Die Wahrheit am Samstag abend
Während er weiterfuhr, begannen sein Kiefer zu schmerzen, und es wurde ihm bewusst, wie hart er die Zähne zusammen biss. Er verstärkte den Druck noch, bis es in den Schläfen summte. Der körperliche Schmerz tat gut, passte zu den Schmerz, den er auf dem Herzen hatte. Er hatte sich furchtbar weh getan, und obwohl von Anfang an klar war, dass es so kommen würde, war er von der Realität des Schmerzes überrascht.
Vor zwei Tagen war er ebenfalls im Auto durch die regnerische Nacht gefahren, aber die Schmerzen waren andere gewesen. Da war es noch das Verlangen, das so intensiv war, dass es schmerzte. Das Verlangen nährte die Nervosität, und er hatte einen kurzen Moment sogar Angst, einen Unfall zu bauen, so sehr schüttelte es ihn. Gleichzeitig war er absolut klar und hellwach, und ein Unfall lag in Wirklichkeit völlig fern, weil es viel zu wichtig war, sein Ziel zu erreichen. Er parkte hinter dem Krankenhaus, wie verabredet. Der Kollege vom Spätdienst mußte nicht wissen, wen er hier abholen wollte. Der war sowieso viel zu neugierig. Mit der attraktivsten Frau auf der Station auszugehen, war für sich allein Bestätigung genug. Gerade weil Neid und Bewunderung der Kollegen so groß gewesen wären, konnte er gut ohne sie auskommen.
Er fragte sich, ob er völlig verrückt sei, oder ob sein Gefühl vielleicht doch nicht trog. 15 Jahre Altersunterschied, damit war klar, dass aus dieser Geschichte nichts werden konnte. Er wollte Andrea natürlich auch keinen Heiratsantrag machen. Die 15 Jahre für eine Nacht vergessen, sich einmal an Ihrer Jugend und Schönheit wärmen, würde ihm völlig reichen und war schon mehr, als er realistisch erhoffen konnte. Es würde ihn mit Brennstoff für die nächsten Wochen versorgen, und sein Tank war schon lange auf Reserve.
Er ließ die Cassette laufen, die er im Moment am liebsten hörte. Mary Black: "Love can save a weary heart, or it can tear your soul apart. I would rather take that chance, then to never trust again." Sonst passte die Musik gut zu ihm, aber heute waren die Erinnerungen, die sie mitbrachte, störend; für das, was er vorhatte, zu traurig. Ein Mädchen von 21 konnte man nicht mit Trauer und Intensität beeindrucken. Und, ehrlich gesagt, war “love” eindeutig eine zu vornehme Umschreibung für das, was Ihn antrieb. Der Soundtrack der Rocky Horror Picture Show hob die Stimmung schon eher in einen Bereich, der ihn über die vor ihm liegenden, unvermeidlichen Peinlichkeiten hinwegtragen konnte. "Don't dream it, be it".
Er stellte den Wagen etwas abseits auf den Parkplatz und ging zum Hinterausgang. Die kühle Luft half. Er wunderte sich, wie sich seine Vorstellung des kommenden Abends plötzlich, quasi ohne sein Zutun, materialisiert hatte. Einkaufen, Zutaten für einen Gemüseauflauf, um später zusammen zu kochen. Aufräumen, Sachen, die seit Wochen irgendwo rumlagen, war plötzlich ganz einfach. Sogar das Bett hatte er schnell noch frisch bezogen. Die Vorstellung, mit ihr vielleicht auf dem Laken zu liegen, das er schon mit einer anderen Frau geteilt hatte, gefiel ihm nicht. Andererseits ein schlechtes Omen, die Idee zu konkret werden zu lassen. Versuch’ es nicht, und es wird klappen.
Die zweite Zahnbürste, die immer noch im Bad stand, ließ er im Schrank verschwinden. Eigentlich könnte er sie eben so gut wegwerfen. Schon wieder ein Omen: sie nicht wegzuwerfen, machte die Trennung von Martina irgendwie weniger endgültig, so, als könnte sie jederzeit wieder zurückkommen, hier übernachten. In den kleinen Entscheidungen kehrte der Schmerz der großen Entscheidungen immer nochmal zurück.
Das “offizielle” Programm des Abends sah bisher noch anders aus. Sie wollten tanzen gehen, klassisch, nicht einfach nur abtanzen. Die richtige Unterhaltung für einen Mann Mitte dreißig. Er hatte deswegen sogar ‘rumtelefoniert, aber es gab offenbar gar kein Lokal, in dem so etwas angeboten wurde. Das Tanzen gehen war ihre Idee, und er wertete es als Versuch, körperliche Intimität auszutauschen, ohne dadurch Verpflichtungen einzugehen. Warum also nicht die Schraube noch ein bisschen weiter drehen, und den Abend gleich an einem Platz starten, von dem aus alles weitere möglich war?
Er hatte ein sicheres Gefühl, mit dieser Idee nicht auf Ablehnung zu stoßen, und das war wichtig dafür, sie überhaupt auszusprechen. Sie war ihm vorhin, bei der Arbeit, sogar zuvorgekommen mit der Frage, die ihm selbst auf der Zunge lag: "hast Du heute abend schon was vor?", hatte noch eine kleine Abschwächung vorangestellt: "Ich bin jetzt mal total dreist und frag dich."
Er dachte über ihre möglichen Motive für diesen Vorstoß nach. In der vorigen Woche waren sie einmal zusammen ins Kino gegangen, ein Projekt, das er schon seit fast einem Jahr mit sich herumtrug, seit Andrea auf der Station neu angefangen hatte. Er hatte die Faszination, die von ihr ausging, unterdrückt und geglaubt, mit dem Thema fertig zu sein. Als er jetzt erfahren hatte, dass Andrea gekündigt hatte und in drei Wochen wegziehen würde, waren seine Gefühle mit unverminderter Heftigkeit zurückgekehrt. Es war ziemlich klar, dass das Thema "Schwester Andrea und der Doktor, dessen Name mit t aufhört" auf der Station schon 'rum war, sie selbst hatte es mit diesen Worten angedeutet. Ein Kollege hatte es krass so formuliert: "Was willst Du von einer Frau, die allein aufgrund der Tatsache, dass Du Arzt bist, schon ein feuchtes Höschen bekommt?” Er sah das nicht so, und selbst wenn, wäre es ihm egal gewesen. Idiot hörte auch mit t auf.
Gerade als er etwas abseits unter ein Vordach geflüchtet war, weil das nass werden im Regen eindeutig die Vorteile eines klaren Kopfes zu überwiegen begann, kam Andrea aus der Tür und kuckte sich suchend um. Er spurtete zu ihr hinüber. Sie war in Feierabendlaune, "light-hearted" hätte er es auf Englisch bezeichnet (ein passendes deutsches Wort fiel ihm nicht ein, “leichtherzig” lag eine entscheidende Nuance daneben), und war offensichtlich geneigt, das am Nachmittag begonnene Spiel weiter zu spielen. Ob er Mitspieler oder Spielball war, würde er bald wissen, und es war ihm egal.
"Wo fahren wird jetzt eigentlich hin? Ich muß erstmal was essen."
"Ich hab'n bisschen was eingekauft, wenn du willst, können wir zu mir fahren und kochen"
"Was denn?"
"Gemüseauflauf"
"Oh, geil."
Die betonte Ruhe seines Fahrstils war ein krasser Gegensatz zur Aufwühlung in seinem Inneren. Wie würde ein 21jähriger jetzt fahren? Wie wäre er gefahren, als er 21 war? Irgendwie kamen sie an, gingen rauf, standen in seinem Zimmer. Vorräte ausbreiten, Töpfe auf den Herd."Ich kann ja mal den Broccoli putzen", schlug sie vor. Als sie vor der Spüle stand, konnte er nicht anders, als die Arme um sie zu legen. In dieser Situation fand er Frauen immer besonders verführerisch. Warum die Entscheidung über den weiteren Verlauf des Abends nicht jetzt hinter sich bringen? Sie versteifte sich, sagte "Oh, oh", das reichte schon, um ihn zu verscheuchen. War das das schlechte Gewissen des Lustgreises, der unschuldige Mädchen nach Hause lockt, oder fehlendes männliches Selbstbewusstsein? Er sah sich in dieser Situation immer als Lustgreis, der sich den reinen jungen Dingern mit schmutzigen Absichten näherte. Früher vielleicht mehr als Lustjüngling, das mit dem Greis war eine Verschärfung, die die Jahre so mit sich brachten.
Das Essen war sehr lecker, Reispfanne mit Gemüse - Auflauf hätte länger gedauert. Leider schlug gut Kochen können nicht auf das Konto “männliches Selbstbewußtsein” zu gute. Sie tranken Wein, und Andi sagte dazu "ich glaube, ich habe Lust, mich heute zu besaufen". Das machte seine Nervosität nicht besser, denn das Motiv war ja überdeutlich, die Intimität hing geradezu greifbar im Raum. Er verfluchte im Geiste seine zu kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Jetzt fehlte mal wieder das Sofa, die natürliche Zwischenstufe zwischen Esstisch und Bett. Ersatzweise rückte er mit dem Stuhl auf die andere Seite, sie sassen Schulter an Schulter, und er goss Wein nach. Die Pläne, noch tanzen zu gehen, schmolzen dahin.
"Ich find’ es hier ganz gemütlich", sagte Andrea, und das unschuldige Lächeln, dass diese Anspielung begleitete, machte alles nur noch spannender. Er war überhaupt nicht müde, ein guter Gesprächspartner, "light-hearted" und intensiv, und das über 3 Stunden und 5 Gläser Wein. Erstaunlich, was die Hormone aus einem Mann machen konnten. Sie rauchte, er rauchte eine mit und stellte sich dabei vor, sie zu küssen, dabei den Rauch in sie zu blasen, beizend und süß zugleich. Als Nichtraucher stieg ihm das Nikotin zu Kopf fast wie Schnaps. In solchen Momenten konnte er sogar den Reiz der Zigarette verstehen, eine Mischung aus Aufbäumen gegen die Vernunft und Todessehnsucht. Bei der nächsten Zigarette ging sie auf den Balkon, er leistete ihr Gesellschaft, und als er sie mit seinem Körper vor der Kälte schützte, war sie weich und zerbrechlich und entzog sich ihm nicht.
Sie sagte "die frische Luft haut mich jetzt endgültig um" oder etwas in der Art und er sagte - wie vernünftig - wir trinken den Wein jetzt nicht mehr aus und gehen besser ins Bett. Er zündete die Kerzen auf dem Nachttisch an, gab ihr eine Zahnbürste und ein T-shirt. Andrea war lange im Bad, er danach nicht, und als er wiederkam, fand er sie kaum unter den Decken. Er schlüpfte hinter sie, in die Löffelchen-Stellung, und legte seine langen Arme um sie. Sie war zart, leicht und zerbrechlich, wie Eva am ersten Morgen im Paradies. Seine Erregung, wie gut kannte er das, war ganz im Kopf und in der Brust, wo das Herz fühlbar hämmerte, aber dem “männlichen Selbstbewusstsein” kam von all dem Blutfluss nichts zu gute.
"Mir ist schlecht" sagte sie und ging nochmal ins Bad, aber ohne Erfolg. Er stellte sicherheitshalber einen Eimer ans Bett. Dann wirkten der Alkohol und sein Vorsatz, sich nicht halb besinnungslos über eine angetrunkene Frau herzumachen, wahrscheinlich auch in dieser Reihenfolge.
Um 6:30 Uhr kehrte, wenig Schlaf und viel Alkohol zum Trotz, die Realität zurück. Kein Kater, er hatte also noch rechtzeitig aufgehört. Um 8 Uhr stand er auf, ging nach nebenan und machte Kaffee. Früher wäre er aus Rücksicht den ganzen Morgen durch die Wohnung geschlichen, seine Nachtgäste schlafen lassend, aber dabei kam er regelmäßig schlecht drauf. Er war schließlich hier zu hause, eben so gut konnte sie auch wegen der frühen Störung schlecht drauf sein. Außerdem würde das ihre gemeinsamen Stunden noch ein kleines bisschen verlängern. Andrea hatte schließlich gesagt, sie müsse Mittags nach Hause, weil Leute ihre Wohnung ankucken wollten. Noch 16 Tage arbeiten, dann ginge sie zurück nach Schwerin, wollte dort mit ihrem Freund in eine gemeinsame Wohnung ziehen.
Er wollte kein "Morgen danach"-Gefühl aufkommen lassen, und hätte das auch maximal ungerecht gefunden, mit dem "danach"-Gefühl zahlen zu müssen, ohne das “davor” bekommen zu haben. Er backte noch Brötchen auf und kam auf die Idee, sie könnte ja im Bett frühstücken. Andrea machte dabei den Fernseher an, nach einem ganzen Abend ohne fernsehen wäre sie ja schon auf Entzug. Dann kam sie nochmal auf die Rückenmassage zu sprechen, die er ihr am Abend vorher angeboten hatte, und er ging gerne darauf ein.
Die nicht aufgelöste Spannung begann sich wieder einzustellen, als sie das T-shirt hochschob und er das Öl auf ihrem Rücken verteilte. Wieder traf ihn die Überraschung, wie zart und zerbrechlich dieser magere Körper unter seinen Händen wirkte. Dabei kam auch das Herzklopfen wieder, und zum Abschluss zog er selbst auch sein T-shirt aus und legte sich auf sie.
Sie suchten Zuflucht zum Reden. Andrea sprach davon, dass sie in solchen Situation immer unter den Achseln wahre Bäche schwitze (was auch stimmte), dass sie kalte Hände habe, dass sie ziemlich passiv sei, weil sie ja einen Freund habe und diesmal keine Dummheiten machen wolle. Dabei gab sie mehr und mehr von sich preis, lag schließlich auf seinem Schoß, Bauch und Brüste offen für seine vorsichtigen Vorstöße. Als seine Hand an ihrem Höschen angekommen war, war die Zeit so weit fortgeschritten, dass sie dringend nach Hause mußte, um die Wohnungsbesichtiger nicht vor der Tür stehen zu lassen. Er brachte sie mit dem Auto weg, natürlich, und stand noch etwas in der halb leeren Wohnung herum, den Moment des Abschiedes hinauszögernd. Von ihr kam der Vorstoß, sich abends wieder zu sehen, und sie nahm seinen Vorschlag auf, in die Sauna zu gehen, das habe sie noch nie gemacht. Sie wollte auch einen Termin abmachen, nicht "wir telefonieren noch", 18 Uhr sollte es sein.
Der Nachmittag verging irgendwie mit Übersprungshandlungen. Zu Dingen, die mehr Initiative gebraucht hätten als Geschirr spülen und Wäsche waschen, war er nicht in der Lage. Er fuhr noch mit dem Fahrrad in die Stadt, um Bewegung zu haben, und kaufte irgend etwas ein. Passte den Hin- und Rückweg so ab, dass er beide male in einen kräftigen Schauer kam, aber der Regen war für ihn schon sehr lange ein guter Bekannter, und er empfing ihn freundlich. Aus den Resten vom Abend ließ sich ein gutes Mittagessen kochen, er packte die Sporttasche und kuckte dabei auf die Uhr, wann es endlich spät genug sei, um wieder loszufahren, und dann war es 17.30 Uhr.
Andrea war noch völlig im Chaos, packte Sachen ein - obwohl sie doch erst in drei Wochen umziehen wollte - und suchte in den Sachen, die schon eingepackt waren, nach einem Handtuch. Die, die sie fand, trugen Motive von Pärchen in verfänglichen Stellungen. Sie sagte, sie habe schon Zahnbürste und Schminke eingepackt, sie wisse ja nicht, wo sie übernachten werde, diesmal wolle sie vorbereitet sein. Dann klingelte das Telefon, und sie unterhielt sich gut aufgelegt mit dem Anrufer. Es war Stefan, den Namen hatte sie schon mal erwähnt, und sie wollte sich mit ihm am späteren Abend in einer Disco treffen. Sein Vorstellung für den Verlauf des Abends nach der Sauna umfassten nicht direkt einen Besuch in der Disco, aber Andrea wollte doch so unverschämt sein und gerne noch in Siegburg abgesetzt werden, gut und gerne ein halbe Stunde Umweg. Er könne dann ja noch überlegen, ob er Lust habe, mitzukommen.
Der Besuch in der Sauna war aufregend und entspannend zugleich. Andrea war aufgekratzt, weil sie die Atmosphäre und das Wechselspiel von Hitze und Kälte nicht kannte. Dann kam der Moment der Rückfahrt. Andrea zog sich schon in der Umkleide Disco-mäßig an, rief neckisch zu ihm rüber: "Ich zieh jetzt was an, da wirst Du nicht mehr von meiner Seite weichen", und sie hatte nicht zu viel versprochen, erschien in einem bauchfreien Top aus schwarze Spitze. Er fühlte, dass der Abend eine andere Richtung nehmen würde, als er sich das ausgemalt hatte, und versuchte halbherzig, dem Lauf der Dinge noch eine andere Wendung zu geben. "Kannst Du nicht mit dem Auto nach Siegburg fahren und es mir später wiederbringen?" Damit wäre sie verpflichtet, nochmal bei Ihm aufzutauchen, sei es im Laufe der Nacht oder am nächsten Tag, Sonntag. Andrea hatte zwar vorher noch von ihren Fahrübungen ohne Führerschein mit der Mutter ihres Freundes berichtet, aber jetzt ganz allein ein fremdes Auto zu fahren, war ihr doch zu gefährlich. So blieb ihm nichts anderes übrig, als doch noch Lust zu einem Disco-Besuch zu bekommen, und er gab Gas. Die Rückseite der Rocky-Horror-Cassette war mit Joe Cocker bespielt, und seine Stimmung schwankte zwischen "Unchain my heart" und "You can leave your hat on".
Er sorgte dafür, dass sie den Weg fanden, fragte sich durch und düste mit für ihn unüblichem Schwung durch das nächtliche Siegburg. Die Disco "Tanzbaum" entsprach ziemlich genau seinen Erwartungen. Am Eingang standen ein Paar Kerle, hinter denen er sich lässig hätte umziehen können, und es gab Schwierigkeiten wegen Andreas Rucksack, den sie wieder zum Auto bringen mußte. Dies sicherte ihm zumindest für den weiteren Abend noch einen Moment des Abschieds, denn auch, wenn sie mit Stefan zurückfahren würde, mußte sie sich vorher den Rucksack holen. In der Disco war es voll, stickig, und er empfand in dem Gedränge eine unterschwellige Aggressivität. Von der Musik hörte man nur die Bässe, der Rest war ohnehin nicht interessant. Andrea machte einen Rundgang, was einige Zeit dauerte, und er überlegte in der Zwischenzeit, seinen aus der Sauna mitgebrachten Hunger zu stillen. Irgendwie war ihm aber der Appetit vergangen.
Sie bezogen einen Tisch in der Nähe des Einganges und bekamen bald Gesellschaft. Ein aufdringlicher Schwachkopf, halb betrunken und auf dem besten Wege, vollends betrunken zu werden, begann ein Gespräch mit den Worten, er vermisse sein Bier und wolle denjenigen hauen, der es weggenommen habe. Da er sein Bier leider wiederfand, blieb er auch gleich an ihrem Tisch und klärte ihn auf, er fände es hier voll Scheiße und würde gleich wieder nach Köln zurückfahren.
Andreas Augen ruhten mehr auf dem Eingangsbereich als auf ihm, und ihre Mundwinkel zeigten nach unten. Sie sah häufig auf die Uhr, und er begann zu hoffen, dass sie den Heimweg doch noch gemeinsam antreten würden, gleichzeitig war er sich ziemlich sicher, dass dieser Weg nicht im selben Bett enden würde. Inzwischen wurde die Gesellschaft am Tisch durch eine Gruppe von Frauen bereichert, die ihren männerfreien Abend feierten. Die Anführerin hieß Monika, hatte geschätzt 40 kg Übergewicht und begrüßte alle Umstehenden mit Handschlag. Der Schwachkopf brüllte ihm ins Ohr, für die da drüben habe es wohl nicht mal bis zur Friseuse gereicht, und überhaupt wäre es hier voll Scheiße und er würde gleich wieder nach Köln fahren. Monika benutzte ihn und Andrea als Prellbock, da der Schwachkopf sie in ein Gespräch verwickeln wollte. Obwohl er übergewichtige Frauen nicht mochte, war Monika ihm sympathisch, denn zwischen dem bierseligen Gelaber ließ sie echtes Interesse erkennen.
"Ihr seid aber ein hübsches Paar", sagte sie nebenher, "wie lange seid ihr denn schon zusammen". Andrea wollte darauf hinweisen, dass sie kein Paar seien, aber er unterbrach sie mit den Worten "seid gestern". Monika verbreitete diese Nachricht gleich weiter und bot sich an, Trauzeugin zu werden. Er dachte inzwischen darüber nach, wie recht sie hatte, zumindest was den weiblichen Part des Paares anging, und stellte fest, dass Andrea von den übrigen Besucherinnen des Ladens, soweit sein Auge reichte, meilenweit abstand. Der Klotz in seinem Bauch wurde kälter, und er legte gelegentlich leicht den Arm um Andreas Hüften, um wenigstens von den anderen Männern am Tisch einen neidischen Blick zu ernten. Dieser kleine Triumph hatte allerdings einen extrem bitteren Beigeschmack.
Andrea machte noch einen Rundgang, und Monika war mit ihren Erkundigungen inzwischen soweit vorgedrungen, dass sie im Groben über die Verhältnisse zwischen Andrea und ihm Bescheid wusste. Sie gab gute Ratschläge, meinte, der andere Kerl sei ja wohl ein Grund, kein Hindernis, und er solle das Mädel beim nächsten Schmusestück mal auf die Tanzfläche schleppen. Er lächelte, nickte und sah gelegentlich auf die Uhr.
Andreas Stimmung sank mit Fortschreiten der Zeit, und schließlich war es 1 Uhr, sie wollte fahren. Zwischen Garderobe und Ausgang lagen die Toiletten, und als sie daran vorbeigingen, tauchte Stefan aus der Tür auf. Andrea begrüßte ihn mit offensichtlicher Freude, ihr Gesicht erhellte sich schlagartig. Stefan strahlte ebenfalls offen und gut gelaunt. Beide waren sich offensichtlich sympathisch. Er wurde höflich vorgestellt, und es kostete ihn erhebliche Mühe, ein guter Verlierer zu sein. Nun mußte noch die Tasche aus dem Auto geholten werden. Andrea tänzelte neben ihm her, und offenbar wurde ihr auch gerade klar, wie ihr Stimmungsumschwung auf ihn wirken mußte. Sie sagte: "mir hat es auch nicht besonders gefallen, mal sehen, ob ich jetzt besser draufkomme", sorgte sich, ihm den Abend verdorben zu haben, bedankte sich für seine Fahrdienste und dafür, dass er mit ihr zusammen ausgehalten habe. Zum Abschied drückte sie ihn herzlich, als er sie aber küssen wollte, sagte sie: "mehr gibt es nicht."
Benommen stieg er ins Auto und rollte los. Er entschied sich, nicht über die Autobahn zu fahren, denn er hatte es nicht mehr eilig, anzukommen. Der Schmerz in seinem Kiefer hielt ihn konzentriert. Vor ihm wurde eine Ampel rot. Er fuhr darauf zu, bremste nicht, und einen kurzen Moment schien es das Natürlichste auf der Welt, weiterzufahren, krachend und splitternd mehr Schmerzen zu verursachen und seiner Wut freien Lauf zu lassen. Er bremste, und in diesem Moment setzte der Querverkehr ein. Die Ampel wurde grün, und er fuhr weiter. Die Nacht würde lang werden.