtbare Angst.
Zielsicher führte Luara ihn durch die Dunkelheit. Abseits des Dorfes war die Nacht vollkommen. Nur hier und da tauchten Felsen schemenhaft aus der Schwärze auf, einmal so unvermittelt, dass Norik ihnen nicht hätte ausweichen können, wenn Luara ihn nicht rechtzeitig zur Seite gezogen hätte. Das Rauschen und Gurgeln des Flusses begleitete sie, dann, je näher sie der Klippe kamen, wurde es vom Donnern des Wasserfalls übertönt. Irgendetwas, so bemerkte Norik, klang falsch an dem sonst so vertrauten Geräusch. Dann, plötzlich, trat der Mond hinter einer Wolkenbank hervor und tauchte die Berglandschaft in einen silbrigen, unwirklichen Schein.
Sie standen unmittelbar an der Rinne, die sich der Fluss in die Felsen gegraben hatte, bevor er sich viele Meter tief ins Tal stürzte. Die Brücke, die sich einige Meter weiter über das Wasser gespannt hatte, war verschwunden, die massiven Holzbalken zersplittert wie dürre Äste, einige Bohlen verstreut am Ufer. Und dort, wo sich der Fluss über die Kante stürzte, hatte sich ein übermannsgroßer massiver Felsbrocken verkeilt. Beinahe schwerelos schien er über dem Wasserfall zu schweben, gerade außerhalb ihrer Reichweite. Luara drückte Noriks Hand und sog tief die Luft ein.
"Er ist auf der Brücke gewesen", wisperte sie, dann brach sie in Tränen aus.
Norik, der nicht über Luaras Gaben verfügte, brauchte einige Momente, bis er verstand, was sie meinte.
"Du glaubst ... Samur war hier? Und dann ... ", er wagte nicht weiter zu sprechen, als könne er durch sein Schweigen das Schreckliche ungeschehen machen. Luara schluchzte nur weiter und antwortete ihm nicht.
"Der Felsen muss aus der oberen Klippe gebrochen sein", führte er schließlich doch seinen eigenen Gedanken weiter. "Vielleicht hat der Fluss ihn mitgerissen, vielleicht war es das Schmelzwasser ... " Er spürte, wie auch ihm die Tränen kamen. Luara entzog ihm ihre Hand, lief näher zum Fluss, warf sich auf den Boden und weinte, als könne sie dadurch Samur zurückrufen. Norik biss sich fest auf die Unterlippe, um es ihr nicht gleich zu tun. Wenn sie Recht hatte, dann war er jetzt der Älteste und musste die Verantwortung für die Familie tragen. Auch wenn diese nur noch aus ihm und Luara bestand. Ein hohles Gefühl des Verlustes wollte sich ihm bemächtigen, er drängte es zurück. Samur war tot, er zweifelte eigentlich nicht daran, und nun musste er sich Gedanken machen, wie es weitergehen sollte. Für Trauer war jetzt keine Zeit. Die konnte er Luara überlassen.
Langsam ging er zu ihr und griff nach ihrem Arm. "Luara, komm jetzt besser! Lass uns ins Dorf zurückgehen! Die warten sicher schon auf unseren Bericht." Aber Luara riss ihren Arm los, rollte sich auf dem Boden zusammen und schluchzte. Ratlos stand Norik neben ihr, sah auf sie herab, dann, weil seine Augen auch schon wieder feucht wurden, ließ er seinen Blick weiter schweifen. Der Felsen, der Samur getötet hatte, fiel ihm wieder ins Auge. Unheilverkündend ragte er aus dem Fluss auf, wie ein Mahnmal. Und während Norik ihn noch ansah, wusste er auf einmal, was ihm an dem Geräusch des Wasserfalls so seltsam vorgekommen war: es war leiser. Der Felsen ließ nicht so viel Wasser abfließen, wie gewöhnlich.
Erschrocken packte er Luaras Arm und riss sie beinahe grob auf die Füße. "Luara, schau!" Erstaunlich schnell versiegte Luaras Schluchzen, sie richtete sich halb auf und sah ebenfalls in Richtung des Felsens. Norik sah, wie ihre Augen weit wurden. Sie hatte mal wieder viel schneller verstanden, als er.
"Der Fluss wird überfließen", wisperte sie. "Das Wasser wird ins Dorf kommen". Und dann, mit einer beinahe schon unheimlichen Ruhe, blickte sie Norik direkt in die Augen. "Norik, die Mine."
***
Wenig später war das gesamte Dorf am Wasserfall versammelt. Fackeln und Sturmlaternen erhellten die Nacht und zeigten nur zu deutlich, was Norik schon beinahe vermutet hatte: das Wasser im Flusslauf war bereits angestiegen. Nicht viel, aber doch deutlich. Die meisten Dorfbewohner standen nur betroffen am Ufer, in kleinen Grüppchen, leise beratschlagend. Vier der kräftigsten Minenarbeiter hatten sich dazu aufgerafft, in das eisige Schmelzwasser zu steigen, um zu versuchen, den Felsen aus dem Weg zu räumen. Bisher hatten sie noch keinen Erfolg gehabt.
Norik stand mit Luara an der Hand bei Erfaran und Roane. Beide sahen auf ihn herunter, als sei der Felsen einzig und alleine Noriks Schuld.
"Vielleicht ... wird das Wasser ihn fortspülen, wenn sich genug angesammelt hat", schlug Norik zaghaft vor. Erfarans Miene wollte sich schon aufhellen, da fuhr Roane dazwischen.
"Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Dann läuft die Rinne voll und fließt über. Und wenn das Wasser erst mal im Dorf ist, ist es auch im Stollen. Und wenn es erst mal dort ist, können wir uns auch gleich die Klippe hinunter stürzen, dann ist es nämlich mit dem Bergbau vorbei. Und das nur, weil dein dummer Bruder nicht auf mich hören wollte!"
Betreten sah Norik zu Boden. Er wusste genau, was Samur jetzt gesagt hätte. Er hätte Roane ins Gesicht gelacht und sie in den Tempel zu ihren toten Göttern geschickt. Aber Norik war nun mal nicht Samur, er hatte einfach nicht den Mut dazu. Außerdem war er sich gar nicht so sicher, ob die alten Götter wirklich tot waren. Konnte er sich denn sicher sein, dass der Felsen nur ein Zufall war?
"Wir könnten die Eingänge verschließen, wie bei dem Regen letztes Jahr", Luara meldete sich zum ersten Mal wieder zu Wort. Norik biss sich auf die Lippe und drückte erschrocken ihre Hand, aber glücklicherweise verkniff sich Roane diesmal ein Kommentar. Erfaran lächelte auf Luara herunter und wiegte dann sein Haupt.
"Gegen Regen mag das helfen, meine Kleine, aber wenn das Wasser erst mal im Dorf steht ... Außerdem sind wir seit dem Einsturz vor zwei Wochen sowieso schon im Verzug. Fürst Sylvanus schert sich nicht um Unglücke, wenn er nur seine Pacht bekommt. Und wenn er die nicht bekommt, jagt er uns auch fort. Es gibt genug Unfreie, die gerne für ihn in die Mine steigen werden.
Nein, der Felsen muss weg!" Er sah zum Fluss. Die Männer waren inzwischen aus dem Wasser gestiegen und hatten sich ihrer feuchten Kleider entledigt. Zitternd standen sie in Decken gewickelt da. Der Stein hatte sich keine Handbreit bewegt. Abrupt wandte Erfaran sich an Roane. "Geh und befrage die Götter. Wenn sie uns mit diesem Felsen strafen wollen, dann muss es eine Möglichkeit geben, sie zu versöhnen!"
Roane schenkte ihm einen kühlen Blick, der nur zu deutlich zeigte, was sie davon hielt, als Priesterin Anweisungen von einem einfachen Dorfschulzen entgegen zu nehmen, wandte sich dann brüsk um und schritt in Richtung ihres kleinen Schreines davon.
***
Erfaran hatte die meisten Dorfbewohner wieder nach Hause geschickt. Zwei Männer hielten Wache am Wasserfall, um Alarm zu geben, wenn das Wasser überzufließen drohte. Oder, wie Norik insgeheim hoffte, wenn der Felsen doch noch aus der Rinne gespült wurde.
Mit Mühe hatte er Luara dazu gebracht, wieder ins Bett zu gehen. Sie weinte nun nicht mehr, aber sie war nur schwer davon zu überzeugen gewesen, dass Norik sie wirklich nicht brauchte. Norik war sich da ja selber nicht sicher. Aber wie sah denn das aus, wenn selbst seine kleine Schwester auf ihn aufpassen musste.
Er selber hatte sich seinen langen Dolch umgegürtet und sich dann vor dem Schrein eingefunden. Erfaran erwartete ihn bereits schweigend, fröstelnd, die Hände in den Jackentaschen.
Aus den offenen Fenstern des Schreines drangen dichte Schwaden, und der Geruch von schwerem Weihrauch hing in der Luft. Roanes klare Stimme sang Worte, die Norik nicht verstand. Undeutlich hoben sich hinter dem Schrein die Eingänge zu der Kupfermine ab, gähnende Mäuler im Felsen. Auch die Mine gehört den alten Göttern! dachte Norik bei sich und schauderte. Samur hätte ihn für diesen Gedanken geschimpft.
Der Gesang brach ab und kurz darauf trat Roane in die Tür des Schreins. Sie war noch blasser, als sonst, ihre Züge starr vor Angst. Norik hatte sie noch nie so gesehen. Als sie bemerkte, dass sie erwartet wurde, riss sie sich sichtlich zusammen. Schutzsuchend berührte sie das Abzeichen an ihrer Kutte, dann ging sie gemessenen Schrittes zu Erfaran und Norik hinüber.
"Die Götter sind sehr erzürnt", ihre Stimme klang heiser. "Samur hat sie beleidigt. Sie wollten mir nicht sagen, wodurch. Sie wollten eigentlich gar nicht mit mir sprechen. Sie haben beschlossen, das Dorf und die Mine zu vernichten."
Norik sah, wie aus Erfarans Gesicht alle Farbe wich. Er wollte etwas sagen, doch Roane bedeutete ihm, dass sie noch nicht geendet hatte.
"Ich habe um Gnade gefleht. Noch nie habe ich mich vor ihnen so erniedrigt. Sie konnten nicht verstehen, dass Samur nicht für uns alle gehandelt hat. Sie glauben noch an die Dorfgemeinschaft. Doch sie hatten ein Einsehen. Sie werden uns verschonen, wenn einer von Samurs Blut den Frevel wieder gutmacht. Es bleibt nicht viel Zeit, sie werden nicht zögern." Sie sah auf Norik herunter und er war überrascht, Sorge und Mitleid in ihrem Blick zu sehen. "Ich weiß, Norik, dass ihr nur den Einen verehrt. Und ich weiß, dass Samur mich verachtete. Aber ich bitte dich, um des Dorfes willen, tu, was die alten Götter sagen. Du musst die Alten versöhnen, oder das Dorf ist dem Untergang geweiht! Schließlich gehört ihr jetzt zu uns."
Die Alten versöhnen. Norik spürte die Angst in sich aufsteigen. Wie sollte er Götter versöhnen, von denen er nichts wusste? Samur hatte immer gesagt, sie seien tot. Dennoch, in diesem Moment spürte er, dass es nicht so war. Sie lebten, und sie waren zornig. Norik konnte ihren Zorn in der Luft fühlen, ihre Gegenwart war erdrückend. Langsam nickte er. "Ich tue, was ich kann", würgte er hervor, dann drehte er sich rasch um. Er konnte es nicht mehr ertragen, Roanes Angst zu sehen.
***
Die Nacht war schon fast vorüber, als Norik abermals den Wasserfall erreichte. Die Gipfel auf der gegenüberliegenden Talseite begannen, sich rötlich zu färben. Der Felsen klemmte unverändert in der Rinne, das Wasser war weiter angestiegen. Unweit des Felsens hatten die beiden Wächter ein kleines Feuer entzündet. Wie Schattenrisse hoben sich ihre Gestalten vor dem Schein ab.
Norik wusste nicht recht, wo er beginnen sollte. Was hatte Samur getan, um die alten Götter zu erzürnen? Er erinnerte sich dunkel, dass sein Bruder ihm vor einigen Tagen erzählt hatte, dass ihre Not bald vorbei sein würde. Bald würden sie nicht mehr in den Stollen hinunter müssen. Er hatte Norik nicht von seinem Plan erzählt, denn Samur wäre nicht er selber gewesen, wenn er nicht alles alleine gemacht hätte. Der einzige Anhaltspunkt, den Norik hatte, war die Stelle, an der Samur von den Göttern gestraft worden war.
Unschlüssig stand Norik an der Rinne und starrte hinein. Er konnte durch das klare Wasser bis auf den Grund sehen. Hier ungefähr musste Samur gewesen sein, als der Felsen ihn getroffen hatte. Norik biss sich auf die Lippen, als er merkte, dass ihm schon wieder Tränen in die Augen schossen.
Etwas Glitzerndes, unweit der Brückentrümmer, zog seinen Blick auf sich. Langsam trat er näher. Einer der Brückenpfeiler hatte sich zwischen einigen Felsen in der Mitte des Flusses verkeilt. Und darum schwang sich eine glänzende Kette, daran irgendeine Art Schmuckstück, das silbrig in den ersten Strahlen der Morgensonne schimmerte. Norik beugte sich weiter über das Ufer, um das Ding näher zu betrachten. Es schien eine Art Amulett zu sein, silbern, besetzt mit Edelsteinen, soviel konnte er verschwommen ausmachen. Die Kette war lose in den gesplitterten Pfeiler geklemmt und der Anhänger bewegte sich in der Strömung wie ein kleiner, kostbarer Fisch. Vielleicht bildete er es sich ja nur ein, aber Norik vermeinte, darauf das Augensymbol zu erkennen. Das Zeichen der Alten!
Er richtete sich auf und überlegte. Normalerweise hätte er einfach bis zu den Felsen waten können, aber jetzt, wo der Fluss so angeschwollen war, war das unmöglich. Er würde schwimmen müssen, wenn er das Schmuckstück retten wollte. Er war sich nicht sicher, warum er es tun sollte. Aber es gehörte den Alten und vielleicht war es das, wonach sie verlangten. Er konnte sich auch nicht erklären, wie es sonst hierher gekommen war, wenn nicht Samur es bei sich gehabt hatte. Kurz entschlossen entledigte er sich seiner Kleider und watete ins Wasser.
Es war noch kälter, als er erwartet hatte, und sehr viel tiefer. Beinahe sofort spürte er, wie das Gefühl aus seinen Händen und Füßen wich. Er musste sich wirklich beeilen. Er watete weiter und verlor gleich darauf den Grund unter den Füßen. Entschlossen stieß er sich vom Ufer ab und schwamm los.
Die Strömung, obgleich schwächer als sonst, zerrte an seinem Körper, drängte ihn von seinem Weg ab, trieb ihn auf den Wasserfall zu. Seine Arme begannen, taub zu werden. Ich muss dieses Amulett erreichen, ich weiß es einfach, verbissen setzte Norik seinen Weg fort. Eigentlich war es nicht weit, über den Fluss, aber es kam ihm vor, als wäre er eine Ewigkeit geschwommen, bevor er den Felsen unter seinen tauben Finger spürte. Erleichtert zog er sich auf die Steine, vor Kälte schlotternd.
Die Kette war nur lose eingeklemmt, mit einem Handgriff hatte Norik sie befreit und das Amulett in Sicherheit gebracht. Es war so groß, wie seine Handfläche und funkelte verheißungsvoll im Morgenlicht. Jetzt konnte er es auch näher betrachten. Ein Blick auf die verschlungenen Linien und die kostbaren Steine genügte ihm, um zu wissen um was es sich handelte. Immer und immer wieder hatte Roane bei ihren Bekehrungsversuchen die alten Geschichten zum Besten gegeben. Wie die alten Götter früher durch die Berge wandelten. Und wie sie, bevor sie gingen, den Menschen der Berge ein Geschenk überließen, einen Talisman aus den Schätzen der Erde: Silber, Kupfer, Edelsteine. Von jeher wurde das Geschenk der Götter im Gipfeltempel bewahrt und behütet. Es bezeugte, dass die Menschen im Schildwall geduldet waren. Vielleicht schenkte es ihnen keinen Reichtum, aber immerhin Sicherheit.
Ich könnte es einfach nehmen und verkaufen, fuhr es Norik durch den Kopf. Dann könnten Luara und ich hier weg. Er schämte sich für den Gedanken, gleichzeitig spürte er die Verlockung. Hier im Dorf waren sie nicht glücklich. Sie könnten einfach in eine andere Stadt gehen, wo man von Luaras Fähigkeiten nichts wusste. Unbewusst musste Norik lächeln. In Sicherheit sein …
Doch zuerst musste er wieder über den Fluss, zu seiner Kleidung zurück. Luara konnte er dann immer noch holen. Als er sich das Amulett überstreifen wollte, bemerkte er, dass die Kette zerrissen war. Vielleicht war das beim Aufprall des Felsblockes geschehen, vielleicht schon vorher, Norik wusste es nicht. Kurzerhand schlang er sich die Kette um die linke Hand, so dass der Anhänger in seiner Handfläche lag, und stieg wieder ins Wasser.
Die Strömung schien zugenommen zu haben, oder vielleicht hatte er auch einfach keine rechte Kraft mehr in seinen Armen. Kaum hatte er das Ufer hinter sich gelassen, fühlte er sich gepackt und unerbittlich flussabwärts gezogen. Verzweifelt kämpfte er gegen die Strömung, holte weit mit Armen und Beinen aus, strampelte dem anderen Ufer entgegen. Der Fluss war gnadenlos. Als wolle er seine Bemühungen lächerlich machen, trieb er Norik nur noch schneller auf den Wasserfall und den Felsen zu. Norik versuchte nicht, sich vorzustellen, was geschähe, wenn er gegen den Felsen geschleudert würde. Vielleicht würde der Aufprall den Stein ja lösen.
Unvermittelt wurde er von einer Strömung unter die Oberfläche gedrückt. Erschrocken schnappte er nach Luft, als die eisigen Wellen über ihm zusammenschwappten, und bekam sofort Wasser in Mund und Nase. Hilflos rudernd versuchte er, die Oberfläche wieder zu finden. Seine suchenden Finger schabten lediglich über den felsigen Grund des Flusses. Er hatte völlig die Orientierung verloren. Gleich würde er gegen den Stein prallen.
Eine leise Stimme drang durch das Wasser zu ihm. "Wem dienst du?", wisperte sie. "Wem dienst du?" Panisch sah Norik sich um, aber um ihn herum war nur eisiges dunkles Wasser. "Wem dienst du?", kam die Stimme wieder, drängend.
Ich diene dem Einen, schoss es ihm durch den Kopf.
Die Stimme lachte höhnisch. "Bist du dir sicher? So sicher, dass du für ihn sterben wirst?“
Norik spürte, wie die Strömung drängender wurde. Die Luft ging ihm aus. Gleichzeitig löste sich langsam die Kette, die er um seine Hand gewunden hatte. Erschrocken griff Norik fester zu.
"Bist du dir wirklich sicher?" Die Stimme war nun nicht mehr leise, dröhnte in seinen Ohren, brachte seinen Kopf zum Schmerzen.
Nein, ich bin mir nicht sicher, der Gedanke kam ohne sein Zutun.
Die Stimme lachte wieder. "Wir werden sehen."
Dann plötzlich wurde er wieder nach oben gehoben. Er durchbrach die Oberfläche, schnappte nach Luft, als wäre es das letzte Mal in seinem Leben. Noch einmal riss der Fluss spielerisch an der Kette, trieb das Amulett ein Stück weiter auf den Wasserfall zu, dann wurde Norik an Land gespült.
Zitternd und um Atem ringend lag er auf dem bloßen Stein, nur einige Meter von der Klippe entfernt. Er spürte kaum noch, als ihn starke Hände anhoben und ihn zum Feuer trugen.
***
Er saß zu Hause am Herdfeuer und beobachtete Samur und Roane. Luara neben ihm schmiegte sich an ihn, die Augen aufgerissen, wie immer, wenn sie Angst hatte.
Zorn lag in Samurs Stimme. "Ich sage dir, Roane, die alten Gesetze sind mir gleich. Wenn meine Schwester nicht heiraten will, dann muss sie es auch nicht. Der Eine gab uns Verstand, unsere Entscheidungen alleine zu treffen!"
"Bei uns gelten die Gesetze der Alten", Roane war nicht weniger aufgebracht. "Und die kleine Hexe ist im heiratsfähigen Alter!"
"Geh zu deinen toten Göttern und lass uns in Ruhe"
Samur verschwamm vor seinen Augen, rückte auf einmal in weite Ferne.
"Lass uns in Ruhe", klang es noch mal zu Norik herüber, aber es war kaum mehr, als ein Flüstern im Wind.
***
Die Wegkreuzung lag in hellem Sonnenschein, als Norik sie erreichte. Er war lange ohne Bewusstsein gewesen. Noch immer fühlten sich seine Arme und Beine merkwürdig taub an. Aber er lebte und das Amulett ruhte sicher in seiner Jackentasche.
Er war im selben Moment erwacht, als der Fluss über das Ufer zu treten begann. Ein dünner Wasserfilm zwar erst, aber ein deutliches Anzeichen, dass er sich beeilen musste. Die alten Götter waren nicht für ihre Geduld bekannt. Hastig hatte Norik sich bei den Wächtern bedankt, war in seine Kleider geschlüpft, hatte den Fluss oberhalb des Dorfes an der Furt überquert und war losgelaufen, in Richtung Tempel. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an seinen Plan, das Amulett zu verkaufen. Die alten Götter waren nicht tot, und wer hier in den Bergen leben wollte, der musste sich ihren Regeln beugen, ob es Norik nun gefiel, oder nicht. Er hatte ja gespürt, was sie vermochten. Samur war es, der nun tot war, nicht die Berggötter. Außerdem konnte Norik die Dörfler nicht dem Tod überlassen. Verantwortung und Liebe, der Grundsatz des Einen kam ihm in den Sinn. Beinahe wünschte er sic, er hätte ihn nie gehört.
Norik hielt an der Kreuzung inne, um Luft zu schöpfen. Beinahe den ganzen Weg hatte er im Eilschritt zurückgelegt. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihm noch blieb. Es konnte nicht mehr viel sein. Aber er musste einige Momente verschnaufen. Der Weg zum Gipfel war steil und unwegsam, er würde alle seine Kräfte brauchen.
Erschöpft ließ Norik sich auf einen Baumstumpf sinken. Tief unter sich konnte er das Dorf erkennen. Kleine Gestalten huschten umher, schleppten Säcke und Balken, es sah aus, wie in einem Ameisenhaufen. Die Sonne schickte einen Lichtreflex über den Boden, auf dem sie sich bewegten und zeigte Norik damit, dass das Wasser das Dorf schon erreicht hatte. Mühsam kam er wieder auf die Füße und machte sich an den Aufstieg.
***
Grell schimmerte die Sonne auf dem weißen Fels. Der Pfad dehnte sich endlos vor Norik. Immer weiter wand er sich die schroffen Flanken des Reißzahns empor. Erschöpft setzte Norik immer weiter einen Fuß vor den anderen. Es ist nicht mehr weit, es ist gar nicht mehr weit. Immerzu ging ihm die Litanei im Kopf herum. Ob das Dorf schon völlig unter Wasser stand? Ob der Fluss schon in die Mine gelaufen war? Norik blieb einen Moment lang stehen und blickte zurück. Von dort, wo er war, konnte er die Siedlung nicht mehr sehen.
Schritte auf dem Pfad ließen ihn aufblicken. Jemand kam in ziemlicher Eile den Weg hinunter. Ein Mann in der Kleidung der fürstlichen Boten, das rote Hütchen mit der Fasanenfeder keck in den Nacken geschoben, das blonde Haar lang und offen. Norik kannte ihn vom Sehen. Es war der Bote, der bei ihnen immer die Pacht eintrieb. Samur hatte oft mit ihm gesprochen. Norik vermutete, dass er ihn um eine Arbeit am Fürstenhof gebeten hatte. Flüchtig wunderte er sich, dass die Priester im Tempel auch Pacht zahlen mussten, doch eigentlich konnte ihm das ja gleich sein. Er tat einen Schritt zur Seite, damit der Mann ihn passieren konnte.
Doch der ging gar nicht vorbei. Als er Norik gewahr wurde, stutzte er, betrachtete ihn nachdenklich, und kam dann schnelleren Schrittes zu ihm heran. Direkt vor Norik blieb er stehen und sah ihn unverwandt an. Norik hatte weitergehen wollen, doch das erschien ihm jetzt unhöflich. Deswegen blieb er stehen, senkte den Blick zu Boden und wartete ab, was der Bote von ihm verlangte. Vielleicht wollte er ihm ja nur mitteilen, wann es wieder Zeit wurde, für die Pacht.
"He, du", schnauzte der Mann schließlich. "Bist du nicht der Bruder, von diesem Jungen aus dem Dorf? Diesem Stadtmenschen, ... Samur?"
Etwas überrascht blickte Norik auf. Er war sich nicht bewusst gewesen, dass Samur dem Boten von ihm erzählt hatte.
"Na, wird's bald? Oder bist du stumm?"
Langsam schüttelte Norik den Kopf. "Nein Herr"
"Was nein, du bist doch sein Bruder, oder nicht?"
"Ja, Herr"
"Na dann sprich auch, wenn man dich fragt. Hör zu, dein Bruder wollte mich heute Morgen am Fuße des Wasserfalls treffen, aber er ist nicht aufgetaucht. Weißt du, wo er sich herumtreibt?"
Ganz langsam dämmerte eine Erkenntnis in Norik herauf. Wie oft hatte Samur in letzter Zeit davon geredet, dass sie endlich das Dorf verlassen sollten. Verschwinden, bevor Roane ihren Willen durchsetzte und Luara verheiratet wurde.
"Nun, wo steckt Samur?"
"Samur ist tot", es war schwierig, diese Worte heraus zu bringen. Die Vorstellung, dass Samur nicht mehr bei ihm war, hatte immer noch keinen rechten Zugang zu Norik gefunden. "Ein Felsen hat ihn erschlagen".
"Oh", der Bote zwang sein Gesicht zur Betroffenheit. Es gelang ihm nur mittelmäßig. Dann sprach er etwas zu hastig weiter. "Habt ihr ihn gefunden? Ich meine, seinen Körper?" Dann bemerkte er Noriks abweisenden Blick. "Ich meine, hör zu, dein Bruder sollte etwas für mich besorgen, ein Kleinod. Ich habe ihm viel Geld versprochen. Das heißt, nicht ich, sondern eigentlich will es der Fürst haben, verstehst du. Und nun wollte ich wissen, ob dein Bruder es bei sich hatte. Ich meine, vielleicht hast du es ja gefunden. Warum solltest du sonst auf dem Weg zum Tempel sein, nicht wahr? Ich weiß doch, dass es nicht mehr dort ist, ich habe mich erkundigt."
Norik spürte Abscheu gegen den Mann in sich aufsteigen. Trotzdem nickte er, beinahe widerwillig. "Es ist ein heiliges Symbol, ich bringe es dahin zurück, wo es hingehört"
Der Mann sah nun belustigt aus. "Ach komm schon, du bist doch ein Stadtkind. Du glaubst doch nicht an diese alten Berggötter. Hör zu, ich gebe dir das Geld, dass ich deinem Bruder geben wollte, wenn du mir das Amulett aushändigst, ja? Ich kann sogar dich und deine kleine Schwester - du hast doch eine Schwester, nicht? - mitnehmen zum Fürsten. Der hat immer Bedarf an fähigen Leuten. Da hättet ihr auch Ruhe vor diesen ... diesen Bergbarbaren." Er lachte.
Norik sah zu ihm auf. Lange blickte er in das gepflegte, glattrasierte Gesicht, ließ seinen Blick über die glatt gekämmten Haare zu der sauberen Samtkleidung schweifen. Dort war seine Zukunft. Frieden und Wohlstand für Luara und ihn. Sie würde nicht mehr verfolgt werden und sie musste auch nicht heiraten.
"Wem dienst du?", flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Diesmal kannte er die Antwort. Ich diene dem Einen. Dem Einen, den Alten und dem Dorf.
Langsam schüttelte er den Kopf. "Das Dorf ist in Gefahr", sagte er. "Wenn Ihr das Amulett wollt, dann holt es Euch beim nächsten Mal selber!" Damit schob er den Mann beiseite und setzte seinen Weg nach oben fort.
***
Wenig später riss sich der Felsen am Wasserfall urplötzlich los, und in einem gewaltigen Strom schoss das angestaute Wasser ins Tal hinunter.
Auf dem Tempelvorplatz stand Norik und weinte. Die toten Götter hatten gewonnen.