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Die Wahnsinnsgeschichte
Niemand von ihnen wusste, wo sie waren. Eben noch waren sie in der Stadt gewesen, ihrer Stadt, die sie kannten. Zumindest glaubten sie, sie gekannt zu haben. Das aber konnte nicht mehr ihre Stadt sein, sie standen auf einer grünen Wiese mitten auf einer Lichtung. Vögel zwitscherten, ein seichter Lufthauch an einem kühlen, aber klaren Morgen. Niemand kannte so etwas.
Die Grashalme wehten sanft im Wind, die Bäume rauschten, ein paar Lichtstrahlen fielen durch das Blätterwerk und warfen ihre Strahlen auf den Tau, der das Gras bedeckte. Auch das waren sie nicht gewöhnt. Die Mädchen fröstelten, an ihren Knöcheln bildeten sich herabrinnende Wassertropfen.
Ein paar Vögel flogen herum. Wo waren sie gelandet? Keiner vermochte es zu sagen. Gemeinsam wollten sie zur Schule gehen, durch ein dichtes Beton- und Stahlnetz, eine Abkürzung hatten sie nehmen wollen, ein paar Blocks von der Bushaltestelle entfernt, und dann standen sie schon nicht mehr in der Stadt. Keiner wusste, wie der Übergang ausgesehen hatte. Der Wald war einfach da gewesen, als hätte er sie umschlossen. Nein. Er hatte sie umschlossen, das war keine Illusion gewesen. Timmy stellte sich vor, wie das ausgesehen haben musste, als sie einfach verschwanden, wie Passanten nach ihnen suchten und sie nicht finden konnten und sich dann vielleicht dachten, dass sie das vielleicht doch noch etwas schlaftrunken waren und daraufhin wieder ihrer Tätigkeit nachgingen.
Kyle zündete sich lässig eine Zigarette an. Asche fiel in das frische Gras.
Jennifer hatte sich schon mit dem Gedanken angefreundet, heute einmal nicht die Schulbank drücken zu müssen. Andere folgten rasch. Zusammen saßen sie im Gras oder auf einem umgestürzten Baumstamm am Rande der Lichtung in der Sonne und genossen ihr Pausenbrot und entspannten sich. Man könne ja mit Hilfe des Handys jemanden anrufen. Vorerst bemerkte jedoch niemand, dass keins ihrer Mobiltelefone mehr funktionierte. Erst nach einer Weile bemerkte es Tina. „Mein Handy funktioniert nicht. Komisch, ich habe es doch heute morgen erst aufgeladen.“ Andere folgten rasch. Immer mehr Handys wurden ausgepackt, keines funktionierte. Ratlosigkeit. Was sollte man tun? Ein Feuer machen? Man müsste schon den ganzen Wald abfackeln, damit es jemand sehen würde, äußerte sich Erik zu Wort. Und man könne sich ja doch nicht sicher sein, ob es jemand sehen werde. Wer konnte schon wissen, wo sie hier waren? Die Situation wurde ihnen doch langsam unbehaglich.
Sie räkelten sich hier, auf einer Lichtung in einem Wald, den sie nicht kannten, und sie saßen nicht in der Schule, in der sie hätten sein sollen. Sie saßen nicht in dem Unterricht, der sie wohl doch nicht auf das vorbereitet hätte, was sie hier noch erwarten konnte. Jemand machte den Vorschlag, den Wald zu erkunden, aber niemand wollte in den Wald gehen, da sie nicht wussten, wie groß er war, wie sie wieder zurückfinden konnten, denn die freie Fläche war ihr einziger Orientierungspunkt in dem Meer aus Bäumen.
So blieben sie auf der Lichtung sitzen, ihrer Lichtung. Langsam verstrich der Nachmittag, und aus dem blassen Licht am Morgen und wurde ein kräftiges Gold. Timmy, Erik, und zwei, drei andere waren doch losgezogen, um die nähere Umgebung zu erkunden, hatten aber versprochen, nie außer Sichtweite der Lichtung zu gehen, was im Nachhinein doch hinterfragt wurde. Man sprach kaum miteinander. Erst nachdem die Sonne unterging, wechselte man ein paar Worte, um etwas die bedrückende Stille zu unternehmen. Gestern noch hatten sie kaum zu sprechen gebraucht. Überall war Lärm, und Handys und Computer gaben immer einen Ansprechpartner ab.
Gegen Abend hatte man behelfsmäßig versucht, mit ein paar Ästen einen Feuerplatz freizuschlagen, und ein paar übereinander gelegte Stöcker dienten als Feuerholz. Was hatten sie ein Glück, dass sie Raucher waren. Ihre Eltern hatten es verboten, sie seien nicht alt genug gewesen – jetzt hatten sie einen Grund, Rauchen zu dürfen. Es beruhigte, und es bescherte ihnen Wärme, denn mittlerweile war es bitterkalt geworden. Sie versuchten, auf Holz und Gras, das sie am Feuer gewärmt und getrocknet hatten, zu schlafen. Es hätte Stroh sein können. Doch die kalte Nachtluft hielt sie wach.
So blieben sie noch bis spät in die Nacht wach; einige von ihnen hatten während des Umherschweifens am Nachmittag Beeren und Früchte gefunden, die sie nun aßen. In einem Buch, das sie im Unterricht gelesen hatten, sie glaubten, es hieß Robinson Crusoe, hatte Robin auch nach Früchten und Beeren gesucht. Manche hofften, dass sie nicht giftig seien, aber nachdem andere probiert hatten und es keinerlei Nebenwirkungen zu geben schien, ließen auch sie sich überzeugen und langten in die prall gefüllten Brotdosen, die nun mit allerlei leckeren Früchten gefüllt waren.
Lange starrten sie in den klaren, sternengefüllten Nachthimmel, den sie so nicht kannten. In der Stadt war es nachts fast immer hell – durch Abgase und Lichtverschmutzung nannten es die Älteren. Man konnte dort keine Sterne sehen. Statt sich auf Party zuzusaufen, lagen alle auf dem Rücken und starrten in den Nachthimmel und nach und nach begann man zu sprechen, über die Weite des Universums, die Winzigkeit des Seins und die Kürze des Lebens. Die Oberflächlichkeit in ihrer Sprache verschwand. Man begab sich tiefer, manche lernten an diesem Tag vielleicht auch, wie man zuhört. Irgendwann schliefen sie dann doch ein, mit einer Gänsehaut, und als es morgen wurde, waren sie schon früh wieder wach. Die Sonne ging auf, und wie am Tag zuvor warf sie ihre zarten Strahlen durch das Blätterwerk auf die nun zertretenen und verbrannten Grashalme, an denen kein Tau mehr klebte. Nachdem sie wach wurde, schaute Tina als Erstes auf ihr Handy – kein Lebenszeichen. Das dumme Ding sollte sich endlich melden, schließlich erwartete sie eine Kurzmitteilung einer Freundin. Sie fragte sich, ob ihre Freunding wütend darüber war, dass sie ihr nicht geantwortet hatte. Tina wusste es nicht.
Irgendwann beschlossen sie, den Wald doch etwas mehr zu erkunden. Gemeinsam strauchten sie an einigen Büschen und Bäumen vorbei, gelangten außerhalb der Reichweite der Lichtung und verirrten sich. Sie standen verlassen in einer grünen Hölle, aus der sie nicht wussten wie man wieder herauskommen sollte. Sie schwankten in einem Urwald umher, ließen Baum auf Baum hinter sich, als sie genauso plötzlich wie sie in den Wald kamen schon wieder in den Straßenschluchten standen, unweit dem Punkt, an dem sie verschwanden. Sie wussten nicht, ob es die Realität gewesen war oder nicht. Tina bemerkte es zuerst: Ihre Mobiltelefone hatten wieder Empfang. Es blieb jedoch die zentrale Frage, wo sie gewesen waren. Es hätte ein Traum sein können, wenn nicht noch Erde und etwas Matsch unter ihren Schuhen geklebt hätte. Es hätte vielleicht ein Sprung in eine andere Dimension oder in ein Paralleluniversum sein können, aber gab es so etwas tatsächlich, und auch noch so zufällig? Nach eifrigem Beraten waren sie sich aber in einem Punkt klar: würde ihnen jemand diese Geschichte glauben?