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Die Vernichtung des Joseph Waxman

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18.08.2003
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Die Vernichtung des Joseph Waxman

Ihre Schritte hallten laut auf dem Gang. Sie wußten es, aber es kümmerte sie nicht. Vielleicht war es sogar Absicht und sie traten bewußt so fest auf.
Nur sie wissen es und vielleicht nicht einmal sie.
Er wußte, daß sie kamen, um ihn zu holen. Sie waren aus keinem der tausend Gründe da, die ihre Anwesenheit sonst noch erklären würden. Sie kamen, um ihn zu holen.
Er, Joseph Waxman, aus dem mehr oder minder schönen Bundesstaat Georgia, saß auf der Pritsche seiner Zelle. Die Beine angezogen, den Rücken an die Wand gelehnt und die Hände auf dem gemachten Bett abgelegt, erwartete ruhig ihre Ankunft.
Klapp, klapp, klapp. Das Geräusch der näherkommenden Schritte hätte nervenzerfetzend sein können, wäre Joseph nicht schon hinübergegangen in eine Art Lethargiewelt, in der ihn die schweren Schritte erreichten, wie durch einen schweren Vorhang hindurch. Eben so gut hätten sie in Ballettschläppchen über einen tiefen Teppich laufen können.
Jeder auf dem Flur wußte, was die Schritte bedeuteten und wem sie galten. Sie hätten nicht an die Sichtluken treten müssen, um den Fortgang des Geschehens zu verfolgen. Sie bräuchten nur die Augen zu schließen, so oft hatten sie es schon gesehen und würden es noch sehen, ehe die Reihe an sie käme.
Die drei Wärter hatten Josephs Zelle erreicht und postierten sich in vorgeschriebener, hunderttausendmal praktizierter Weise davor. Sie riefen ihn routiniert an und forderten ihn auf an die Türe zu treten. Er solle seine Arme durch den dafür vorgesehenen Schlitz stecken. Damit sie ihm die Handfesseln anlegen konnten. Er kannte das, sie kannten das.
Er streckte seine Arme aus. Sie legten ihm die Handschellen an, öffneten die Türe und zogen ihn grob heraus. Nichts besonderes, bis jetzt. Joseph verließ zum letztenmal seine Zelle und betrat zum letztenmal den fensterlosen Flur mit seinem fahlen Neonlicht. Aber irgendwie war es nichts besonderes.
Joseph war beinahe enttäuscht, daß er nichts fühlte. Außer einer gewissen Nervosität, zugegeben. Er hatte angenommen, daß er seinen Wärtern etwas sagen würde. Etwas witziges vielleicht oder etwas pathetisch aufmunterndes. Es ist schon gut oder etwas in der Art. Aber dazu hätte in den Gesichtern der Wärter etwas sein müssen. Sie sahen ihn an, wie sie ihn die letzten zwei Jahre hindurch angesehen hatten. Außerdem hätte dazu etwas in seinem Kopf sein müssen, aber der war leer und wie in Watte eingepackt.
Jetzt gingen sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Vorbei an den Zellen, aus denen seine Mitgefangenen heraussahen oder den Blick abwandten.
Einige schlugen nur die Lider nieder, als sie bemerkten, daß er ihren Blickkontakt suchte. Hatte er es auch so gehalten?
Einer, der Puertoricaner, bekreuzigte sich. Vielleicht betete er auch. Joseph konnte sehen, daß seine Lippen sich bewegten. Betete er für ihn oder für alle hier oder nur für sich?
Einer strich sich mit der Hand über die Brust. Immer wieder, dreimal, viermal. Dann waren sie vorüber.
Der Kerl, der sich jeden Tag rasierte und doch immer einen blau schimmernden Schatten um den Kinn hatte, starrte stumpfsinnig nach draußen. Er sah Joseph auch in die Augen. Der erste. Aber Joseph konnte nicht feststellen, ob er begriff. Falls es da etwas zu begreifen gab. Jedenfalls hatte er keine Veränderung in dem Gesicht ausgemacht.
Irgendwie seltsam, der Kerl. Er hatte die ganze Zeit keine zwei zusammenhängenden Sätze mit ihm gewechselt. Dabei war er mit allen anderen gut ausgekommen.
Ein anderer schien ihm zuzunicken. Joseph glaubte so etwas gesehen zu haben. Er wollte die Geste erwidern, sein Verstehen zu erkennen geben, aber dann waren sie schon vorbei, ohne daß er sich gerührt hätte.

Anschließend hatte er ihr sein Messer in den weichen Bauch gerammt. So fest er konnte. Und dann hatte er es noch eine Weile festgehalten, bis ihr Zucken erstorben war, das krampfhafte Heben und Senken der Bauchdecke aufgehört hatte.
Wie lange es dauert, bis ein Mensch endlich tot ist.
Das Blut an seiner Hand war warm gewesen und klebrig. Irgendwie angenehm, aber auch seltsam. So viele Gefühle waren bei seinem ersten Mord auf ihn eingeströmt. Triumph und Bedauern zugleich. Eigentlich unmöglich. Und Übelkeit und dieses Gefühl von Macht, als sei man ein Gott. Ein Leben ausgelöscht zu haben, mit den eigenen bloßen Händen ausgelöscht. Ich habe genommen, ich werde geben. Ich bin Gott, huldigt mir! Mit den eigenen, verdammten bloßen Händen ausgelöscht. Unwiederbringlich verloren.
Komisch eigentlich, aber er konnte sich nur noch an den Bauch erinnern. Er wußte, daß sie mehr gewesen war als Bauch. Aber er konnte es sich nicht mehr in das Gedächtnis rufen. Er hatte vergessen, wie sie aussah. Ihre Haarfarbe, ihre Augenfarbe, Mund, Busen, Beine, Füße, er hatte alles vergessen.
Nur vom Bauch mit dem Nabel, der überraschend tief lag, bis zu der Wölbung ihrer Brüste. Die Brustwarzen lagen bereits jenseits der Erinnerung.
Der Bauch war weiß gewesen und hatte knapp unterhalb der Wölbung ihres Brustkorbes gelegen. Eigentlich hatte sie ihm gefallen, aber dann hatte er sein Messer hineingestoßen und der Bauch war unschön in Bewegung geraten. Ein wildes, krampfhaftes Zucken. Und Blut war hinausgelaufen und hatte das Bild der weißen Haut zerstört. Es hatte sich sogar im Nabel gesammelt.
Dann war das Zucken plötzlich erstorben. Er hatte die Hand von ihrem Mund genommen. Das erstickte Quietschen war verstummt. War er groß gewesen oder klein? Mit dünnen Lippen oder dicken, weit geschwungene Linien?
Er war erschöpft gewesen von ihrem Todeskampf. Wieviel Kraft so ein Mensch entwickelt, nur um noch einmal zu schreien. So, wie er bei seiner Geburt vielleicht geschrien hat.
Es war klug gewesen sie umzubringen, damals jedenfalls.

Joseph fiel auf, daß keiner ein Wort sagte. Nur ihre Schritte waren auf dem Gang zu hören. Seine schlurfenden und die selbstbewußten der Wärter.
Er fand, daß es nicht richtig sei. Es irritierte ihn, aber er wußte nicht, was er dagegen hätte tun können.
Das hier war seine Show, aber er war der Meinung, daß andere für den Unterhaltungsteil verantwortlich seien. Er würde sein Scherflein schon beisteuern, wenn sein Stichwort käme.
Jetzt hatten sie das Ende des Flurs erreicht und nichts war geschehen. Sollte er den Flur verlassen, ohne ein einziges Wort gesagt zu haben? Dann hätte er gar nicht zu leben gebraucht.
Aber so war es auch gut.
Der Wärter auf der anderen Seite rasselte mit dem Schlüsselbund. Dann hatte er den richtigen gefunden und steckte ihn in das Schloß. Es krachte laut, als er den Schlüssel umdrehte. Joseph erschrak, obwohl er das Geräusch schon unzählige Male gehört hatte. Immer dasselbe Krachen, als immer derselbe Schlüssel in immer denselbem Schloß umgedreht wurde. Bittersüße Routine.
Jemand rief etwas. Keiner hatte es verstanden, niemand kümmerte sich darum. Joseph brauchte eine Weile, um zu begreifen, daß es ihm gegolten hatte. Dabei war es sein Nachruf gewesen. Der Wärter stieß die Türe auf und sie traten aus dem Flur.

Joseph hatte sich nach dem Mord eine Weile in einem leerstehenden Haus am Strand versteckt. Er hatte Hunger. Er wollte sich waschen und sich rasieren. Und ständig kratzte er sich, weil er glaubte Läuse zu haben.
Gegen Mittag hatte sich ein Schmetterling auf seinen Zeigefinger gesetzt. Das kleine Insekt hätte ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht. Aus dem seelischen und aus dem anderen.
Er hatte ihn essen wollen, doch der Schmetterling mußte etwas geahnt haben. Gerade als Joseph zubeißen wollte, war er weggeflogen. Die klappenden Kiefer gingen ins Leere, die blutunterlaufenen Augen sahen die Beute zum zerbrochenen Fenster hinausfliegen, wo sie sich sicher wähnte.
Joseph fluchte und wünschte dem unverschämt lebensfähigen Flattermann einen Vogel an den Hals. Unter dem hornigen Schnabel sollte er sein Leben aushauchen, die zarten Flügel nutzlos zerknittert.
Joseph trank seit Tagen schon. Nach jedem Schluck breitete sich wohlige Wärme in seinem Magen aus und vertrieb das Hungergefühl. Außerdem lullte der Alkohol den Kopf ein, der sich noch immer bei der toten Frau aufhielt.
Der verfluchte Kopf soll das sein lassen, was er aber nicht tut. Er hat sich selbstständig gemacht.
Oh ja, Joseph hatte Gewissensbisse. Schreckliche sogar. Das würde er jederzeit und ohne das leiseste Zögern zugeben. Er durchlief das volle Programm, mit Depressionen am Tage und Alpträumen in der Nacht. Er bereute seine schreckliche Tat.
Den rechten Arm hätte er dafür hergegeben sie wieder ungeschehen zu machen. Eine Extremität ihrer Wahl. Er hätte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, würde sie jetzt auf eine Stelle seines Körpers, eine beliebige, zeigen und sagen: „Diese. Diese da will ich als Sühne.“ Aber sie ist ja tot und kann nichts mehr sagen.
Sie ist tot. Der Gedanke gefiel ihm. Er erregte ihn sogar. Es war ihm peinlich, aber jedesmal, wenn er an das warme, klebrige Blut dachte, bekam er eine Errektion, einen lupenreinen Ständer. Ein paar Mal hatte er wohl onaniert dabei. Aber das würde er nie zugeben.
Sogar im Gerichtssaal, wenn Photos von dem blassen Bauch mit der schrecklichen, schwarzverkrusteten Wunde darin, herumgereicht wurden, wurde ihm die Hose eng.
Das Geld aus der Brieftasche der Frau war aufgebraucht. Eine Möglichkeit an neues heranzukommen nicht in Sicht. Seine Idee einen simplen Raubmord als Sexualverbrechen zu tarnen, erschien ihm längst nicht mehr als gut. Er wußte, daß er irgendeinen Fehler gemacht haben würde, der die Polizei auf seine Fährte locken würde. Und dann wären sie nicht mehr auf der Suche nach einem gefährlichen Kriminellen, sondern nach einem Ungeheuer, einem Tier. Es würde niemanden bekümmern, wenn sie ihn bei seiner Verhaftung schrecklich mißhandeln, vielleicht sogar totschlagen.
Joseph fühlte sich selbst kaum mehr als Mensch. In seinem Versteck war er nicht mehr, als ein hungriger, angeschossener Wolf. Bald würde er wieder los müssen, sein nächstes Opfer reißen.

Sie führten ihn durch Gänge, die er noch nie betreten hatte. Sie führten ihn immer tiefer in die Eingeweide des Gefängnisses. Irgendwo hier unten, das wußte er, lauerte der elektrische Stuhl. Wie eine Spinne thront er inmitten eines dunklen Raumes und wartet auf ihn und ist in der ganzen Zeit nicht ungeduldig geworden. Ein Monster aus Holz und Drähten, welches das Bewußtsein der auf ihm gestorbenen gierig aufgesogen hat.
Joseph hatte gehört, daß die Seelen der auf ihm gegrillten noch immer bei ihm seien. Sie leisteten ihm Gesellschaft, flüstern jedem zum Tode verurteilten ihre Namen, ihre Herkunft, ihre ganze gottverdammte Geschichte ins Ohr, ehe der Schalter im Nebenraum umgelegt wird.
Geschichten, Todestraktmärchen.
Keiner glaubt daran, bis er selber runter muß. Dann erscheinen sie einem plötzlich nicht mehr so unmöglich. Vielleicht werden sie ihm zur Gewißheit werden, wenn sie ihn auf dem Stuhl festschnallen.
Sie brachten Joseph in einen kleinen Raum, in dem nur ein Stuhl stand. Er sah sie an, sie sahen ihn an. Keiner verzog eine Miene.
Ein Kerl kam herein, mit einem weißen Kittel angetan. Er hockte sich vor Joseph und machte sich an dessen Hosenbeinen zu schaffen. Joseph sah die Wärter fragend an, aber die blickten durch ihn hindurch. Für Joseph ein unzweideutiges Zeichen sich ruhig zu verhalten.
Der Kerl rasierte ihm die Beine. Ein wenig komisch, fand Joseph das. Aber dann verstand er.
Es ist wegen des Stroms, damit der besser geleitet wird. Vielleicht haben sie auch angst, daß die Haare Feuer fangen könnten oder etwas in der Richtung. Joseph entspannte sich. Sollten sie mit ihm doch machen, was sie wollen. Ihn ging es nichts mehr an.

Er hatte es in dem Haus am Strand nicht mehr ausgehalten. Zwei Monate ist der Mord jetzt her. Zeit genug, um Gras über die Sache wachsen zu lassen. Aber er wußte, daß sie ihn immer noch suchten.
Eine Weile stolperte er den Strand entlang und wunderte sich, daß ihn noch niemand verhaftet hatte. Er wird damit ja wohl nicht durchkommen? Strafe muß sein, findet Joseph. Das hat er immer schon gefunden, schon als Kind, wenn sie Räuber und Gendarm spielten. Ja, auch er hat es gespielt, dieses unsägliche Spiel. Stets war er der Gendarm gewesen. Bei Cowboy und Indianer immer der Cowboy. Immer bei den Guten, nie bei den Bösen. Komisch, daß das sich nicht hält.
Strafe muß sein. Etwas ausfressen ist nicht so schlimm, hatte der Vater ihm einmal gesagt. Aber Strafe muß sein. Danach hatte er ihn zu einer frustrierenden Woche Hausarrest verurteilt. Wofür eigentlich noch?
Irgendwann hatte Joseph den Strand verlassen. Es war dunkel gewesen und er war durch die Straßen gestolpert, ohne Ziel und ohne Richtung.
Vor Hunger wurde ihm jetzt regelmäßig übel. Mehrfach hatte er versucht sich zu übergeben, aber da sein Magen leer war, hatte es auch nichts gegeben, daß er hätte entbehren können.
Schließlich hatten ihn die Lichter einer Disko angelockt. Er hatte sich in den Schatten der Bäume, die den Parkplatz umsäumten, geduckt. Er wartete auf eine Gelegenheit zuzuschlagen. Mit der Geduld eines Raubtieres und dessen Verzweiflung. Sind Raubtiere alle so verzweifelte Tiere?
Joseph hatte sich ein Auto ausgeguckt, einen Sportwagen, Zweisitzer. So einen Wagen fahren Aufreißer, hatte er sich gedacht. Mit ein wenig Glück geht sein Opfer bei der Frauenjagd leer aus und kommt alleine, aber angetrunken aus der Disko. In der Dunkelheit braucht er eine Weile, um das Türschloß zu finden. Aber dann ist Joseph schon bei ihm, hält ihm das Messer an die Kehle und kassiert. Dann verschwindet er im Schutze der Nacht an den Strand. Mit ein wenig Glück hat er dann genug Geld, um die Stadt zu verlassen.
Schon zweimal war sein Plan gescheitert und der Schürzenjäger hatte eine Beute zu seinem Auto locken können. Ausfahrt zum Aussichtspunkt vor der Stadt. Ein bißchen herumgeschmuse im Auto. Ein bißchen ficken. Telefonnummern tauschen und Beteuerungen sich wiederzusehen. Gesellschaftliche Routineverlogenheit.
Joseph war bereits soweit eine Zeugin in Kauf zu nehmen. Sie ist angetrunken, er ist angetrunken. Eigentlich besteht keine Gefahr. Und dann hat er ja immer noch das Messer. Aber einmal reicht ihm. Nicht noch ein zweites Mal. Es heißt zwar, daß es beim zweiten Mal leichter ginge, aber das erstemal ging ihm schon zu leicht.

Der Kerl war mit seinen Beinen fertig. Er holte aus seiner Tasche einen Langhaarschneider
und stöpselte ihn in einer Steckdose ein. Wenn ich da jetzt meine Finger hineinstecke, ist das genauso wie beim elektrischen Stuhl, denkt Joseph. Aber er weiß, daß das nicht wahr ist. Der Stuhl hat schon seine Berechtigung.
Diese ganzen Vorbereitungen, das tun die ja nicht für sich, sondern für mich. Damit nichts schiefgeht, damit es nicht weh tut. Sie wollen ihn ja nicht foltern, sondern der Gerechtigkeit genüge tun. Aber im Prinzip, dachte Joseph ruhig, geht es um Rache. Er hat nichts dagegen einzuwenden, denn er weiß; Strafe muß sein. Aber im Prinzip geht nur um Rache. Die Angehörigen der Toten werden dabei sein und zusehen, wie sie ihn grillen. Denen geht es nur um die Rache und weil sich die Gesellschaft auf deren Seite schlägt, geht es auch ihr nur um Rache.
Joseph ist kein kluger Mann. Er hält sich an Tatsachen, Fakten. Alles andere, findet er, bringt einen nur durcheinander. Und Fakt ist; er hat Scheiße gebaut und muß dafür geradestehen.

Irgendwann näherten sich Schritte dem Auto, das Joseph sich ausgeguckt hatte. Er duckte sich tiefer in den Schatten der Bäume und machte sich zum Sprung bereit. Der Jagdinstinkt in ihm war erwacht und jede Faser seines Körpers schien auf das Äußerste gespannt. Diesmal würde ihn nichts aufhalten.
Im Hintergrund dämmerte bereits der Tag herauf und färbte den Horizont rötlich ein. Das Spiel der Schatten und Halbschatten vertiefte sich und Joseph fürchtete, daß man ihn entdecken könnte, doch er zwang sich zur Ruhe.
Sie klopfendes Herz verriet ihn schließlich oder war es doch die Dämmerung?
Der Mann, angetrunken, wie Joseph vorausgesehen hatte, rief ihn an, zog eine Waffe. Eine kleine, verchromte stupsnasige Pistole, auf deren Lauf sich das Rot der Sonne spiegelte.
Joseph hastete, sprang dem Mann entgegen und erreichte ihn, ehe er auf ihn angelegt hatte. Er stieß den Mann gegen das Auto, ihm sein Messer an den Hals setzend. Er zischte etwas von Waffe fallen lassen und keine Dummheiten machen, sonst würde ihnen schlecht ergehen. Seine Worte erreichten das alkoholgetränkte Hirn seines Opfers nicht.
Joseph spürte mehr, als das er sah, wie der Mann versuchte seine Pistole gegen ihn in Stellung zu bringen. Mit einem bedauernden Seufzer zog er sein Messer den Hals entlang. Wo die Klinge die Haut zerschnitt, folgte Blut in sprudelnder Fontäne nach. Es spritzte über das Wagendach, rann an der Karosserie herab, plätscherte zu Boden. Der Mann sackte gurgelnd in sich zusammen. Als Joseph ihn losließ, fiel er hart zu Boden, wo sich bereits eine Pfütze zu bilden begann.
Auch Joseph hockte sich nieder, in die Deckung der Autos. Mit fliegenden Fingern filzte er die warme Leiche und fand die Brieftasche in der rechten Gesäßtasche. Sie war durchweicht und leer. Joseph starrte einige Sekunden lang in das leere Geldfach. Einige Münzen klimperten, als seine Hand zu zittern begann.
Er wandte sich zur Flucht. In Panik rannte Joseph durch die Bäume hindurch auf den Strand zu.
Der verdammte Scheißkerl hat sein ganzes Geld versoffen. Er überhörte die quietschenden Reifen, achtete nicht darauf, daß Dutzende Augenpaare seine Flucht verfolgten. Jedes einzelne würde ihn später bei einer Gegenüberstellung und vor Gericht wiedererkennen.
Joseph sah nicht einmal den Strand, bis der nachgiebige Sand ihn zu Fall brachte, seinen Mund mit knirschenden Quarzkristallen anfüllte.

Der Mann im schwarzen Kittel schor ihm den Kopf. In dicken Büscheln fiel sein schwarzes Haar zu Boden. Schon bedeckte es den Bereich um seinen Stuhl herum. Was wohl damit geschehen würde, wenn er tot ist? Aufgefegt und weggeworfen, beantwortete sich Joseph die Frage selbst.
Er knirschte vorsichtig mit den Zähnen, ob er noch immer Sand im Mund hätte. Die Geschichte war jetzt drei Jahre her, aber manchmal glaubte Joseph, daß noch immer etwas in seinem Mund sei. Genauso, wie er von Zeit zu Zeit das Blut auf seiner Hand zu spüren glaubte. Beides dasselbe.
Die Obduktion hatte ergeben, daß sie beide dieselbe Blutgruppe gehabt hatten. Rhesusfaktor A positiv. Ob er das gewußt habe, hatte man ihn bei der Vernehmung gefragt, als man noch versuchte eine Verbindung zwischen den beiden Opfern herzustellen, um ihn zum Serienmörder machen zu können. Vorher nicht, hatte Joseph geantwortet, aber nachher. Warm und ein wenig klebrig, als es trocknete. Derselbe Geruch bei beiden, schwer und süßlich.
Der Kittelmann war fertig. Achtlos steckte er den Langhaarschneider, der jetzt voll mit Josephs Haaren war, in seine Tasche. Ob er einen Spiegel haben könne, wollte Joseph wissen. Zuerst verstand der Kerl nicht. Als er ihm erklärte, daß er wissen wolle, wie er jetzt aussähe, schüttelte er den Kopf. Er habe keinen Spiegel, Sicherheitsvorschrift. Ein seltsamer Gedanke übrigens, sich noch einmal im Spiegel betrachten zu wollen. Die Frage sei ihm noch nie untergekommen.
Ärgerlich wollte Joseph fragen, wie lange er diesen Job denn schon mache, Menschen dafür zu präparieren auf dem elektrischen Stuhl gegrillt zu werden. Er stellte die Frage nicht.
Sie hießen ihn aufstehen und bugsierten ihn aus dem kleinen Raum, dessen Einrichtung tatsächlich nur der Stuhl gewesen war, auf dem Joseph gesessen hatte. Ein eigener Raum, um Beine und Kopf zu rasieren.
Sie führten ihn nach und links und dann nach rechts. Sie führten ihn eine Treppe hinauf und zwei wieder herunter. Die Gänge waren zur Hälfte weiß, zur Hälfte rot gestrichen. In allen Gängen, im ganzen Gefängnis. Joseph verlor die Orientierung.

Joseph erinnerte sich an den ersten Verhandlungstag. Er war nervös gewesen, wie auch sein Anwalt. Es war sein erster großer Fall. Joseph war es schwer gefallen zu begreifen, daß er einen großen Fall darstellte.
Die Angehörigen hatten Bilder seiner Opfer mitgebracht. Sie wollten, daß er sie ansah. Vor seinen Augen verschwammen die Gesichter zu rosarnen Farbklecksen.
Der dunkle Bauchnabel auf heller Haut, der Rippenbogen, hinter dem das Herz zu schlagen aufgehört hatte. Die Wölbung der Brüste, sanft ansteigende Hügel, deren Kuppen sich seiner Erinnerung noch immer entzogen. Der lachende Hals, aus dem Blut spritzte. Auch hier versagte sein Erinnerungsvermögen, wenn es um Haar- oder Augenfarbe ging. Nur der Geschmack des feuchten Sandes blieb Joseph gegenwärtig.

Einmal stießen sie ihn an. Er solle schneller gehen. Der Priester warte bestimmt schon. Er versuchte wieder sich zu orientieren, bemerkte daß er nicht wissen konnte, wo er war, da er noch nie hier gewesen war und versank wieder in Tagträumen.

Josephs Anwalt war bemüht gewesen. Er hatte argumentiert, sein Klient sei das Opfer seiner Umwelt. Er sei sicher nicht schuldlos an seinen Verbrechen, aber schuldlos daran, zum Verbrecher geworden zu sein. Er beschwor Josephs Vergangenheit herauf oder besser gesagt; ein Abbild seiner Vergangenheit.
Seine früh verstorbene Mutter, sein hart arbeitender Vater – er hatte keine Zeit für die Erziehung seines Sohnes gehabt, die sich daher in drakonischen Strafen erschöpfte. Seine Kindheit und Jugend in einer armen Gegend, kein Schwarzenghetto, aber im Prinzip dasselbe. Armut ist kein Rassenproblem, sondern ein Geldproblem.
Josephs Anwalt wurde zu einer Inkarnation Petrocellis, des italienischstämmigen Anwalts mit einem Herz für die Unterprivilegierten. Doch ohne ein wohlwollendes Drehbuch kämpfte er vergeblich. Außerdem war Joseph ja schuldig.
Die Plädoyers am Ende fand Joseph verwirrend. Beide waren sie Produkte der Phantasie von Staatsanwalt und Verteidiger.
Der Staatsanwalt machte aus ihm einen Sexualmörder, ein geldgieriges, verschlagenes und blutrünstiges Monster, das er offenkundig nicht ist.
Der Verteidiger nannte ihn einen Dummkopf, kaum des Lesen und Schreibens mächtig, der in einer gewalttätigen Umgebung aufgewachsen ist und bisher nur die Sprache der Gewalt gewohnt sei, was sehr dick aufgetragen ist.
Der Verteidiger plädierte für Gefängnis und eine zweite Chance, der Staatsanwalt auf den Tod, weil er eine Gefahr für die Menschheit sei. Und Joseph weiß nicht mehr was oder wer er ist.
Manchmal hat er Nachts Alpträume. Er träumt von den beiden Menschen, die er getötet hat. In seinen Träumen sind sie ein Liebespaar. Sie erzählen ihm, was für Pläne sie miteinander hatten. Sie erzählen, was für Wünsche und was für Träume sie hatten, ehe er mit seinem Messer kam und alledem ein Ende setzte.

Sie blieben vor einem Raum, mit Fenster zum Flur hin stehen. Von Außen konnte Joseph erkennen, daß er eine Pritsche enthielt. Auf der Pritsche saß ein katholischer Priester und las in einem Buch. Joseph vermutete, daß es die Bibel sei. Er wirkte ernst und gefaßt, als befände er sich auf einer Mission. Wahrscheinlich war er sich auch so vorgekommen.
Joseph wurde in den Raum eingelassen und fand sich mit dem Priester alleingelassen. Als er sich umsah, es gab in dem Raum nichts zu sehen, fing der Fremde zu sprechen an.
„Sie respektieren deine Privatsphäre. Nichts von dem, was du mir hier sagen wirst, wird diesen Raum verlassen.“
„Ich habe nichts zu sagen“, erwiderte Joseph. Mühsam erinnerte sich, daß er irgendwann katholisch als seine Konfession angegeben hatte. Dabei glaubte er nicht an einen Gott.
„Vielleicht willst du die Beichte ablegen?“
Joseph überlegte, was er über die Beichte wußte. Viel war es nicht. Daß man seine Sünden berichtete, daß einem eine Buße auferlegt wurde und daß einem die Absolution erteilt wurde. Bald würde man ihn töten. Wenn es zu spät für die Absolution war, warum sollte er die Geister der Toten noch einmal belästigen. Das hatte er doch schon auf dem Weg hierher getan.
Irgendwie wollte er den Priester aber auch nicht enttäuschen.
„Ich habe in den letzten zwei Jahren und auf dem Weg hierher nachgedacht“, sagte Joseph „und ich glaube, ich bin jetzt mit mir selbst im Reinen.“
„Na gut.“ Der Priester schien über seine Erklärung nicht glücklich zu sein, sie aber zu akzeptieren. „Es ist Ihre Entscheidung“, sagte er bloß. „Denken Sie aber daran, daß man uns alle Zeit gibt, die wir brauchen.“
Joseph begriff. Solange der Priester bei ihm wäre, konnte ihm nichts geschehen. Eine irrsinnige Hoffnung keimte in ihm auf, doch er erstickte sie sofort, ehe sie übermächtig werden konnte. Irgendwann würden sie ja doch sagen es reicht und es tun. Besser er brachte es so schnell wie möglich hinter sich.
„Nur die letzte Ölung vielleicht“, sagte er, unsicher, ob er das so einfach einfordern konnte.
Der Priester salbte ihn. Joseph wurde sich bewußt, daß er die letzten Jahre eine lebende Leiche gewesen war.
Dann kamen sie ihn holen. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, daß der Priester sich bekreuzigte, als er am Fenster vorbeigeführt wurde. Aus irgendeinem Grund ärgerte ihn das.
Ein paar Türen weiter war der Raum. Der Stuhl stand nicht in der Mitte, sondern ein wenig gegen die rückwärtige Wand versetzt. Er war schmucklos und aus schlechtem Holz zusammengezimmert. Kabel führten von ihm aus zur Wand, in der sie verschwanden. Joseph war beinahe enttäuscht. Der elektrische Stuhl atmete nüchterne Funktionalität. Für Geister war in ihm kein Platz.
Joseph wurde auf den Stuhl gesetzt und der Mann im weißen Kittel machte ihn für die Hinrichtung fertig. Mit routinierten Handgriffen wurden die Kabel an Josephs Beinen befestigt. Es schien ganz einfach zu sein.
Dann wurde eine Rollade an der Frontseite des Raumes heraufgezogen. Das Fenster war auf seiner Seite blind. Aber Joseph wußte, ohne es zu sehen, daß sich auf der anderen Seite die Angehörigen seiner Opfer versammelt hatten, um ihm beim Sterben zuzusehen.
Plötzlich wurde ihm ein Tuch vor das Gesicht gehalten. Er hörte, wie jemand im Nebenraum einen schweren Schalter umlegte.

 

Hallo Hamilkar!
Eine spannende Geschichte, die mich mit einer Gänsehaut zurückläßt. Sehr gut, wie du den Wechsel zwischen dem Weg zur Hinrichtung und den Taten, geschrieben hast.
Dein Schreibstil ist flüssig und du hast passend eine düstere Spannung bei mir erzeugt.
Das einzige was ich bemängeln muss ist, das ich nicht schlau draus wurde, warum er diese Taten begangen hat. Wie ist er dazu gekommen einen Mord zu begehen? Wodurch wurde er dazu gezwungen?

Außerdem bin ich mir nun nicht sicher, ob er die Taten wirklich bereut oder einfach meint: habe ich was böses getan, dann muss Strafe sein. Aber richtige Reue kommt nich rüber.
Aber vielleicht sollte das auch nicht so sein.

Ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen...

LG Joker

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hamilkar,

ich kann leider nicht sagen, daß mit Deine Geschichte gefallen hat.
Du hast sie unter Spannung gepostet und leider hat sie gerade das Nicht. Der Mangel an Spannung war sogar so groß, daß ich nicht bis zum Ende gekommen bin.
Sei nicht böse, aber sie hat mich einfach gelangweilt.
Waxman wird aus der Todeszelle geholt und Du beschreibst endlosscheinen den Weg, den er geht.
Sicher wolltest Du einen Nervenkitzel aus dieser grausamen Situation ziehen, doch dies ist Dir nicht gelungen. Wenn Waxman etwas besonderes plant, sollte es schon angedeutet werden, damit der Leser ein Interesse hat zu erfahren, was passiert. Auf mich wirkte Waxman desinteressiert, trotz seiner Gedanken, daß da doch etwas passieren müsse.

Ok, er kann sich nicht an das Aussehen seines Opfers erinnern. Dann versteckt er sich in einem Haus. Da ist Alkohol, aber nichts zu essen, so daß er schon nach wenigen Stunden einen Schmetterling essen will. Dazu bräuchte ich Tage.
Das Haus muß abgeschlossen sein, und der Schmetterling ein Gigant.
Für mich also völlig unsinnig.

Allgemein sind Dir die Formulierungen nicht gelungen. Einige Beispiele habe ich aufgeführt:

------------
die Hände auf dem gemachten Bett abgelegt
----------vielleicht gelegt, aber nicht abgelegt.

-------------
Dann waren sie vorüber.
-------------an was?

-----------
Das erstickte Quietschen war verstummt.
----------- Quietschen ist in dieser Situation unglücklich. Ein Gummieentchen kann quietschen, oder eine Maus...

------------
Joseph fiel auf, daß keiner ein Wort sagte. Nur ihre Schritte waren auf dem Gang zu hören. Seine schlurfenden und die selbstbewußten der Wärter.
Er fand, daß es nicht richtig sei. Es irritierte ihn, aber er wußte nicht, was er dagegen hätte tun können.
------------nein? er hätte doch selbst was sagen können.

-----------
Sollte er den Flur verlassen, ohne ein einziges Wort gesagt zu haben? Dann hätte er gar nicht zu leben gebraucht.
Aber so war es auch gut.
-----------oder nicht, oder doch.....

------------
Es krachte laut, als er den Schlüssel umdrehte.
------------ finde ich unglücklich. Ich stelle mir vor, daß das Geräusch in dem langen Flur wiederhallt. Tausendfach verstärkt, von den kahlen Wänden zurückgeworfen.

------------
Das kleine Insekt hätte ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht. Aus dem seelischen und aus dem anderen.
-----------wieso?

------------
Er hatte ihn essen wollen, doch der Schmetterling mußte etwas geahnt haben.
-----------es ist Mittag und er ist doch erst seit einigen Stunden da. Mir würde es da nicht in den Sinn kommen einen Schmetterling zu essen.

------------
Joseph trank seit Tagen schon
------------also war Alkohol da, aber nichts zu essen?

-----------
Außerdem lullte der Alkohol den Kopf ein, der sich noch immer bei der toten Frau aufhielt.
-----------nee !!
Seine Gedanken vielleicht, aber nicht der Kopf.

-----------
Der verfluchte Kopf soll das sein lassen, was er aber nicht tut. Er hat sich selbstständig gemacht.
-----------die Zeit! (selbständig)


Ich gebe zu, daß Du dich aus meiner Sich an ein schwer zu schreibendes Thema gewagt hast.
Leider ist Dir die Umsetzung nicht gelungen.

Gruß
Manfred

 

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