Mitglied
- Beitritt
- 09.12.2003
- Beiträge
- 8
Die Wahrheit liegt hinter dem Offensichtlichen
Meine Augen waren tränennass, als ich versuchte die Tragweite der Worte zu verstehen, die ich in meinen Händen hielt. Ich wusste, dass es mich in die Tiefe reißen würde, dennoch versuchte ich noch angestrengter, hinter den Sinn dieser Botschaft zu blicken. Im Grunde wusste ich, was die wohlüberlegten, mit klaren Linien gezeichneten Worte bedeuteten, doch mein Geist versuchte mich vor dem Schmerz zu schützen, der hinter all dem lag.
„Mein Schicksal liegt in Gottes Händen. Mit Flügeln werde ich auferstehen und das Paradies finden.“
Stets hatte sie sich danach gesehnt ein Engel zu sein und durch Gott ins Paradies zu gelangen, um ewig währenden Frieden zu erleben. Sie hat aufgeben... Sie wollte ihrem Schmerz entkommen, der sie in der Tiefe der Nacht weinen ließ. Plötzlich sah ich es, sah ihren fanatischen Gedanken, der sie dazu trieb, immer näher an den schmalen Rand des Daches vorzurücken. Ein Lächeln ziert ihr sanftes Gesicht. Und dann konnte sie fliegen...
Ich schrie, schrie meinen Schmerz hinaus, und alles was blieb, war die stechende Wut, die brennend in meinem Herzen entflammte.
Ich weiß, dass die Welt kalt ist, doch gleichermaßen ist sie auch perfekt. Die Menschen streben so sehr danach, das Paradies, die eigene Vollkommenheit zu finden, dass sie nicht einmal merken, dass es vor ihnen liegt. Adam und Eva wurden nicht verbannt! Gott nahm ihnen die Fähigkeit, hinter das Offensichtliche zu blicken. Mit geöffneten Augen stolzieren sie blind durch die Welt und das Schlimmste daran ist, dass sie es einfach nicht wissen. Die Natur, die noch geblieben ist, ist das Paradies. Es liegt direkt vor uns, doch zerstören wir es, weil wir nicht die Schönheit darin erkennen. Statt uns gegen unsere Erblindung zu wehren, glauben wir der Kirche, die uns nach dem Tode das Paradies verspricht (Alles natürlich unter der Vorraussetzung, dass wir immer brav nach den Geboten gelebt haben.).
Und auch Engel erkennen sie nicht. Nie war die Sehnsucht nach den himmlischen Wesen so groß wie heute. Ich wollte es ihr erklären, wollte sie anschreien, dass sie nichts davon verstünde. Sie wusste so wenig darüber, was es bedeutete, ein Engel Gottes zu sein.
Wesen brauchen das Leid, um das Glück zu erkennen. Diese Zustände bedingen einander. Wenn man nur leidet, zerstört es einen, wenn man nur Glück empfindet, überkommt einen die Verzweiflung, weil etwas fehlt. Aber zusammen... zusammen ergeben sie eine Harmonie, die für das Seelenheil notwendig ist. Durch Leid wird die Erkenntnis geboren und der Weg zum Glück öffnet sich.
Engel Gottes können kein Leid empfinden. Warum?? Weil Gott es nicht will! Er versteht sein eigenes Leid nicht. Ja, auch Gott leidet. Warum wohl schart er all die Engel um sich und nimmt ihnen ihre Freiheit, alles zu fühlen? Er ist einsam. Er möchte den Engeln den Schmerz ersparen und pflanzt ihnen damit eine Naivität ein, die sie zwar trauern lässt, doch ist es eine leichte, nicht verletzende Trauer. Keiner von ihnen wird je wieder das Leben spüren, das einen durchströmt wie der Puls der Welt, wenn man aus dem Dreck aufsteigt.
Gott wollte auch mich bei sich aufnehmen, doch ich stieß ihn fort. Ich entsagte Gott mit reinster Seele und fiel in endlose Tiefen. Er nahm mir meine Flügel, doch meine Freiheit behielt ich. Ich leide und bin glücklicher als je zuvor.
Und während all diese Gedanken in einem unvorstellbaren Tempo meinen Geist ins Chaos stürzten, sah ich es... Klar und deutlich waren die Bilder, die Gott mir sandte. Und ich hasste ihn dafür!
Ich sah sie in gleißendem Licht auferstehen, sah die weißen Flügel, sah ihr staunendes Gesicht, mit dem sie sich betrachtete. Ich wusste, dass sie bei ihm bleiben würde. Die Wunden in ihrer Seele schlossen sich, doch mit diesem Vorgang kam auch das Vergessen.
Das Bild verschwand und ich blieb fröstelnd allein zurück. Ich schaute aus dem Fenster. Trist...
Es hatte begonnen zu regnen. Die Tropfen, die unerträglich laut zu Boden fielen, formten den Klang des Trauerspiels.
Der Himmel weinte nicht um den Verlust eines geliebten Menschen.
Er weinte, weil ein Engel Gottes geboren ward...