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Die vierzehn Becher
Konrad bemühte sich nicht zu schlabbern. Behutsam balancierte er den kleinen Plastikbecher über die Fliesen, als würde er eine jahrhundertealte Vase durch ein Museum tragen. Beinahe wäre er noch kurz vor dem Ziel, dem alten Medizinschränkchen rechts neben der Dusche, gestolpert, konnte seinen Sturz aber gerade noch abfangen. Nicht mehr verhindern ließ sich jedoch das Malheur, dass einige Tropfen seines Urins aus dem Becher schwappten und auf den Kacheln, welche die Dusche von zwei Seiten umschlossen, kleine Spritzer hinterließen.
„Braucht du noch lange, Schatz?“
„Nein, nein, bin gleich soweit!“
Konrad ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er war längst über Fünfzig, doch seine Hände ruhig und frei jedes Zitterns; bei dem kleinen Straucheln am Duschvorleger war er jedoch auch machtlos gewesen. Wenigstens hatte er kaum etwas verschüttet und der Becher in seiner linken Hand war immer noch randvoll mit Urin. Mit seiner rechten griff er in die Tasche seines Morgenmantels, um wie jeden Morgen das kleine Schlüsselchen herauszuzücken. Einige Sekunden später hatte er auch schon das alte, buchenhölzerne Schränkchen aufgeschlossen, welches auf seiner Kopfhöhe hing.
„Wie lange denn noch?“
„Gleich, Liebling, gleich!“
Im Wissen einer verschlossenen Badtüre ging Konrad mit der gleichen Ruhe und Akribie vor, welche seinen Charakter schon immer ausgezeichnet hatte. Fast wie in Zeitlupe stellte er den Becher neben die dreizehn anderen, die ihn bereits mit einer beißenden Geruchswolke empfingen. All die Monate war es für ihn stets ein Rätsel gewesen, wie das Schränkchen soviel des Gestanks schlucken konnte, welcher sich Morgen um Morgen, Becher um Becher in ihm stärker ausbreitete.
Doch heute wurde es wieder Zeit.
Nur mit Mühen fand der Becher, welcher erst vor wenigen Minuten von ihm gefüllt worden war, noch leicht dampfte und dessen Plastik sich wie jeden Morgen aufgrund der Hitze leicht zu verziehen drohte, noch einen Platz in ihm.
Nachdem er den Becher abgestellt und wenige Male mit dem Zeigefinger gegen ihn getippt hatte, um zu prüfen, ob er auch auf der vorderen Kante des eingelegten Brettes sicher stand, schloss er das Schränkchen wieder ab, ließ das Schlüsselchen in die Tasche huschen und riss drei Blätter Klopapier von der Rolle, um die schon leicht angetrockneten Spritzer von den Duschkacheln zu tupfen. Ein letzter, ordentlicher Druck auf die Spraydose, welche nach eigenen Angaben die Frische der Berge im ganzen Bad zu verströmen wusste, und keine zehn Sekunden später gluckerten auch schon die Klopapierblätter die Toilette herunter.
„Wie lange muss ich denn noch….“, doch Martina konnte ihren Satz nicht beenden, da sich die Badezimmertür nach einen abrupten Entriegeln, welches so gar nicht zu Konrad passen wollte, öffnete und einen frisch rasierten und gewaschenen Ehemann preisgab. Ein flüchtiger Kuss auf Konrads Wange – schon war sie selbst im Bad verschwunden, um sich ihr Make-up aufzutragen.
Konrad setzte sich in das Zimmer, welches seine Frau Martina für ihn vor vielen Monaten hergerichtet hatte – „sein“ Zimmer. Er zerrte ein wenig an seinem Morgenmantel herum, setzte sich ans Fenster, das ihm viele Stunden des Tages einen kargen Hinterhof präsentierte und begann, ein Memory-Spiel vor sich auszubreiten. Mit jedem aufgedeckten Pärchen wuchs die Ungeduld in ihm. Hecktisch starrte er all die Löcher in seinem Zimmer an – Löcher, die der Fernseher, das Radio, die alte Wanduhr hinterlassen hatten. Was auch immer in der Welt vor sich ging, welches Datum auch immer der Kalender anzeigte – Konrad hatte keine Ahnung mehr.
Nach einer halben Ewigkeit hörte er endlich, wie die Badezimmertüre aufsprang und Martina heraustrat. Ihr Rouge war dezent und perfekt wie immer und sie roch so frisch und fruchtig, dass er sich wünschte, von diesem Duft jeden Morgen geweckt zu werden anstelle des Gestankes, welcher stets seine erste, morgendliche Wahrnehmung war.
„So, ich bin dann weg. Mach mir keine Dummheiten, hörst du? Es könnte sein, dass einige Leute heute versuchen mich anzurufen. Lass es einfach klingeln! Sage einfach, ich würde heute Abend zurückrufen, ich lese die Nummern ja auf dem Display. Handele nichts aus! Gehe auf nichts ein! Einfach sagen, ich melde mich, o.k.?“
Ein weiterer Kuss auf seine Wange und Martina verschwand pünktlich wie jeden Morgen in Richtung Arbeit.
Das Telefon. Der einzige Gegenstand, zu welchem Konrad überhaupt noch Zugang hatte. Alles andere, ob es das Radio, der Fernseher, Zeitungen, Armbanduhren oder was auch immer für Gegenstände waren, die ihn in die Gegenwart hätten zurückführen können, waren nicht mehr erreichbar für ihn und stapelten sich im Zimmer seiner Frau. Verriegelt und vor seiner Person gerettet.
Konrad spitzte die Ohren und wartete, bis die Haustür ins Schloss viel. Ohne Umschweife räumte er das Memory-Spiel weg, stand auf und ging ins Bad. Keine weitere Minute verging, und schon hatte er wieder das Schränkchen aufgeschlossen und sah sich der vollen Pracht der vierzehn gefüllten Becher ausgesetzt. Stück für Stück nahm er nun wieder sein über zwei Wochen erstelltes Machwerk heraus, leerte jeden der Becher sauber über der Toilette aus und spülte sie einzeln mit heißem Wasser ab. Er beeilte sich hierbei nicht, denn er wusste aus den Anfangszeiten, dass all seine Handgriffe genau eine halbe Stunde benötigten.
Nachdem der letzte Becher gespült war, steckte Konrad sie alle ineinander und legte die entstandene Röhre in die Schublade in seinem Zimmer – der einzige Ort, wo sie vor Martina sicher waren. In ihr mussten sie sich nur mit einem Notizzettel den Platz teilen, welchen Konrad immer dann herausnahm, wenn er die Becherröhre zurücklegte.
Jetzt waren wieder zwei Wochen verstrichen; vierzehn Tage.
Jetzt war es wieder Montagmorgen.
Jetzt war es wieder exakt Viertel nach neun.
Konrad schlich mit dem Notizzettel in der Hand zum Telefon, welches im Korridor der Wohnung stand. Mühsam, aber gelassen tippte er die aufgeschriebene Telefonnummer Ziffer für Ziffer ein. Endlich würde er wieder ein paar Worte mit seinem Sohn sprechen können.