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Die Träumer oder Der Dritte
Die Träumer
oder
Der Dritte
Viktor öffnete die Augen. Dunkelheit umgab ihn. Er tastete nach dem Wecker, fand ihn an der üblichen Stelle, fand den Schalter seiner Nachttischlampe. Es war viertel nach drei. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Es war doch nur ein Albtraum gewesen. Er lachte. So etwas Verqueres konnte auch nur er träumen. Von einem Typen, der von ihm, Viktor, träumt.
Thomas schreckte hoch. Durch das Rollo fiel das frühe Sonnenlicht in sein Zimmer, durchschnitt es mit langen Streifen aus dunkel und hell. Was hatte er gerade geträumt? Hatte er tatsächlich von jemandem geträumt, ein junger Mann, so wie er, der auch träumte? Dessen Traum ihn, Thomas, zum Inhalt hatte? Wie konnte das sein? Sein Blick suchte nach der Armbanduhr, die irgendwo auf dem Boden liegen musste. Als er sie fand, ließ sich Thomas aus dem Bett rollen, kam ihr mit dem Gesicht nah genug und bemerkte, dass er keine Zeit mehr für hoch philosophische Gedanken Traumdeutung betreffend hatte. Schnell schwang er sich auf, zog sich um, machte sich auf den Weg in die Uni.
Als er erwachte, grinste Viktor breit. Da war er wieder, der Traum von letzter Nacht. Dieser Typ, der von Viktor geträumt hatte, er hatte den Weg wieder in dessen Hirnregionen gefunden. Und er hatte wieder von Viktor geträumt, wie er von ihm geträumt hatte. Konnte das sein? Viktor fühlte sich an einen Buchumschlag erinnert, ein Kinderbuch, ein Mädchen sitzt auf einem Baum und liest eben dieses Buch, dessen Umschlag sie ziert, so dass das Bild immer kleiner wird und im Unendlichen verschwindet. Der Effekt war aus der Technik bekannt, wenn man zwei Spiegel voreinander stellt, oder eine Kamera auf einen Fernseher richtet, der das Bild ebendieser Kamera abbildet. Ein illustrer Gedanke, dass die Menschen sich gegenseitig erträumten, ja, sehr lustig. Doch nun los, der Tag war schon angebrochen, die Arbeit wartete.
Thomas nahm das Kissen und vergrub seinen Kopf darin. Er hatte wieder von diesem Mann geträumt, der von ihm geträumt hatte, dass Thomas ihn träumte. Oder erträumte er ihn? Eine endlose Schleife, ein nicht zu durchbrechender Kreislauf des Erträumens und erträumt werdens? Thomas existierte, weil er erträumt wurde, von einem Mann, der existierte, weil er von Thomas erträumt wurde? Nein, er schüttelte den Kopf, das konnte nicht sein, welch ein Wahnsinn. Und doch, was der Erträumte von Thomas geträumt hatte, das waren genau die Erlebnisse, die Thomas, soweit er sich erinnern konnte, gestern gehabt hatte!
Nachdenklich setzte sich Viktor aufrecht hin, lehnte sich gegen die Wand, legte sein Kopfkissen in den Nacken. Was der erträumte Typ gedacht hatte, konnte das wahr sein? Dass sie sich gegenseitig erträumten? Welch ein Weltbild wäre dies? Und die Sache mit den erträumten Erlebnissen, Erfahrungen, Erinnerungen? Er wusste, Träume entstammten aus dem Unterbewusstsein. Waren er und dieser Typ unterbewusst irgendwie miteinander verbunden? Aber dies widersprach ganz und gar dem gesunden Menschenverstand. Man existierte doch nicht, weil man erträumt wurde. Oder?
Es war also wirklich so. Thomas zuckte beim Erwachen zusammen. Es musste so sein. Wie sonst waren diese seltsamen Gedanken und Träume zu erklären? Aber warum war dieser Kreislauf durch ihr Bewusstsein, dass sie sich erträumten, durchbrochen? Und würde dies nicht bedeuten, dass sie wachen? Wenn sie nun aber wachen und nicht träumen? Somit aber den jeweils anderen nicht erträumten? Somit aber auch nicht erträumt würden? Dies musste bedeuten, dass sie beide nicht existierten! Aber da sie nun existierten, da sie sich ihrer Existenz ja bewusst waren, jedoch nur in Träumen existieren konnten, musste es nicht einen Dritten geben? Einen Dritten, der sie beide erträumte? Wer war dieser Dritte? Wer erträumte ihn?
Viktor schaute auf die Uhr. Es war halb vier. Was für ein blöder Traum. Er lächelte und ließ den Kopf im Kissen versinken. Dann schaltete er die Nachttischlampe aus, drehte sich auf die Seite, schloss die Augen, schlief ein.