Mitglied
- Beitritt
- 18.01.2007
- Beiträge
- 22
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Die verlorene Zukunft.
Nun ist es Zeit, hinaufzusteigen. Ich vernehme das Vibrieren deiner Stimme, weit hinter mir, unwirklich und leise. Aus vergangenen Tagen schallt dein Echo durch meinen Kopf, um sich nicht wieder beruhigen zu wollen. Der Schall deiner Worte verirrt sich in den gewundenen Gängen und Sackgassen meiner Gedanken, löst sich schließlich auf im bunt schimmernden Farbenglanz verlorener Welten.
„Du darfst mich nicht verlassen.“
„Du bist alles, was ich habe. Wenn du gehst, bin ich für immer verloren.“
Du, du. Du, das bin ich. Das war ich früher für dich. Doch was ist davon geblieben? Wo bin ich?
Geblieben ist, was du mir damals gesagt hast. Doch nun sind es nur mehr Worte. Tote Worte. So tot, wie die Welt um mich herum. Überall sehe ich Menschen, ach Menschen. Gespenstische Gestalten mit hängenden Köpfen, die Mundwinkel nach unten gezogen sehen sie nicht, was um sie herum geschieht. Ferngesteuerte Körperleichen, die faule Luft ausstoßen, das nennt man hier atmen. Die Schultern bilden gebogene Hörner, die nach unten zeigen wie Stücke eines gebrochenen Fragezeichens.
Ich bin hier gefangen. Ohne die Augen zu öffnen sehe ich die blassen Marionetten, wie sie ihre Beine anheben und sich mechanisch fortbewegen. Die Strasse ist von ihrem Murmeln erfüllt, das sie von sich geben, ohne die Münder zu bewegen. Wirkliche Kommunikation scheint nicht stattzufinden. Der Himmel ist fast schwarz. Dunkelgraue Wolkentürme ballen sich über dem Horizont. Ein dunkelrotes Licht scheint hinter den entfernten Horizont aufzusteigen. Ich kann nicht erkennen, wo es seinen Ursprung hat.
„Deine Liebe hält mich am Leben.“
„Nur du kannst mir geben, was ich brauche, um lebendig zu sein.“
Aber was hält mich am Leben? Bist du irgendwo da draußen um mich zurückzuholen? Ich weiß nichts mehr. Das Echo deiner einst so kraftvollen Stimme verzerrt sich in meinem Kopf, wird zu vielen Stimmen gleichzeitig, die auf mich eindringen. Ach, wenn ich doch nur wüsste, wo du jetzt bist.
„Komm zu mir zurück.“
sagt eine der echohaften Stimmen, die der Deinen so gleicht. Alle Stimmen scheinen deinem warmen Tenor ähnlich zu sein. Doch ich weiß, dass das nicht möglich ist. Ich weiß nicht, was Vergangenheit, was Zukunft ist, wo ich bin und ob du auf mich wartest, wenn du denn noch wartest. Verzweifelt suche ich nach dem Faden, der mich aus dem Labyrinth meiner Gedankenwelt wieder hinaus führt. In mir die Angst, dass es nicht möglich ist, zu dir zurückzukehren. Oder könntest du mich zu dir holen, in unsere Welt, die wir uns erschaffen hatten? Ich sehe etwas, aber ich weiß nicht was. Ich reagiere auf Schatten, auf das, was ich durch meine geschlossenen Augen wahrnehmen kann.
Vor mir taucht der graue Menschenstrom in der farblosen Welt auf. Das ist jetzt meine Realität. Die Gestalten scheinen zu mir zu sprechen und ich hebe angestrengt den Kopf um zu erfahren, was sie mir sagen wollen. Ich kann hören, was sie flüstern und sie spüren, wenn sie gebeugt an mir vorüberziehen und mir leise ins Ohr raunen, mir von dir erzählen. Von dir, mein Schatz, von der verlorenen Zeit. Der Zeit, als du mich in deinen Armen hieltest und wir Pläne machten für eine gemeinsame Zukunft. Was bedeutet ‚Zukunft’? Ich weiß es nicht. Sie scheint vorbei zu sein, unsere Zukunft, obwohl sie nie passiert ist.
Ich verbanne die graue Welt und komme zu dir, erinnere mich an den Anfang unserer einzigen Zeit, die so unwirklich lange her zu sein scheint. Als wir uns vor etwas mehr als zwei Jahren kennen lernten, arbeitetest du in dem Café, in dem ich viele der heißen Sommernachmittage des Jahres verbracht hatte. Wenn die Hitze in der Luft flirrte und die Stadt in ein künstliches Koma tauchte, setzte ich mich mit einem Buch und meiner riesigen Sonnenbrille unter einen der großen, runden weißen Sonnenschirme und bestellte eisgekühlte Getränke, die du mir brachtest. Viele Stunden blieb ich dort, vertieft in Ulysses ließ ich den Bewusstseinstrom an mir vorübergleiten. Am Rande nahm ich dich wahr und kaum eine deiner Bewegungen entging mir. Und auch ich entging dir nicht, und wenn die anderen Gäste versorgt waren und friedlich vor sich in dämmerten, nahmst du dir einen von den billigen Plastikstühlen und setztest dich für einen Augenblick zu mir. Wir sprachen über dies und das, über mein Studium und deine Prüfungen, über die den neuen indischen Laden um die Ecke und über Sonnenblumen.
Ein bohrender Schmerz, der von außen zu kommen scheint, durchströmt meinen Körper, ich werde geschüttelt, kann es kaum ertragen. Mein Mund formt sich zu einem Schrei, aber ich gebe keinen Laut von mir. Mein Körper bäumt sich wie unter Peitschenhieben auf. Oder denke ich das nur?
Die Zeit. Nichts scheint geblieben von der kurzen Zeit, ich kann mich einfach nicht erinnern. Die grauen Menschen werden mehr, die breite Strasse, ich stehe mitten auf ihr, ist mittlerweile voll von diesen falschen Menschen, ihr Raunen dröhnt in meinem Ohr, so dass ich nichts mehr verstehe, kein Wort, nur noch eine Masse von dem, was einmal Sprache gewesen sein muss. Die Marionetten scheinen durch mich hindurch zu gehen, ich strecke meine Hände nach vorne, um nach ihnen zu tasten, aber: Nichts. Nichts als ein kühler Hauch. Am schwarzen Himmel ist ein feuerroter Sonnenball aufgestiegen, der mich blendet.
Bilder von dir durchfluten mich wie die letzten Sonnenstrahlen, die an lauen Sommerabenden die Wälder in ein warmes Licht tauchen. Ich und du im Café meiner kleinen Stadt. Deine große Hand, die locker auf meiner schmalen Schulter lag, eine erste zaghafte Berührung. Aus den Nachmittagen wurden Abende und Nächte. Fast täglich saßen wir zusammen und wenn wir durch die Straßen liefen, hielten uns bald an den Händen, glücklich und atemlos. Nachts fuhren wir mit unseren Rädern zum nahe gelegenen See und badeten zusammen. In diesen sternklaren Nächten schenkte ich dir meine Gedanken und du nahmst sie in dir auf, kostbare Schätze in deiner Hand. Während wir uns aneinander geborgen im Mondlicht über die Wellen tragen ließen, gaben wir gaben uns stumme Versprechen für die Ewigkeit und schwebten gemeinsam in eine andere Welt.
Der Feuerball steht hoch am Himmel und blendet mich. Immer noch stehe ich auf der Mitte der breiten Straße und versuche zu verstehen, was hier passiert. Doch nun beginnt der Menschenstrom, sich vor meinen Augen aufzulösen. Die farblosen Gestalten werden immer blasser und durchsichtiger, bis sie schließlich ganz verschwunden sind. Eine vibrierende Stille umfängt mich, wird immer stärker, ich kann nichts mehr sehen und scheine in ängstlicher Schwerelosigkeit zu fallen.
„Kannst du mich hören?“
Ich spüre deine starke, warme Hand auf meiner Schulter und fühle deinen Atem an meiner Stirn. Der Versuch zu Lächeln will mir nicht gelingen, aber du reagierst, indem du sachte einen Finger auf meinen rechten Mundwinkel legst. Du hast verstanden, so wie früher, ohne Worte. Das grelle Licht der Deckenlampe blendet mich durch die geschlossenen Augen hindurch, doch du bemerkst es und drehst es herunter. Dein Herzschlag dringt durch zu mir, als du dich neben mich auf das weiße, schmale Bett legst und dich sanft und etwas unbeholfen an meinen Körper presst.
„Endlich mein Schatz, du wirst wach, endlich wirst du wach.“
flüsterst du nahe an meinem Ohr, und ich spüre eine feuchte Spur auf meiner rechten Wange, wo du mich gerade mit deiner heißen Stirn berührt hast. Dieses Mal schallt nicht das verlorene Echo unwirklicher Stimmen durch meinen Kopf, sondern wirklich deine Stimme.
Ich bin zurückgekehrt in die Wirklichkeit, zu dir. Endlich haben mich deine Worte erreicht und ich erwache aus meinem grauen Niemandsland. Ich öffne suchend die Augen, fange deinen warmen Blick und weiß nun, dass wir die verlorene Zukunft nun endlich Vergangenheit sein lassen können.