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Die Wahrsagerin - Eine Begebenheit aus vergangenen Zeiten
Die Wahrsagerin - Eine Begebenheit aus vergangenen Zeiten
- Ich lese Ihnen aus der Hand, sagte sie, wobei der reiche Schmuck toll gegeneinanderschlug und einladende Klänge erzeugte.
Der doch junge Mann blickte etwas verwundert, wenn auch gleichgültig drein, blieb aber dennoch stehen. Sie sprach weiter:
- Na, haben Sie Lust, es soll nicht zu Ihrem Nachteil gereichen.
Immer noch etwas unschlüssig dachte der junge Mann zwar nicht an die Annahme dieses Angebots, an ein Weitergehen aber genausowenig. Irgendetwas fesselte ihn. War es der Geruch, den er von hinter der Frau aus dem aufgeschlagenen Zelt herzukommen vermutete? Die freundlich warme, sympathische Stimme der Frau? Die Stimmung an sich, die sich aus dieser besonderen Aufforderung und seinem Nicht-wissen-wohin zusammensetzte? Vielleicht half all das ein wenig zusammen, als er ohne ein Wort gesagt zu haben unter den von ihr hochgehobenen Vorhang in das Zelt ging.
Dieses orientalische Klingeln, das ihm schon bei der Frau aufgefallen war, vermehrte sich durch das Bewegen des Vorhanges, denn im Inneren des Zeltes hingen an den Stoffwänden allerlei Accessoires herum, die jedoch keineswegs den Anschein von Kitsch oder Dubiosität hatten, die bei - der junge Mann konnte sich des Eindrucks nicht erwehren - Wahrsagern doch wahrscheinlich so häufig anzutreffen sind. Versonnen blickte er die unzähligen Utensilien an. Ein Gefühl der Wärme, der Geborgenheit überkam ihn. So wie er es in seiner Kindheit auch oft verspürt hatte. Bei dem Gedanken an seine Kindheit mußte er fast lächeln, so beschämt machte ihn die Tatsache, daß er die Atmosphäre in diesem Zelt mit Erinnerungen aus seiner Kindheit verglich.
Da begann die Frau wieder zu sprechen, aber er verstand nichts von alledem, er hatte keine Möglichkeit, keine Lust, keine Sinne dafür übrig, sie zu hören und zu verstehen. Wahrscheinlich mußte es sich um eine Aufforderung Platz zu nehmen gehandelt haben, er setzte sich ohne etwas zu sagen auf einen Stuhl, der an dem kleinen Tische in der Mitte des Zeltes stand. Vielleicht würde er durch den Abend kommen, ohne ein einziges Wort sagen zu müssen. Er dachte, daß es doch bisher ganz gut liefe, wo er doch auch noch nichts gesagt hatte.
Die Frau machte noch ein paar Schritte rund um den Tisch, ohne daß sich der junge Herr beobachtet vorkommen hätte müssen, dann setzte sie sich auf den Stuhl gegenüber. Die von ihm erwartete, geheimnisvolle Glaskugel in der Mitte des Tisches fehlte. Träumerisch, wie von weit entfernt sah er die Frau an, ganz beiläufig, das Gegenteil vom Anstarren. Trotz des mitreißenden Jahrmarktrummels hatte er noch nichts getrunken, trotzdem war es ihm irgendwie benommen zumute. Eigenartig, so gelöst, befreit.
Sie begann diese eigentümliche Sitzung mit der Frage:
- Wie geht es Ihnen heute? Und ohne auf die Frage eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter: Glauben Sie, es könnte Ihnen besser gehen?
Der junge Mann wußte nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Sicher, es ging ihm gut, womöglich verlangte er gar nicht danach, daß es ihm besser ginge. Er sagte die vielfach gesprochenen Worte - Ich kann mich nicht beklagen - aus ihm heraus. Dies aber nahm die Frau als Aufforderung hier einzuhaken:
- Das heißt, Sie sind wunschlos glücklich? Ihnen fehlt nichts, Sie wollen nichts ändern, Sie bedrückt nichts?
Die Fragen standen im Raum, und angesichts dieser kleinen, nicht böse gemeinten Vorwürfe, kam sich der Mann vielleicht doch nicht so zufrieden vor. Er fühlte sich dennoch genötigt zu antworten.
- Nun, im Allgemeinen bin ich ja wirklich zufrieden. Was sollte ich mir schon groß wünschen? Er überlegte, woran es ihm fehlen könnte.
- Vielleicht, sagte er dann, habe ich zuwenig Zeit manchmal. Aber wer hat das nicht? Ja, das wäre vielleicht das einzige, etwas mehr Zeit für mich zu haben.
- Da sind Sie nicht der einzige. Zeit kann jeder gut gebrauchen, doch Zeit muß man sich nehmen, jeder hat genügend, doch muß sie auch richtig eingeteilt werden. Wenn einer sagt, er habe zuwenig zeit für sich selbst, dann liegt das nur an ihm selbst.
Sie ließ diese Binsenweisheit wirken, dann sagte sie:
- Schauen Sie, wenn Sie nicht einen so herzerweichenden Eindruck auf mich machen würden, würde ich Ihnen das alles gar nicht sagen.
Der junge Mann horchte auf.
- Wenn Sie nicht Sie wären, dann würde ich Sie hier hinsetzen heißen, Ihre Hand nehmen und Ihnen ein wenig aus der Zukunft erzählen, so ich das vermag. Doch machen Sie auf mich einen anderen Eindruck, als daß Sie von mir die Zukunft wissen wollten, Sie sind auf der Suche nach etwas Anderem. Nach etwas, das ich nicht kenne und das mir auch keine Vorteile oder Erkenntnisse brächte, wüßte ich es. Es ist Ihre verhaltene Art mich fragend anzublicken, obwohl Sie das vielleicht gar nicht beabsichtigen. Ihre Zurückgehaltenheit, wie Sie in mein Zelt gekommen sind, sich auf den Stuhl gesetzt haben. Wenn ich nur Kunden wie Sie hätte, dann könnte ich genausogut mit meinem Geschäft hier aufhören.
Worauf sie eine kurze Stille folgen ließ, die aber nicht schlechtes Gewissen hervorrufen sollte. Dennoch sah der junge Mann etwas entgeistert drein, wenn auch nicht schlechten Gewissens. Ihn hatte das alles lediglich etwas aufhorchen lassen was er eben gehört hatte. Und es sollte noch weitergehen:
- Warum sind Sie eigentlich wirklich hier hereingekommen? Was war wirklich Ihr Beweggrund? Neugier allein wird Sie wohl kaum so gefesselt haben können, dazu sahen Sie mir etwas zu gleichgültig, zu unangerührt aus. Ich hoffe, ich trete Ihnen damit nicht zu nahe, es ist einfach so, wie ich empfunden habe. Langeweile kann es auch nicht gewesen sein, Langeweile treibt die Leute nicht in mein Zelt, Langeweile treibt sie zu Attraktionen oder zum Heurigen, nicht?
Er wußte nichts darauf zu sagen, er sah bloß drein.
- Was war es, junger Mann?, fragte sie ohne bohrenden Unterton.
Er sah komplett unbeteiligt drein, gar nicht so, als hätte man ihn gerade etwas gefragt, eher so, als würde er irgendwo auf einem Bahnsteig auf jemanden warten. Mehr aber auch schon nicht und dennoch faßte er sich und stammelte:
- Ich weiß nicht, keine Ahnung, vielleicht der Reiz des mir so ganz und gar Unbekannten. Sie müssen wissen, ich war noch nie bei einem Wahrsager und heute hat es mich vielleicht auch ein wenig gereizt, genauer kann ich es Ihnen aber auch nicht sagen. Schon gar nicht, was ich mir von diesem Besuch erwarte, denn ich habe keine wirklichen Erwartungen, wenn ich doch nicht einmal genau weiß, warum ich jetzt hier bei Ihnen sitze. Ich dachte vielleicht, das wäre alles ein wenig unverbindlich. Doch ich habe mich vermutlich getäuscht. Ich habe mir halt vorgestellt, und bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, eine mehr oder weniger belanglose Attraktion zu sehen, wie es so viele auf diesem Jahrmarkt gibt, das müssen Sie selbst zugeben, bei so einer Menge an Läden und Buden. Ich suchte etwas Zeitvertreib vielleicht, je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich finden, warum ich mich veranlaßt gefühlt habe, in dieses Zelt zu gehen. Ich hätte auch sonstwo hingehen können, aber bei so vielen Buden sind derart widerwärtige Ständler, die ich schon von weitem meide, ihr Geschrei, ihre unangenehme Aufdringlichkeit, der Bierdunst, der über allem schwebt, das ist mir alles zuwider.
Vielleicht sind wir von der Wahrheit nicht so weit entfernt, wenn wir vermuten, der junge Mann brauchte jemanden zum Reden.
- Und ich war Ihnen dann nicht zuwider?, fragte sie, ohne eine Anspielung machen zu wollen, nur als eine Gegenfrage, die den jungen Mann zum Weiterreden ermutigen sollte.
- Was heißt zuwider. Ich habe einfach eine Abwechslung gebraucht, etwas, das mich aus meinem Tag reißt, das mich ein wenig vergessen, ein wenig sorglos macht für eine Stunde oder zwei. Und vielleicht habe ich ja hier bei Ihnen ein paar solche Augenblicke gefunden.
- Das wird sich erst herausstellen, sagte sie, bisher sind Sie ja nicht recht viel zum Ausruhen gekommen, immerzu müssen Sie reden, weil ich Ihnen eine Frage nach der anderen hinwerfe und Sie so freundlich sind und mir alle zu beantworten versuchen. Das ist wohl nicht die richtige Entspannung, die Sie suchen, oder?
- Zumindest besser als der restliche Tag, sagte er und beschwichtigte mit einer Handbewegung die Befürchtungen der Frau.
- Ich will dennoch hoffen, daß Sie sich vielleicht doch noch ein wenig entspannen können. Zeit genug habe ich ja. Sie sind schließlich erst mein zweiter Gast heute, es ist schon relativ spät und ich glaube nicht, daß sich noch jemand hereinverirren wird. Der erste Gast war ein Betrunkener, der sich vielleicht gedacht hat, er könne sich bei mir im Zelt ein wenig ausruhen. Ein widerlicher Kerl. Es war ein Wink des Schicksals, daß sich zufällig zwei Herren fanden, die mir behilflich waren, den unliebsamen Gast wieder aus dem Zelt zu bringen. Üblicherweise sind ja die meisten so teilnahmslos.
Sie schwieg eine kurze Weile, wie um sich die Teilnahmslosigkeit erneut vor Augen zu führen. Der junge Mann schien schon tief in einer Scheinwelt versunken. Aber er merkte auf, als sie kurz absetzte, ließ sich dann aber wieder in den alten, lederbespannten bequemen Stuhl und in seine Welt zurücksinken.
- Aber auch wenn heute mehr Geschäft gewesen wäre, was hätte es geändert?
- Sie hätten doch alle bezahlt?, er, ein wenig verdutzt klingend.
- Ja, aber glauben Sie wirklich, das reicht aus? Die paar Leute, denen man die Karten legt, oder aus der Hand liest?
- Stimmt das denn, was Sie ihnen prophezeien?
- Sie wissen, daß ich keine Zukunftvorhersagemaschine bin. Bei manchen Leuten ist es einfacher, bei manchen schwieriger.
- Also erfinden Sie einfach etwas?
- Nein. Es ist eher eine Mischung aus Handlesen und Sagen, was die Leute hören wollen. Oder was sie ohnehin schon wissen.
Der junge Mann merkte, daß die Frau dies nicht unbedingt jedem einfach so erzählte. Sie ließ es auch durch ihre Aussprache etwas anklingen. Er fühlte sich fast ein wenig stolz, dies alles hören zu können, weshalb er vorsichtig fragte, seine Bereitschaft zur Verschwiegenheit und Vertraulichkeit im Gesprochenen erkenntlich machen wollend:
- Ist das mit dem Kartenlegen das gleiche?
- Naja, Sie kennen doch den Spruch: Die Karten lügen nie.
Und darauf sagte weder er noch sie irgendwas.
Dann, nach einer Weile, begann der junge Mann leise:
- Ich glaube ich habe mehr Angst als Neugier, wenn Sie mir die Karten legten. Was, wenn Sie etwas Schlechtes vorhersagen?
- Schauen Sie, sagte sie in einem sehr vertrauenerweckenden Ton, jeder glaubt soviel wie er glauben will. Ich will niemanden erschrecken oder einschüchtern, geschweige denn belügen. Das müssen Sie mir glauben. Aber schlußendlich ist es doch des Kunden Sache, was er glaubt und wonach er sich richtet.
Dieser Satz hätte auch leicht gegen die Wahrsagerin gerichtet klingen können, doch tat er das nicht, weil die Frau ihm eine derart feine und nuancierte Betonung zu Grunde legte, daß er nicht abwertend klang. Es war ein Satz, den auch der junge Mann gerne ausgesprochen hätte, doch kam ihm die Wahrsagerin zuvor. Außerdem hätte er ihn vermutlich nie in dieser unparteiischen Weise aussprechen können.
- Das heißt dann, daß Leute nur zu Ihnen gehen, um sich ihr Leben und ihre ohnehin schon geplante Zukunft bestätigen zu lassen? Und dafür bezahlen sie dann auch. Die entscheidende Frage ist nur, ob der Wahrsager auch in der Lage ist, diese scheinbaren Neuigkeiten so zu vermitteln weiß, daß sie der Person wirklich so vorkommen, als wäre dies ihre vorausgesagte Zukunft. Habe ich recht?
- Es ist nicht die Unwahrheit, es ist aber auch nicht alles.
- Was gehört denn noch dazu?
- Das ist die Sache des Wahrsagers, wie Sie es nennen.
- Ja, und glauben Sie, daß man auch aus mir einen Wahrsager machen könnte? fragte er mit optimistischen Unterton, der das Gespräch verlängern sollte.
- In die Zukunft sehen ist keine Sache, die man so einfach macht. Man kann es allerdings üben. Doch es ist nicht eines jeden Sache. Manche bemühen sich vielleicht und haben auch den erforderlichen Ehrgeiz, doch will es bei ihnen nicht und nicht klappen. Andere wiederum scheinen dafür von Beginn an so etwas wie eine Begabung dafür zu haben, ein Talent. Haben Sie etwa vor, es erlernen zu versuchen?
- Vorerst nicht, mich trieb nur das Interesse zu fragen. Vermutlich hätte ich dazu ja auch viel zu wenig Ehrgeiz, wie Sie sagen, und den braucht man bei allen Sachen, die man beginnt oder in Angriff nimmt.
- Das käme alles nur auf eine Probe an, sagte sie ohne ihn hiermit zu einer solchen eingeladen zu haben.
Er erwiderte tonlos:
- Sie haben wahrscheinlich recht.
Woraufhin wieder ein paar Minuten Stille eintrat, die lediglich durch den Lärm von außerhalb gemindert und getrübt wurde. Und als hätte es die vorangegangene Unterredung nicht gegeben, fing der junge Mann an:
- Sind Sie jedes Jahr auf diesem Jahrmarkt, Sie sind mir noch nie hier aufgefallen.
- Nicht jedes Jahr, aber hier war ich sicher schon drei- oder viermal.
- Seltsam, aber vielleicht wäre es mir auch heute nicht aufgefallen, wenn mich Ihr klingender Schmuck nicht so fasziniert hätte, sagte er erleichtert, denn als die Ohrbehänge und Armringe wieder wie vorhin gegeneinanderschlugen, als sich die Wahrsagerin die Haare aus dem Gesicht streifte, erzeugten sie dieses Geräusch, welches der junge Mann als das ausschlaggebende wiedererkannte, das ihn in das Zelt gehen machte.
- Das ist wahr, als ich das Schlagen und Klingen dieser zierlichen Geschmeide hörte, war ich wie versteinert, wie erstarrt. Ich hörte keinen Lärm, kein Geschrei mehr, nur mehr noch das verzaubernde Klingen. Und im nächsten Augenblick bin ich auch schon im Zelt gesessen. Ja, ich muß zugeben, Sie haben mich schon in der ersten Minute völlig verzaubert und gefangengenommen, wie hypnotisiert.
Sie lächelte fein und dankbar für die erhaltenen Schmeicheleien.
- Was sollte ich denn auch anderes tun, als Sie so hilflos anmutend vor mir gestanden haben, hätte ich Sie stehenlassen sollen?
- Aber nein, keinesfalls, ich bin letzten Endes doch heilfroh hier sein zu können, als irgendwo da draußen. Zuerst war mir ja doch ein wenig mulmig, doch glaube ich jetzt, daß ich schon etwas entspannter bin. Ich fühle mich hier irgendwie geborgen.
Draußen wurde es zwar scheinbar ruhiger, da nicht mehr so viele Leute unterwegs zu sein schienen, doch machten die wenigen Leute durch ihr Geheul und sonstigen Lärm alles wett. Obschon es mittlerweile etwas spät geworden war, versuchte die Frau nicht, den jungen Mann zum Gehen zu bewegen - weder direkt noch indirekt - wie auch der junge Mann keine Anstalten machte, sich auf seinen Weg zu begeben. Vielmehr hub er überraschend an:
- Darf ich Ihnen aus der Hand lesen?
Sie sah zuerst ein wenig verwirrt drein, doch streckte sie ohne Widerwillen ihre Hand über den Tisch. Er nahm sie behutsam auf und wurde von einem wohligen Kribbeln übermannt, welches er als gutes Zeichen wertete.
Er besah sich die feinen Linien, strich mit seinen Fingern bald diese, bald jene Linie von ihrem Ursprunge bis zum Auslaufe entlang. Seine Finger glitten über den Handrücken und blieben dort, sodaß er die Hand der Frau sanft in der seinen hielt. Er sah in ihre erwartungsvollen Augen und begann:
- Wenn mir das Schicksal hold ist, so werden Sie noch heute mit mir zu Abend essen. Vorausgesetzt, Sie nehmen meine Einladung an — und wartete ab.
Sie blickte ihn umso erstaunter an, gab langsam die zweite Hand zu den anderen dreien, umfaßte sie und drückte ihm zart die Hand.
- Ich denke, Sie haben gerade Ihr Talent unter Beweis gestellt, erwiderte sie ganz leise, so daß das feine Klingen ihres Schmuckes in seiner ganzen wunderbaren Vollkommenheit hörbar blieb.