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Die Weihnachtskarte

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21.01.2005
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Die Weihnachtskarte

Es war ein Job wie jeder andere. Als Hauswart konnte er sich damit ein kleines Zubrot verdienen. Aber es war keine Wohnung wie jede andere. Und er hatte schon Schlimmes gesehen. Ein geradezu bestialischer Gestank entfaltete sich, als sie die Tür aufbrachen. Süsslich, schwer, verrottet. Ein kaputtes Klo stank zum Himmel, in der Badewannen schwammen Exkremente zwischen ausgeleierten Kleidungsstücken. Für ihn ein untrügliches Zeichen: Hier war jemand mit dem Leben nicht mehr fertig geworden. Hier war eine Bombe explodiert, mittendrin. Das kranke Grün der Wände drückte ihm das Herz zusammen, die nackte Glühbirne in der Fassung an der Zimmerdecke, der Tisch vom Sperrmüll. Eine Leiche von einer Wohnung, ein Unfallopfer, über das Dutzende von nachkommenden Autos achtlos gefahren waren. Zum Glück, sagte er sich, zum Glück ist Winter, und es ist kalt. Unvorstellbar, wenn sie hier in der Sommerhitze hätten räumen müssen. Und er zog sich seine professionelle Herzlosigkeit an wie eine Gesichtsmaske. Mit Gummihandschuhen wühlte er im Müll, warf alles, Geschirr, Zeitungen, Katzenklo, warf alles, Kleidertüten, Vorräte, Matratzen, warf alles, Videokassetten und Spritzen hinaus in den Container.

Es war ein Job wie jeder andere – und doch. Auf dem Fensterbrett stand manchmal ein Topf mit erfrorenen Küchenkräutern. Im Schrank fand er einmal eine Bluse, mit Initialen bestickt. Nicht so in dieser Wohnung – hier war alles kaputt, nichts, nichts. Das am wenigsten Verseherte waren die Mahnungen und Wurfprospekte unter dem Schlitz an der Milchglastür, der als Briefkasten diente. Eine Woge von herzlosen Schrieben hatte sich zwischen den Schuhen auf dem Riemenparkett ausgegossen bis in die Mitte des engen Flurs. Seine Hände füllten eine weitere der schwarzen Mülltüten und griffen – in den ungeordneten Papieren – die Weihnachtskarte.

Jemand hatte sie aus dem Umschlag gerissen und achtlos auf den Haufen Papier geworfen. Sie zeigte ein Stilleben von weihnachtlicher Romantik. Auf einem Eisenofen waren Winterleckereien drapiert. Der schwere Deckel war halb zur Seite gezogen, so dass man in der Pfannenöffnung das Feuer lodern sah. Aufgeschnittene Apfelsinen lagen neben einem Porzellanbehälter mit der Aufschrift „Zimmt“. Ein Zinnkrug verbreitete Romantik, Sternanis, getrocknete Apfelsinenscheiben und Zimtstangen vervollständigten das Bild. Die bergischen Waffeln – jene grössere in Rosettenform und jene zweite in Herzform – wirkten zum Anbeissen.

„Frohe Weihnachten – Wann immer Du Hilfe brauchst, Sophie, ich bin da. Deine Mutter“ stand in sauberer Schrift auf der Rückseite. Seine Finger rieben gedankenverloren über das Papier und zwischen dem sauberen Duft von gepudertem Latex entfaltete sich das warme Aroma von frisch gebackenen Weihnachtskeksen, so künstlich wie die Rosenornamente auf der grünen Tapete des Flurs. Dann schwappte wieder die mächtige Wucht der Müllkippe über die sanfte Illusion des Freudenfestes. Hier war das Leben mit einer fertig geworden. Und eine unzählige Schar von Offroadern – beladen mit Geschenken und fröhlichen Kindern – war achtlos darüber nach Hause gefahren. Direkt vor den geschmückten Tannenbaum. Und er zog sich seine professionelle Herzlosigkeit wieder an.

 

Hallo Yaoloo!

Willkommen auf kg.de.

"Die Weihnachtskarte" - Im Februar wirkt dieser Titel eher abschreckend.
Was danach folgt, auch. Damit meine ich den ekelbeladenen Teil.

Gut, ein Wohnungsausräumer findet eine Weihnachtskarte in chaotischer Wohnung. Aber was willst du eigentlich erzählen? Ich denke, da steckt eine Botschaft drin. Diese solltest du aber deutlicher herausbringen und nicht bestialischem Gestank verstecken. Dann kommen auch mehr Kommentare.

Grüße
Chris

 

Hallo Yaoloo,

herzlich willkommen auf KG.de.

Also ich finde im Gegensatz zu Chris die Geschicht nicht schlecht. Vor allem hat mir gefallen, wie du den Kontrast zwischen der vermüllten Wohnung und der Weihnachtskarte der Mutter herausgestellt hast. Vielleicht ist es gerade dieser Gegensatz, der die Geschichte lesenswert macht. Es gibt immer eine schlechte (die vermüllte Wohnung) und eine gute Seite (die Karte der Mutter).
Es gab also im Leben von Sophie einen Menschen, an den sie sich hätte wenden können.

Eines bleibt mir als Leser allerdings verborgen: Was ist mit dem Mädchen passiert? Wo ist die Bewohnerin gelandet, die diese Wohnung in einem derart abartigen Zustand zurückgelassen hat?

Es ist schon schlimm, wenn man über solche Zustände in Wohnungen schreiben muss. Aber ich habe schon im Fernsehen in Reportagen gesehen, dass es wirklich haarsträubend aussehen kann. Man kann da eigentlich nur die bestialischen Beschreibungen liefern, die auch du in deiner Geschichte beschrieben hast.

Viele Grüße
bambu

 

Hi Bambu

:schiel: Was mit dem Mädchen passierte, ist Teil der Vorstellung, nicht ein Teil seiner Geschichte. Es soll unklar bleiben, ob sie selber es war. Tatsächlich habe ich die Geschichte kurz vor Weihnachten verfasst, als ich im Internet auf diese Rubbel-Weihnachtskarten mit synthetischem Zimt-Aroma stiess. In diesem Sinne ist die Geschichte eigentlich nur ein Bild, das ich der Perversion unserer Perfektheit entgegenstellen möchte. Ich hatte die Geschichte dann allerdings weggelegt und habe sie erst im Februar ins Netz gestellt.

Tatsächlich ist die Geschichte auch eine Reaktion auf diese Sendungen im Fernsehen, nur ist sie eben stilisiert, indem ich das, was sonst die Kamera macht, in Bilder fasse. Ich denke, es ging mir darum, zu beweisen, dass Wörter, richtig angewendet, stärker als Bilder sein können.

 

Tatsächlich ist die Geschichte im Februar völlig fehl am Platz. Aber das war die Sophie in der Geschichte vielleicht auch. Ich hoffe, meine Geschichte hat Deine Gefühle nicht verletzt oder Dich geekelt. Mir ging es darum, Dich (oder die anderen Leser) durch die Brille eines Menschen blicken zu lassen, der diesen Job machen muss - und zwar nicht so, wie es RTL oder andere Magazin mit der Kamera tun, so dass man es mit einem Ach wie scheusslich abtun kann, sondern so, dass man dem Text folgen muss, dass man das dramaturgische Auf und Ab, die Hoffnung und das Zerplatzen der Träume miterleben muss.

Auslöser dafür war meine Situation am Arbeitsplatz, auch die Karte im Internet, aber vor allem die soziale Kälte, die bei uns mit Weihnachten einher geht. Und vielleicht die Erkenntnis, dass man manchen Menschen nur schwierig, oder gar nicht helfen kann. Dann geht es auch darum, dass ein Mensch etwas findet, aber das ist künstlich (das findest Du auch z.B. bei Philip Dick in Blade Runner).

In diesem Sinne
Frohes Schaffen, yaoloo

 

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