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Die Wand
Die Wand
Die gerauchte Zigarette drückte ich an der Zimmerwand aus. Das tat ich immer, aber diesmal drückte ich den Stummel besonders fest. Irgendwie spürte ich, daß es mich erleichterte zu denken, der weißen Wand weh getan zu haben. Die war schon voller kleiner schwarzen Punkte. Die Punkte wurden jeden Tag mehr, die sahen manchmal wie die Spuren eines unbekannten Lebewesens aus. Ein Lebewesen, das nur schwarze Brandspuren hinter sich ließ.
Ach es machte Spaß!
Meine Finger ließen den zerschrumpften Stummel los, der fiel herab auf mein Bett, in dem ich lag, neben paar anderen Stummeln. Meine Hand griff nach der grünen Flasche auf dem Tischlein neben dem Bett.
Ich schluckte die gelbe, scharf stinkende Flüssigkeit in meinen Magen hinunter.
Schon mit 16 hatte ich angefangen, die zu schlucken. Meine Freunde wunderten sich und sagten mir immer: "Wie kann ein keuches Mädchen wie du das trinken?"
Obwohl die Antwort für mich leicht war, bevorzugte ich nur zu schweigen.
Ich war von Geburt an nicht so. Aber nun trank ich, weil es mich beruhigte. Was da ungewöhnlich war, war, daß ich es zu früh angefangen hatte. Alles hatte bei mir schon zu früh angefangen. Ich hatte Dinge gesehen, die ich in meinem Alter nicht sehen mußte. Ich hatte viele Sachen erlebt. Alles war bei mir zwanghaft und unwillkürlich passiert. Sogar meine Identität und meine Geburt!
Meine Schöpfung wollte ich nicht. Ich wurde durch einen Alkoholiker und eine dumme Frau erzeugt. Wegen mir heirateten die beiden, um so ihr Opfer zu hüten und zu bewachen. Aber ihre Kunst war nur Prügelei, Streit, Untreue und so weiter.
Diese zwei Schauspieler spielten ständig ihre eigenen Rollen, sie spielten mich an die Wand!
Seit meiner Kindheit hatte ich mich an die Wand gewöhnt. Bei meinen Eltern redete ich ja nur wie gegen eine Wand, also warum sollte ich nicht gegen die echte Wand reden?! Wenigstens legte die mir nie die Hand an, die Wand schimpfte mich nie aus!
Ich redete mit der Wand, spielte meinen Ball immer ihr zu, sie spielte mir den zurück. Die war einigermaßen wie ich, nur weißer und ohne Klagen. Jeden Morgen weckte sie mich durch den Sonnenspiegel ihres blendendweißen Putzes auf.
"Schade, daß die Wand keine Stimme hat", dachte ich.
Ich hatte schon viele Sachen, die ich mochte, an ihr aufgehängt. Die Fotos und Poster meiner Lieblingssänger und Sängerinnen, Schauspieler und Schauspielerinnen und das Bild meiner Klasse, hing an ihr. All die Gesichter der Menschen, die ich mochte, hingen an der weißen Wand, außer drei Gesichtern: die zwei Gesichter meiner Schöpfer und mein eigenes Bild!
Ich hasste mich, weil ich meine Schöpfer hasste!
Ständig wurde ich von ihnen verachtet. Nie konnten die sich entscheiden, wer am Elternabend teilnehmen sollte. Die Mutter hatte keine Lust, der Vater hatte immer was zu tun. Niemand hatte jemals als mein Vater oder meine Mutter am Elternabend teilgenommen. War ich ein Waisenkind?
Vielleicht!
Mein Vater nahm jeden Abend an seinen Treffen teil. Er kam immer um zwei Uhr mitten in der Nacht mit einer begossenen Nase nach Hause. Aber in einer Nacht ging er und kam nicht wieder. Ich war fast elf Jahre alt. Er hatte beschlossen, uns zu verlassen.
Nun lebte ich nur mit einem Teil meines Hasses weiter. Mit dem weiblichen Teil, die Mutter! Sie war immer schwach und dumm. Sie fühlte sich allein, deshalb brauchte sie mich. Aber sie beachtete mich nicht. Ich war mutterseelenallein!
Seit meiner Kindheit machte ich mir jeden Morgen selber das Bett. Nie legte sie mir Frühstück in die Tasche. Jedes Mal, als ich in der Schule sah, wie meine Kameraden und Kameradinnen von ihren Müttern abgeholt wurden, wunderte ich mich. War ich eine Ausnahme oder die!?
Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, zu meinen Eltern je Vater oder Mutter gesagt zu haben. Ich rief die immer mit ihren eigenen Namen genau wie normale Menschen.
Das Leben mit dem Teil meines weiblichen Hasses wurde mir langsam unerträglich. Ich wuchs auf, aber sie sah mich nur als ein fünfjähriges Kind an. Sie wollte mich nicht akzeptieren. Ständig schimpfte sie mich aus. Immer hatte sie mich in Verdacht. So wurde ich langsam zu einem skeptischen, einsamen und konservativen Menschen. Ich sprach kaum. In der Schule war ich fleißig, trotzdem hielt ich mich von den anderen zurück. Zuerst schrieb ich alles in meinem Tagebuch. Fast jeden Tag bestrich ich sein weißes Papierfeld mit blauer Tinte. Schreiben erleichterte mich. Aber eines Tages, als ich 15 war und aus der Schule kam, brüllte sie mich an. Pech gehabt! Leider hatte ich vergessen, das Schloß meines Tagebuchs zu schließen.
Sie brüllte: "Ich habe deine Last angenommen! Wegen dir habe ich auf einen Partner verzichtet! ..."
Ich wollte ja nicht auf die Welt kommen!
Nun hatte ich mein Tagebuch auch nicht mehr. Nach einer Zeit fing ich an, heimlich zu trinken und, ab und zu, zu rauchen.
Ich ging in mein Zimmer und verschloss die Tür, lehnte mich an die Wand und trank. Die Wand war die einzige, die mich stützte. Sie hörte mir zu. Als ich noch sehr klein war und den Krach meiner Hässe im Nebenzimmer hörte, malte ich auf der Wand. Die Wand pflegte mich und ersetzte mir die Eltern. Meine Eltern ernährten meinen Körper, aber nicht meine Seele.
Nun war ich 18.
Rülpsend legte ich die ausgetrunkene Flasche auf den Boden. Ich blickte auf die Wanduhr. 13 Uhr!
Sie würde bestimmt jeden Augenblick von ihrem Spatziergang heimkehren. Ich mußte die Flaschen und die Stummeln verstecken. Ich stand auf. Plötzlich fiel mein Blick auf den Wandkalender. Das Papier war rot! Klar war ja Sonntag, aber nein! Da stand was.
Muttertag!
Ach, dieser Tag hatte ja nie für mich eine Bedeutung, genau wie mein Geburtstag. Es war der Tag meines weiblichen Hasses. Ich mußte mich beeilen, jeden Moment würde sie eintreffen und meckern. Ich mußte das Essen noch auf den Herd legen. Ein Tag wie alle anderen. Mußte mit ihr Mittag essen und ihr Schmatzen hören! Ach! Dann auch wieder all die wiederholenden Redereien!
"Dein Vater war ein Alkoholiker, aber ich habe dein Leben gerettet. Du schuldest mir viel! Du undankbares Kind! Du wirst mich eines Tages wie dein Vater verlassen."
Ich mußte die Maske eines fünfjährigen Kindes tragen, die noch von ihrer Mutter abhängig war! Sie wollte, daß ich ewig an ihrem Rock hängen blieb, weil sie in der Liebe kein Glück hatte.
Ich riß den Kalenderzettel ab. Was würde sie sagen, wenn sie die Flaschen sehen würde? Sie wußte noch nicht, daß ich trinke.
Ich versteckte die leeren Flaschen und die Stummeln unter meinem Bett. Aber eine Flasche war noch voll. Die tat ich in die Schublade meines Schreibtisches. Dann ging ich schnell ins Badezimmer, um meinen Mund zu putzen. Im Badespiegel sah ich mich tüchtig Zähne putzen. Plötzlich fragte ich mich: "Warum?! Bin ich die da?"
Man kann die Geheimnisse vom Gesicht ablesen, also muß man sein echtes Gesicht verlieren. Aber warum? Damit die anderen Leser das im Gesicht lesen, was sie wollen. Ich mußte mich hinter einer Maske zensieren, und diese Illusion pflegen, daß ich brav bin.
*
Das Mittagessen war bereit, mein Mund stank nicht nach Alkohol. Keine Spur von meiner Sünde! Und den Salat hatte ich auch vorbereitet. Genau wie sie wollte. Wir saßen nun am Tisch, wie immer zu zweit. Sie schmatzte. War ja ihre schreckliche Gewohnheit. Dann schob sie die Salatschüssel vor sich. Sie mochte immer Salat. Plötzlich fing sie an, wieder zu meckern. Ich hatte keine Lust, wollte nur aufstehen. Aber sie schimpfte:
"Weißt du überhaupt, was für ein Tag heute ist? Du undankbares Kind! Ohne mich existiertest du nicht! Du blühtest aus mir."
Ich starrte in ihren kleinen Augen und stand auf.
"Wohin gehst du?"
"Ich will dir dein Geschenk für Muttertag holen", antwortete ich ihr und ging aus der Küche in mein Zimmer. Hinter mir hörte ich, daß sie wie jedes Jahr sagte:
"Ach, ich brauche kein Geschenk!"
Ich ging zum Schreibtisch und öffnete die Schublade. Die grüne Flasche drückte ich in meine Hand und sah die gelbe Flüssigkeit in ihr an. Ich hatte das Gefühl, daß ich wie die Flüssigkeit in der Flasche bin, ich mußte mich ständig verstellen. Das Leben und jeder Tag war für mich wie eine Gußform, genau wie die grüne Flasche für das Bier. Das Leben umstand mich wie die Flasche das Bier! Ich wollte aus ihr raus kommen! Aus dieser grünen Glaswand! Ich wollte ohne sie leben. Zuerst dachte ich, wir können es gemeinsam schaffen, aber nein! Ich schaffe es ohne sie. Sie soll an der Leere eingehen und mich fließen lassen.
Ich versteckte die Flasche hinter mir und kehrte in die Küche zurück.
"Ach du, ich will kein blödes Geschenk von Dir! Dein Vater hatte mir am Anfang auch Geschenke gekauft. Ha! Aber dann ist er gegangen! Genau so wirst du werden. Du wirst mich eines Tages verlassen und allein lassen."
Ach, wieder Vater! Vater! Vater! Vater! Du Bastard, ich hätte dich umbringen sollen, bevor du mich zeugtest. Ach Vater, ich bin am Ende.
Ich sammelte meine Kraft. Meine Faust umschloß den Flaschenhals fest. Ich mußte die Flüssigkeit aus der Glaswand befreien, ich mußte mich befreien und meine Wurzeln aus den Händen meiner Schöpfer raus bringen. Ich mußte meinen Hass vernichten.
Heftig schlug ich mit der Flasche auf ihren Kopf.
Die Flasche zersplitterte in kleinen Scherben. Die gelbe Flüssigkeit war nun frei. Die floß von ihrem blutigen, beweglosen Kopf, der in der Salatschüssel auf dem Tisch war, herunter.
Kopfsalat!
*
Nun drücke ich nicht mehr die Zigarette an die Wand. Es ist dunkel. Die Wand weckt mich nicht mehr mit ihrem Sonnenspiegel auf.
Ich gucke ziellos durch die Eisengitter des Gefängnisses, in dem ich bin.
Ende
Lena Bergmann