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Die Wandlung
Frauke lag im Bett und starrte in die Dunkelheit. Hermann schlief tief und fest neben ihr. Mit einem Zischen zog er die Luft durch den verengten Gaumen ein, mit kratzendem Stöhnen atmete er sie wieder aus. Oh wie Frauke dieses Geräusch hasste. Der Versuch, Ohrenstöpsel zu verwenden, endete mit Platzangst mitten in der Nacht. Hermanns Schnarchen empfand sie danach schon fast als tröstlich.
Frauke drehte sich zur Seite. Weg vom Zischen, weg vom Stöhnen. An ihrem zwanzigsten Hochzeitstag hatte sie sogar den Mut aufgebracht, mit Hermann über getrennte Schlafzimmer zu reden.
„Also mein Büroraum gibt‘s nicht! Aber wenn du im Wohnzimmer auf der Couch schlafen willst, bitte, tu dir keinen Zwang an.“ Damit war das Thema erledigt und der Hochzeitstag auch. Rückenschmerzen waren eindeutig schlimmer als Tagesmüdigkeit und so schlief sie weiterhin neben ihrem zischenden Brummbären, den sie trotz seiner zunehmenden Gleichgültigkeit ihr gegenüber, immer noch mochte, irgendwie.
Hermann wälzte sich hin und her. Bestimmt Blähungen, Ursache der Völlerei zu später Stunde.
‚Sauerkraut und Rippchen liegen halt schwer im Magen.‘ , dachte Frauke.
Sein Stöhnen wurde lauter. Hermann zog die Beine an und sein lautes Seufzen liess Frauke frösteln. In einem plötzlichen Anflug von Mitleid drehte sie sich um, wollte ihm gerade die Hand auf die Schulter legen, da bäumte sich sein Körper auf. Die Decke flog vom Bett, ein Leuchten wie von tausend Kerzen zerriss die Dunkelheit und strahlte von unten gegen Hermanns Rücken. Frauke starrte auf die tanzenden Schatten an der Wand, während unter seinem gekrümmtem Körper ein Höllenfeuer brannte. Von Panik gepackt, rutschte Frauke aus dem Bett und kauerte sich ängstlich an die Wand. Kalter Schweiss bedeckte ihre Stirn. Sie leckte sich die spröden Lippen. Das war nicht real, dachte sie, spürte jedoch die Hitze der Flammen, die unvermindert durch die aufgeplatzten Nähte der Matratze loderten, ohne jedoch den Körper ihres Mannes aufzufressen. Hermann lag jetzt völlig ruhig, mit ausgebreiteten Armen wie des Schöpfers Sohn inmitten der züngelnden Flammen. Frauke musste absurderweise an ihren fünfzigsten Geburtstag denken, an den Tartaren-Hut in diesem viel zu teuren Restaurant, als der Kellner zu viel Sprit nachfüllte und damit fast das halbe Restaurant in Brand steckte.
Mit einem lauten Knall stieg Hermanns Körper in die Höhe. Frauke stiess einen spitzen Schrei aus und konnte nicht glauben, was sie sah. Hermann hing mit nach hinten geworfenem Kopf in der Luft, sein Bauch fing sich an zu dehnen und an seinen Armen bildeten sich goldene Schuppen. Der Pyjama platze auf und mehrere Knöpfe fielen klackernd zu Boden. Die Flammen verwandelten sich in gleissende Lichtstrahlen, als stünden unter dem Bett grosse Bühnenscheinwerfer. Ihr Schlafzimmer war das Theater, Hermann der Star. Frauke war nah dran, die Besinnung zu verlieren. Hermanns Metamorphose ging weiter, sein nun nackter Körper verformte sich an allen Stellen, bildete einen Panzer aus silbernen und goldenen Pailletten, auf der Seite wuchsen ledrige Flügel zur Grösse von Bettlaken. Frauke sah geschockt und fasziniert zugleich, wie Hermann sich in einen riesigen Drachen verwandelte.
Mit lautem Gebrüll schnellte sein hornbesetzter Schädel nach vorne. Ein stinkender Speichelfaden landete auf Fraukes Gesicht, sein heisser Atem strich pulsierend über ihre Haare. Ein Zischen und Brummen, und plötzlich sah sie hinter die Fassade dieses Monsters, erkannte in dessen Augen das menschliche Wesen, dass sie trotz ihrer jahrelangen Reibereien doch immer noch liebte.
„Hermann“, krächzte sie tonlos. „Was passiert mit dir?“
Die Augen des Drachen füllten sich mit Wasser und langsam hob er seine Klaue. Frauke folgte der Bewegung und sah, wie ein gelber missgebildeter Nagel sich schmerzhaft in das weiche Fleisch gebohrt hatte. Später würde sie sich fragen, was wohl passiert wäre, hätte sie ihren Ekel nicht überwunden und den Drang, zu helfen, ignoriert. Sie packte den Nagel des Drachen und befreite ihn mit einem schnellen Ruck . Heftig brüllend warf sich die schuppige Kreatur herum, schwang sich hoch zur Decke und starrte mit wildem Flügelschlagen hinunter auf Frauke, die auf dem Boden zusammengekauert ihr Ende kommen sah.
Doch das Ende kam genauso überraschend, wie der Anfang. Als wenn jemand den Schalter des Projektors umgelegt hätte, lief der Film nun in die andere Richtung. Erst bildete sich aus der hornigen Fratze Hermanns Kopf mit den schütteren Haaren zurück, die Flügel fielen ab und zerstoben in einem Goldregen. Aus den Klauen wurden wieder Hände und Füsse, und auch der Bauch zog sich auf seinen normalen Umfang zurück. Kurz schien Hermann im gleissenden Scheinwerferlicht in der Luft hängen zu bleiben, dann fiel er mit einem Krachen auf die Bettstatt zurück.
Die Flammen züngelten wieder aus den Nähten der Matratze, doch ein lauter, langgezogener Furz von Hermann setzten dem grotesken Schauspiel ein Ende und Fraukes Anspannung zerfiel in lautes Schluchzen in der zurückgekehrten Dunkelheit ihres Schlafzimmers.
Hermann wachte auf und schaltete die Nachttischlampe ein.
„Um Himmels Willen, Frauke.“ Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Verwirrtheit und Staunen.
„Was machst du da am Boden?“, fragte er.
Anscheinend hatte er keine Erinnerung an seinen starken Auftritt als wütender Drache.
„Ich hatte einen schrecklichen … Wadenkrampf“, hörte Frauke sich sagen. „Aber … hat sich bereits gelöst.“ Sie stand auf und zupfte ihr Nachthemd zurecht.
„Na, dann komm doch wieder ins Bett“, brummte er und hob ihr die Decke hoch. Frauke wischte sich die Tränen vom Gesicht und schlüpfte zu ihrem Mann ins Bett. Sie konnte es immer noch nicht fassen, was sie soeben erlebt hatte. Hermann drehte sich um, als wäre nichts gewesen und löschte das Licht.
„Nacht Schatz“, flüsterte er und kurz darauf ging sein Atem regelmässig und ruhig.
Wann hatte er sie das letzte Mal Schatz genannt?
Seit dieser Nacht war Hermann wie verwandelt. Sein lautes Schnarchen hatte aufgehört, seine Berührungen wurden wieder zärtlicher und neuerdings brachte er ihr immer frische Blumen vom Wochenmarkt mit. Frauke hütete sich, Hermann auf dessen Wandlung anzusprechen, schliesslich wollte sie den Zauber nicht zerstören. Die Wahrheit, dass Hermann mit einem Furz den Schlusspunkt in einer der unglaublichsten Geschichten ihres Lebens gesetzt hatte, behielt sie lieber für sich.