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Die Tulpen und der Tod
Als er erwachte, schien das Licht fahl durch die klaren Fenster. Er blieb liegen und sah verträumt zu, wie der weiße Vorhang unter der Heizungsluft sanft wogend tanzte. Diese besondere Tageszeit, zwischen Schlaf und Wachsein, in der man sich vorstellen konnte, dass alles lebendig war, die mochte er am liebsten. Er hörte das Parkett knarzen, das Wasser durch die Heizungsrohre sprudeln. Die Wohnung machte sich bereit für einen neuen Tag. Der Tag, der sein letzter sein würde.
Es war eine sanfte Erkenntnis, die ihm im Schlaf gekommen war. Der Tod, dachte er, sollte erschreckend sein. Doch nun, da er spürte, dass er ihn holen kam, fühlte er eine stille Gleichgültigkeit, vielleicht sogar ein wenig Freude über das bald Kommende. Tief atmete er den Duft der warmen Daunendecke ein und erhob sich schließlich. Wenn dies nun sein letzter Tag war, hatte er Versprechen einzuhalten, Erinnerungen aufzufrischen. Er machte sich den Tee, den seine Frau am liebsten getrunken hatte, und setzte sich an den Sekretär. Seine Tochter lebte weit entfernt in Argentinien. Er erinnerte sich an ihre fröhlich leuchtenden Augen, als sie das letzte Mal zu Besuch kam, und über ihr Leben sprach. Tanzkurse in Buenos Aires, trampen durch Bolivien, Sonnenaufgänge in Havanna. Er seufzte. Manchmal machte er sich Sorgen, aber immer war er stolz auf seine Tochter. Mit vorsichtigen Strichen begann er den Brief. Er legte seine ganze Bewunderung, seine ganze Liebe in diese Zeilen. Immerhin wären dies die letzten Gedanken, die seine Tochter erreichen. Mit großen Buchstaben schrieb er als letztes ihren Namen auf das Kuvert. Legte den Brief, sorgsam gefaltet, hinein und ließ ihn am Sekretär liegen. Er hatte noch ein wenig Zeit bis Michalina kommen würde. Die gute Fee des Hauses. Sie ging für ihn einkaufen und besorgte den Haushalt. Cremte seine Glieder ein, wenn sie schmerzten, und, wofür er sie am meisten liebte, kochte sie ihm, wann immer er es wünschte, ihre fabelhaften Pierogie. Er ließ sich in seinen Lehnstuhl fallen und begann seine Lektüre zu lesen. Das alte Amerika. Er war nie ein Reisender, wie seine Tochter, doch hatte er das Gefühl, jeden Winkel dieser Erde durch seine Bücher kennengelernt zu haben. Wohlig seufzend begann er über die Keramikherstellung der Inkas zu lesen und kicherte leise über die Gefäße in Affenform. So fand ihn nun Michalina, als sie in ihrer üblich stürmischen Art die Wohnung betrat. Sie schimpfte ein wenig, da er selten lüftete, und riss ein Fenster auf. Erklärte ihm, was für ein herrlicher Tag heute war, und er solle doch den Vögeln ein wenig lauschen. Mit leisen Lächeln beobachtete er die junge Frau, die weiter auf ihn einredete, währen sie die Einkäufe in der Küche verstaute.
„Ich möchte einen Spaziergang machen. In meinen Bezirk. Den, in dem ich aufgewachsen bin. Wollen Sie mich begleiten, Michalina? Wo doch heute so ein schöner Tag ist“, fragte er schmunzelnd.
„Wo Sie immer nur den Kopf haben. Spazieren gehen! Ich habe hier noch so viel zu tun!“, erwiderte sie aus der Küche. Doch als er sich mühte, die Schuhe über seine Füße zu ziehen, war sie gleich da. Zog sich ebenfalls an, hakte sich bei ihm unter und so verließen sie die Wohnung.
Langsam gingen sie die Straße entlang. Lange war er nicht mehr hier gewesen. Kaum ein Geschäft, ein Lokal, das er wiedererkannte. Immer wieder zeigte er auf ein Gebäude. Erzählte, dass damals ein Eissalon an dieser Stelle war oder ein Greißler oder die Wohnung eines Freundes. Michalina hörte ihm zu und lächelte. Als sie bei einem kleinen Park vorbei kamen, in dessen Mitte eine Kirche stand, bog der alte Mann ein.
„Hier haben wir geheiratet. Elena und ich. Sie war die bezauberndste Frau die mir je unterkam, ich konnte mein Glück kaum fassen, als sie einwilligte mich zu heiraten“, sagte er lächelnd. „Sehen Sie den Baum hier? Unsere Initialien sind kaum mehr lesbar ...“. Er zog ein Klappmesser aus seiner Tasche und fing ächzend an die harte Borke aufzuritzen. Michalina tanzte nervös von einem Fuß auf den anderen.
„Ich denke nicht, dass das erlaubt ist. Oh, beeilen Sie sich wenigstens!“, zischte sie ihm zu. Als die Buchstaben wieder deutlich sichtbar waren, seufzte er zufrieden und ließ sich auf die Knie nieder.
„Was? Was tun Sie denn da? Stehen Sie auf!“, sie versuchte ihm am Schlafittchen zu sich hinauf zu ziehen.
„Nur noch eine Sache, Michalina. Dann verspreche ich Ihnen, dass wir gehen“, brummte der Mann. Kraftvoll stieß er das Messer in die Erde, um ein Loch auszuheben. Immer wieder versuchte er es, doch die Erde war kalt und hart und seine Versuche blieben beinahe erfolglos.
„Versuchen Sie es doch im Frühjahr wieder, da ist die Erde weicher“, sagte Michaline tröstend.
„Sie verstehen nicht. Ich muss das heute tun. Es muss sein!“, rief er aus. Wieder ließ er das Messer in die harte Erde fahren. Michaline stampfte energisch mit dem Fuß auf.
„Gehen Sie zur Seite! Ich helfe Ihnen!“ Im Nu hatte die junge Frau ein beachtliches Loch zustande gebracht. „Reicht das?“, fragte sie ein wenig verärgert. Der alte Mann nickte und lächelte. Bevor er sich wieder auf die Knie ließ, umarmte er die junge Frau fest. Mit leicht geröteten Wangen sah sie ihm nun neugierig zu. Mit ungeschickten Fingern fischte er eine Sammelkarte aus seiner Brusttasche. Die Karte war vergilbt und hatte Eselsohren. Auf der Vorderseite konnte man einen Fußballspieler erkennen. Vorsichtig legte der Mann die Karte in die Mitte des Lochs und schaufelte es dann sorgfältig zu. Als er wieder stand betrachtete er den Baum eine Weile im Stillen.
„Diese Sammelkarte war das erste Geschenk, das ich jemals von Elena bekommen habe“, setzte er mit ruhiger Stimme an. „Als sie erfuhr, dass sie sterben wird, hat sie mein erstes Geschenk auch unter diesen Baum begraben. Ich musste ihr versprechen, es ihr gleich zu tun, sobald meine Zeit gekommen ist. Dieser Baum wird noch lange unser Zeichen tragen, auch wenn wir nicht mehr hier sind. Und die Zeugen unserer jungen Liebe sollen ebenfalls hier bleiben“, er schmunzelte. „Sie war eine Romantikerin, wissen Sie.“ Mit langsamen Schritten ließ er den Baum hinter sich.
„Wieso heute? Fühlen Sie sich nicht gut?“, Michalina hakte sich wieder bei ihm unter.
„Mir geht es hervorragend, Michalina. Kommen Sie. Gehen wir dort entlang.“
Nach einiger Zeit kamen sie zu einem klobigen Neubau. Früher war hier die Bäckerei gewesen, zu der seine Mutter ihn immer geschickt hatte. Seine Freundin Maritta lebte direkt über dieser Bäckerei. Die Wohnung duftete immer nach frischen Semmeln und Brot. Weder die Bäckerin, noch seine Freundin, hatten die Bombe überlebt. Ihm traten Tränen in die Augen.
„Dziadek! Opa! Was haben Sie denn?“, fragte Michalina bestürzt und umfasste seine Hand zärtlich.
„Wissen Sie ... wenn man alt wird, holt einen die Vergangenheit manchmal ein. Lang Vergessenes, drängt sich einem auf“, sagte er mit traurigem Lächeln. „Die Toten wollen, dass man ihnen die Ehre erweist ... Gehen wir weiter.“ Mit besorgtem Gesicht ließ sich die junge Frau weiterziehen. Doch nun ließ ihn der Krieg nicht mehr los. An jeder Ecke sah er Gebäude in Trümmern liegen. Sah Menschen, die ihr weniges Hab und Gut aus den eingestürzten Häusern retteten. Auf einem Platz, in dessen Mitte ein leeres Blumenbeet angelegt war, stockte er erneut. Wieder traten ihm Tränen in die Augen.
„Ehren Sie wieder jemanden?“, fragte Michalina vorsichtig.
„Es sieht aus wie ein Grab“, gab er leise von sich.
„Es ist nur ein Blumenbeet. Sehen Sie? Die Gärtner setzten Zwiebeln ein“, antwortete sie und streichelte ihm über den Arm. Als der alte Mann keine Regung zeigte und stumm auf das Beet blickte, wandte sie sich an die Gärtner. „Entschuldigung! Was setzten Sie denn?“ Eine beleibte Frau in grünem Overall blickte sich zu ihnen um.
„Tulpen! 250 Stück auf diese Fläche. Im Frühjahr werden Sie staunen! Es ist eine ganz besonders schöne Sorte, die früh im Jahr zu blühen beginnt“, antwortete sie mit Stolz in der Stimme.
„Sehen Sie? Jetzt ist es noch ein leeres Beet, aber im Frühjahr können wir ja wieder kommen und uns die Tulpen ansehen, was meinen Sie?“, redete Michalina dem Mann gut zu.
„Wissen Sie, was man mit den Toten machte? Nach einem Bombenanschlag?“, fragte er mit leiser Stimme. Michalina schüttelte sanft den Kopf. „Man sammelte sie ein … legte sie alle zusammen. Einfach da, wo gerade Platz war“, er verstummte. Auf diesem Platz, lagen damals Maritta und die Bäckerin. Lagen Arme und Beine, Frauen, Männer und Kinder übereinander. Das Blumenbeet war mit frischer, dunkler Erde angefüllt. Von Regen und Wind noch nicht flach gedrückt, wölbte sie sich leicht. Er fühlte ein sanftes Ziehen an seinem Arm.
„Kommen Sie jetzt. Gehen wir nach Hause. Ich mache Ihnen Pierogi und einen Tee. Das vertreibt Ihnen die düsteren Gedanken.“
Abends lag er im Bett. Michalina hatte sich erweichen lassen und ihm ein wenig Rum in den Tee gegossen. Nun fühlte er sich warm und geborgen, von seiner Decke umschmeichelt. Seine letzten Gedanken kreisten um Elena, Maritta und um die Bäckerin, um die Hoffnung, sie jetzt bald wieder zu sehen. Als er die Augen schloss, sah er knospige Tulpenköpfe, die sich aus der saftigen Erde streckten. Tief atmete er ein. Sie erblühten, eine nach der anderen, in kräftigen Rot- und Gelbtönen. Ruhig atmete er aus. Langsam vertrockneten die Blüten und Blätter, wurden braun. Er atmete ein. Und im Einklang mit den Blumen, die sich zum Sterben auf die Erde legten, atmete er ein letztes Mal aus.