Die Weihnachtskarte
Es war ein Job wie jeder andere. Als Hauswart konnte er sich damit ein kleines Zubrot verdienen. Aber es war keine Wohnung wie jede andere. Und er hatte schon Schlimmes gesehen. Ein geradezu bestialischer Gestank entfaltete sich, als sie die Tür aufbrachen. Süsslich, schwer, verrottet. Ein kaputtes Klo stank zum Himmel, in der Badewannen schwammen Exkremente zwischen ausgeleierten Kleidungsstücken. Für ihn ein untrügliches Zeichen: Hier war jemand mit dem Leben nicht mehr fertig geworden. Hier war eine Bombe explodiert, mittendrin. Das kranke Grün der Wände drückte ihm das Herz zusammen, die nackte Glühbirne in der Fassung an der Zimmerdecke, der Tisch vom Sperrmüll. Eine Leiche von einer Wohnung, ein Unfallopfer, über das Dutzende von nachkommenden Autos achtlos gefahren waren. Zum Glück, sagte er sich, zum Glück ist Winter, und es ist kalt. Unvorstellbar, wenn sie hier in der Sommerhitze hätten räumen müssen. Und er zog sich seine professionelle Herzlosigkeit an wie eine Gesichtsmaske. Mit Gummihandschuhen wühlte er im Müll, warf alles, Geschirr, Zeitungen, Katzenklo, warf alles, Kleidertüten, Vorräte, Matratzen, warf alles, Videokassetten und Spritzen hinaus in den Container.
Es war ein Job wie jeder andere – und doch. Auf dem Fensterbrett stand manchmal ein Topf mit erfrorenen Küchenkräutern. Im Schrank fand er einmal eine Bluse, mit Initialen bestickt. Nicht so in dieser Wohnung – hier war alles kaputt, nichts, nichts. Das am wenigsten Verseherte waren die Mahnungen und Wurfprospekte unter dem Schlitz an der Milchglastür, der als Briefkasten diente. Eine Woge von herzlosen Schrieben hatte sich zwischen den Schuhen auf dem Riemenparkett ausgegossen bis in die Mitte des engen Flurs. Seine Hände füllten eine weitere der schwarzen Mülltüten und griffen – in den ungeordneten Papieren – die Weihnachtskarte.
Jemand hatte sie aus dem Umschlag gerissen und achtlos auf den Haufen Papier geworfen. Sie zeigte ein Stilleben von weihnachtlicher Romantik. Auf einem Eisenofen waren Winterleckereien drapiert. Der schwere Deckel war halb zur Seite gezogen, so dass man in der Pfannenöffnung das Feuer lodern sah. Aufgeschnittene Apfelsinen lagen neben einem Porzellanbehälter mit der Aufschrift „Zimmt“. Ein Zinnkrug verbreitete Romantik, Sternanis, getrocknete Apfelsinenscheiben und Zimtstangen vervollständigten das Bild. Die bergischen Waffeln – jene grössere in Rosettenform und jene zweite in Herzform – wirkten zum Anbeissen.
„Frohe Weihnachten – Wann immer Du Hilfe brauchst, Sophie, ich bin da. Deine Mutter“ stand in sauberer Schrift auf der Rückseite. Seine Finger rieben gedankenverloren über das Papier und zwischen dem sauberen Duft von gepudertem Latex entfaltete sich das warme Aroma von frisch gebackenen Weihnachtskeksen, so künstlich wie die Rosenornamente auf der grünen Tapete des Flurs. Dann schwappte wieder die mächtige Wucht der Müllkippe über die sanfte Illusion des Freudenfestes. Hier war das Leben mit einer fertig geworden. Und eine unzählige Schar von Offroadern – beladen mit Geschenken und fröhlichen Kindern – war achtlos darüber nach Hause gefahren. Direkt vor den geschmückten Tannenbaum. Und er zog sich seine professionelle Herzlosigkeit wieder an.