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Die zarteste Versuchung
Mit dem Denken hatte es Jakob nicht so. Und sollte das zu irgendeiner Zeit einmal anders gewesen sein, dann war die längst vergessen.
Meister Heinrich hingegen war ein gebildeter Mann, die Schokolastik, ein von ihm geprägter Begriff, reichte nicht annähernd aus, seinen wachen Verstand vollends zu beschäftigen. Jetzt gerade saß er hinter seinem Schreibtisch im überhitzten Brauraum der Chocolateria und schrieb auf dunkles Pergament – der Schweiß trat ihm auf die Stirn – einige Notizen und naturwissenschaftliche Beobachtungen, die ihm im Laufe des Vormittags durch den Geist geschossen waren. Eine fette, schwarze Katze strich ihm dabei um die Beine.
In konzentrischen Kreisen, so fühlte er genau, kam er dem Kern des Ganzen immer näher. Und wie auch die Katze seine Füße umkreiste – die Schuhe rochen sehr gut nach Kakao -, so umkreiste Meister Heinrich sein Thema: Die Sirup-Theorie. Meister Heinrich wusste, dass zähe Flüssigkeit oral eingeführt, wie zum Beispiel Kakao, eine belebende Wirkung auf den Geist hatte. Die Einfuhr von sirupartigen Flüssigkeiten war demzufolge gut.
Aber, und das faszinierte Meister Heinrich, auch das Ausscheiden von sirupartigen Flüssigkeiten war ganz hervorragend. Drückte man sich eine Pustel auf, mochte das im ersten Moment zwar schmerzhaft sein, eine Linderung und ein Glücksgefühl stellten sich jedoch bald ein. Ebenso verhielt es sich mit Ejakulat. Und damit kannte sich Meister Heinrich fast noch besser aus als mit Schokolade. Am Glücksgefühl, das sich nach dem biblischen Akt der Besamung einstellte, konnte kein Zweifel bestehen; und selbst die Weiber, denen die sirupartige Flüssigkeit dann eingeführt wurde, schienen vom Glücke gepackt, geschüttelt und ergriffen zu werden. Damit schloss sich der Kreis.
„Mach’s nicht zu heiß, Bursche“, schrie Meister Heinrich durch den Raum und: „Achte darauf, dass die Katze nicht wieder auf den Kessel springt!“ Um dann milde hinzuzufügen: „Und verdammt seist du, wenn du das Rühren vergisst!“
Jakob stand gebückt über dem gusseisernen Kessel und rührte. Schokoladendämpfe benebelten sein Hirn, weichten die teigige Haut seiner Arme weiter auf und gossen auf jeden Funken eines Gedankens warme Schokoladenbrühe. Schwarze Bläschen sah er und spürte auch die Hitze des Feuers zu seinen Füßen. Immer rechts herum rührte er, denn der Mond nahm zu. Sein Oberkörper machte die Bewegung mit, rechts rum und rechts rum und rechts rum. So rührte Jakob; und rührte noch so, als das Glockenspiel sanft erklang, und sich Meister Heinrich, angeregt von tiefen Betrachtungen menschlicher Wahrheiten, vom Schreibtisch erhob und in den Verkaufsraum schritt.
Geflissentlich spuckte sich Meister Heinrich zweimal in die offene Hand, fuhr dann über das schütter werdende Haupthaar – er färbte die Schläfen mit etwas zerstoßenem Kreide-Schokoladenextrakt nach, weil trotz fortgeschrittenes Alters, er ging auf die vierzig zu, sich noch keine graumelierten Schläfen einfinden wollten – und betrat den Verkaufsraum.
„Ach, Frau Bürgermeisterin“, sagte er und betrachtete Frau Anabel, die rotwangig in grünem Plusterkleid vor der Theke stand und die Auslage besah. „Schön, dass Sie gekommen sind!“, sagte Meister Heinrich. „Und wie schön Sie gekommen sind!“
„Sie Charmeur“, sagte Frau Anabel und ihre Wangen leuchteten wie der junge Morgen.
„Ihre Wangen leuchten so schön wie die Aurora“, sagte Meister Heinrich, denn er war studiert.
„Und ich muss sie nicht einmal kneifen so wie andere Personen, die – wie ich höre – ebenfalls in den Genuss Ihrer besonderen Leistungen kommen.“
Meister Heinrich beeilte sich abzuwinken, und zauberte ein paar Pralinen unter der Ladentheke hervor. „Ich bitte Sie“, sagte er. „Da würde man sich ja verletzen. Da stechen die Knochen ja schon aus der Haut heraus wie bei einer Schwindsüchtigen. Während sich bei Ihnen, Madame, großer Geist mit großer Leidenschaft paart wie bei der legendären Atalante.“
„Jaja“, sagte Frau Anabel und verschränkte beide Arme unter ihrer massigen Brust. „Ist das denn jenes, um das ich gebeten hatte?“, fragte sie und schaute auf die Pralinen.
„Selbstverständlich.“
„Na, dann“, sagte Frau Anabel und schob ihre Arme mitsamt Brust einige Zentimeter nach oben.
Jakob spürte einen dumpfen Schmerz in seiner Stirn. Meister Heinrich, dem das früher einmal aufgefallen war, hatte von einem bedauerlichen Albdruck im rechten vorderen Hirnlappen gesprochen, der voraussichtlich von einem Überschuss sirupartiger Flüssigkeiten herrührte.
An die genauen Worte konnte sich Jakob nicht mehr erinnern, wohl aber an die Abhilfe, zu der Meister Heinrich geraten hatte.
Flugs war der Laden geschlossen, die Fenster verhängt und auch des lästigen Beinkleides hatte sich Meister Heinrich entledigt. Und nun, während oben Frau Anabel in all ihrer Pracht von den Pralinen naschte, ganz zart nahm sie die Quadrate in fleischige Finger und führte sie zum Munde, da tauchte Meister Heinrich hinab in einen Strudel aus Fleisch und grünem Plusterstoff, kitzelte Frau Anabel leicht die Oberschenkel, weil er es schätzte, wenn sie kicherte während der Speisung, und bohrte ihr dann einen Finger in die Scham, der ihr das Kichern im Munde gefrieren ließ. Meister Heinrich stellte sich häufig vor, so würde Kakao gewonnen, in einem fernen Land namens Afrika, wo die Neger hausten.
Mit einem Finger glitt er in Frau Anabel, rieb mit der Handfläche ihren Venushügel und spürte verzückt, dass sich ihre massigen Oberschenkel um seinen Kopf pressten. Mit der anderen Hand drückte und würgte Meister Heinrich sein Geschlecht.
Und auch der gute Jakob tat es ihm gleich, im Brauraum hing er vor seinem Guckloch, das ihn Meister Heinrich aus medizinischen Gründen bohren hieß, und arbeitete daran, den Albdruck zu verringern. Frau Anabel, so sah Jakob und empfand dumpf eine Art von Stolz, schienen die Pralinen mehr als nur zu gefallen. Da jauchzte sie und japste, Luft kam aus ihrer Kehle zu rauen Schreien, es knackste, als hätte man einen Blasebalg zu fest gedrückt, und doch, obwohl sie schrie und ihre feisten Wangen zitterten, fand eine um die andere Praline den Weg in ihren Mund.
Herr Heinrich öffnete den Laden erneut, kaum dass er Frau Anabel verabschiedet und eine große Bestellung aufgenommen hatte, denn Frau Anabel sah es als ihre Pflicht an, als Eheweib des Bürgermeisters, die größten Empfänge in dieser Stadt auszurichten. Und mit seiner schöpferischen und kompositatorischen Kraft wollte ihr dies gelingen.
„Safran“, murmelte Meister Heinrich und wusste doch genau, dass der kaum zu bekommen war. „Safran-Pralinen“, seufzte er erneut. Davon hatte er ja noch nie gehört. Nun denn, für den wahrhaft großen Geist gab es weder Hindernisse noch Hürden, nur Leitern, die es zu erklimmen galt.
Jakob derweil verspürte den Albdruck noch immer, legte Feuerholz nach, damit er schwitze, und rührte den Kessel.
„Bursche, schau mal unten nach, ob du etwas Gelbes findest“, hörte er die Stimme des Meisters. „Aber keine Zitrone, das schmeckt sie bestimmt.“
Jakob zog den mannslangen Rührlöffel - genau genommen war es ein zweckentfremdetes Paddel, doch Meister Heinrich hätte dies nicht einmal unter Folter gestanden – aus dem Kessel und öffnete die Falltür in die unteren Gewölbe. Die Katze hatte es sich derweil am Feuer bequem gemacht und lugte ihm aus müden Augen nach.
Jakob hasste die unteren Gewölbe. Hier war es kalt und die vielen Gerüche raubten ihm jede Luft zum Atmen. Auch fürchtete er sich im Dunkeln, wenn nur die Kerze, deren Wachs ihm auf die Hand tropfte, Licht spendete.
Jakob ging an den Kakaovorräten vorbei, die waren blau. Jakob ging am Zucker vorbei, doch der war weiß. Er ging an Vanille vorbei, die schwarz war, und an Pampelmusen, die alles waren, nur nicht gelb.
Er stieg eine Leiter nach unten und fand: Ein paar Hühner und auch getrocknete Würste. Kirschen, Äpfel, Birnen und ein Sammelsurium an Flüssigkeiten. Rote Flüssigkeiten und blaue, grüne und braune. Das Gewürzlager dann, das Obstlager hiernach, Früchte und Spirituosen, das Wachs brannte ihm schon auf dem Handrücken, als er endlich einen fetten gelben Wurm fand, der in einem milchigen Glas eingelegt war.
„Ach, Frau Raquel. Wie schön, dass Sie gekommen sind! Und wie schön, wie Sie gekommen sind!“ Meister Heinrich machte den kleinen Diener.
Frau Raquel fächerte sich Luft zu mit einem exquisiten Accessoire, wohl aus Paris.
„Keine Kinkerlitzchen, Heinrich. Was erlauben Sie sich?“, fragte sie grimmig. Die Wangenknochen staken ihr aus dem Schädel dabei. Ihre asthmatische Brust hob und senkte sich wie die Kolben einer Maschine, die Meister Heinrich einmal gesehen hatte, denn er war studiert.
„Meine Zofe hier hat genau beobachtet“, sagte Frau Raquel und zeigte auf ein graues Ding im Hintergrund, das sich in die dunkelste Ecke des Ladens gezwängt hatte, „dass Sie diese Kuh, diesen semitischen Albtraum …“
„Ach“, sagte Meister Heinrich. „Da ging es doch nur um den Pachtvertrag.“
„Und da schließt man den Laden, ja?“
„Na ja“, sagte Meister Heinrich generös und machte einige ausladende Handbewegungen. „Vielleicht wollte diese Kuh auch noch ein paar Pralinen und ich habe mich dann, es tut mir ja in der Seele weh, erweichen lassen, ihr ein wenig Konfekt, das vom letzten Jahr noch über war, mitzugeben. Sie tut einem ja fast leid. Diese impertinente Person.“
„Sehr richtig“, sagte Frau Raquel. „Sehr richtig. Antoinette, warte doch bitte draußen, der Meister und ich haben noch einiges zu bereden.“
Der graue Schatten aus der hinteren Ecke des Raumes setzte sich in Bewegung, Meister Heinrich zauberte einige Pralinen unter der Ladentheke hervor.
„Sie ist ja so dumm, man kann Ihr erzählen, was man will, alles glaubt sie. Man muss sich ja verstellen und sich so tief zu ihr hinab bücken, dass einem das Kreuz weh tut.“
„Reden Sie ruhig weiter, Meister Heinrich. Uns gefällt das recht gut, was Sie da sagen.“
„Wie schön rot Ihre Wangen sind, Frau Raquel. Wie die aufgehende Sonne.“
„Das gefällt uns auch“, sagte Frau Raquel spitz, nahm die Pralinenschachtel von der Theke und zeigte mit dem Kopf auf die Eingangstür.
Auf dem Weg die Leitern nach oben, fürchterlicher Albdruck quälte Jakob, vernahm er das Klingeln des Glockenspiels und beeilte sich hinaufzukommen. Das Glas mit dem Wurm stellte er in aller Eile ab, nestelte sich noch im Laufen den Hosenbund auf und begab sich zum Guckloch, aber der Anblick gefiel ihm nicht so recht. Meister Heinrichs dürrer Hintern bewegte sich im Takt, die vor ihm auf der Theke liegende Frau Raquel stieß spitze Schreie aus. Von ihrer Zofe, die manchmal dem Liebesspiel verschämt in einer Ecke beiwohnen durfte, keine Spur. Hastig zog sich Jakob die Hose hoch und verließ durch die Hintertür den Brauraum.
Das Licht auf der offenen Gasse blendete ihn und Jakob musste blinzeln, einige Automobile krachten die Straße entlang und machten die Pferde scheu. Der Alb in seiner Stirn tanzte mit Eisenschuhen. Der Glockenturm knallte ohrenbetäubend zu Mittag.
Nun sagt ein altes Sprichwort, die Neugier ist der Katze Tod. Und die Katze, obschon sie Liebesdingen durchaus nicht abgeneigt war, interessierte sich zwar nicht für das, was im Nebenraum von statten ging – soviel sei gesagt: Frau Raquel schmeckten die Pralinen sehr -, für das Glas mit dem gelben Wurm dafür um so mehr.
Ihr Bauch schleifte über den Holzboden des Brauraums, als sie – bedächtig, nach Katzenart – sich Pfote um Pfote dem faszinierenden Glas näherte. Eine dunkle Stimme erklang in ihrem Ohr und die Katze schmiegte sich an das Glas, umkreiste es, strich mit ihrem Schweif darüber und mit den Tasthaaren an ihrer Schnauze, schrie – wie auch Frau Raquel in jenem Momente schrie – und stieß das Glas um.
Jakob fand die Zofe in einer Seitengasse, im Schein der Mittagssonne war ihr graues, formloses Gewand ganz weiß. In Jakobs Augen gar etwas rötlich. Und die Zofe sprang auf einem Bein die Gasse entlang und sagte, wahrscheinlich leise und nur für sich, einen Zählreim auf in den kurzen Minuten, in denen sie Kind sein durfte. Mit einem Bein hopste sie entlang, ihr Haar war blond und wild. Dann auf dem anderen Bein den Weg zurück, schließlich mit beiden, als wären sie an den Knöcheln zusammengebunden.
Jakobs Hand fuhr zum Hosenbund, aber Nein. So ging es nicht. Er spuckte sich zweimal in die Hand und verteilte es dann in den Haaren. Nestelte sich noch, das hatte er ebenfalls dem Meister abgeschaut, am Hosenbunde entlang und stapfte, leicht gebückt, auf das Mädchen zu und die dicke, dumme Zunge in seinem Mund – gegen die Backen stieß sie schon, so schwer und geschwollen lag sie da – sagte: „Wie schön, dass Sie gekommen sind. Und wie schön Sie gekommen sind!“
Doch die Zofe blickte auf, sah in Jakobs teigiges Gesicht und schrie, nicht als wäre sie von Sinnen, auch nicht wie ein Kleinkind oder eine rollige Katze, sondern mit einem einzelnen spitzen Schrei, so markerschütternd und durchdringend wie ihn kein Mensch je gehört.
Jakob lief rot an wie das Fruchtfleisch einer Pampelmuse, das Glockengeläut vom Turm dort drüben bimmelte immer lauter und der Alb in seinem vorderen Stirnlappen schlug Purzelbäume. Jakob machte auf der Ferse kehrt, die Sonne brannte ihm ein Loch in den Schädel und er flüchtete durch die Hintertür zurück ins Drinnen.
Die Katze hatte derweil den gelben Wurm im Maul, trug ihn – nach Katzenart – eine Weile durch die Gegend, überlegte, wo sie ihn denn verscharren könne zum späteren Verzehr. Das war ein neuer Gedanke für die Katze, denn die Notwendigkeit zu solchen Überlegungen hatte bisher nicht bestanden. Also schlich sie gemächlich – wenn sie sich zu schnell bewegte, musste sie keuchen - von einem Eck ins andere, verharrte eine Weile an der Tür, das Näschen am unteren Spalt, weil es da immer so gut roch und sprang auch einmal, vom Triumph ihrer animalischen Instinkte ganz toll geworden, auf den Rand des gusseisernen Kessels. Just in diesem Moment platzte Jakob in den Brauraum und die Katze verhielt sich nach Katzenart: Sie erschrak bis ins Mark, öffnete die Fänge und der gelbe Wurm stürzte in den Kessel.
Der gute Meister Heinrich im Nebenraum bekam von all dem wenig mit. Wenn man ihn gefragt hätte, woher er denn wohl dieses Glas habe, jenes mit dem safrangelben Wurm, hätte er kaum antworten können, denn Frau Raquel hatte sich auf seinen Mund gesetzt. Aber auch unter anderen Umständen hätte sich Meister Heinrich des Glases kaum erinnert. Einige des Meisters Lieferanten kamen aus dem Orient, andere aus Schwarzafrika, Dritte gar aus Südamerika. Auch von ihnen hätte keiner das Glas wiedererkannt.
Man hätte bis nach Tuxtla Gutiérrez gehen müssen, bis an die Südspitze Mexikos, um einen alten Mann zu finden, mit langem grauen Bart und roten Tätowierungen im Gesicht. Und wenn der noch eine Zunge gehabt hätte und einen Rest seines Verstandes, dann hätte der einem vielleicht sagen können, dass bei den Mayas Kakaobohnen ein Zahlungsmittel waren und dass die Kakaobahnen aus Xoconochco besonders wertvoll waren, weil es dort einen Stamm gab, der ein paar Kontakte hatte und spezielle Methoden. Aber viel mehr hätte einem der alte Mann mit dem langen grauen Bart und den roten Tätowierungen auch nicht sagen können.
Jakob empfand dumpf tiefe Scham. Blut rauschte in seinen Ohren. Und die Katze, die in solchen Momenten zu ihm zu kommen pflegte, um sich an ihm zu reiben und für ihn zu schnurren, war nirgends zu sehen. Jakobs Herz raste und in seinem vorderen, rechten Stirnlappen läuteten alle Glocken dieser Welt noch immer.
So fiel ihm nicht einmal auf, dass der gelbe Wurm bis zum Grund des Kessels sank und dass die Schokoladenmasse – schon etwas angebrannt an den Rändern, weil sie seit einiger Zeit nicht mehr umgerührt worden war – ploppende Blasen bildete und rumorte und brodelte.
Die Oberfläche verfestigte sich, das Feuer unter dem Kessel brannte weiß und blau, Dampf stieg in den Brauraum, edle Gerüche breiteten sich aus. Reiner Zuckergeruch, zu süß um ihn zu riechen, und Sonne, eine schwarze dunkle Sonne. Wie das Rauschen eines Wasserfalls und wie das Schreien von Brandopfern brodelte es im Kessel, als die Schokolade ihre Göttin gebar.
Jakob hatte den Kopf in seine Hände vergraben und weinte dunkle Tränen. Die Katze hatte sich mit gesträubtem Fell in die hinterste Ecke des Brauraums verkrochen, noch hinter Meister Heinrichs Schreibtisch.
„Jakob, mein süßer Jakob“, sagte nun eine kaffeefarbene Stimme.
Meister Heinrich war matt in den Lenden und fasste den Entschluss, Pralinen zu kleinen Pyramiden zu stapeln. Immer zwei weniger pro Schicht, so nahm er sich vor. An der Basis begann er mit vierundzwanzig Pralinenquadern, doch als nur noch achtzehn für eine Schicht benötigt wurden, verließ ihn die Lust. Meister Heinrich holte einen Karton und fegte die Pyramide mit all ihren vier Stufen hinein.
„Safran“, murmelte er wieder. Frau Raquel hatte er ja noch das Schlimmste ausreden und sie mit Johannisbeer-Trüffeln abspeisen können – dies musste er sofort notieren: Verhandlungen mit Weibern gestalteten sich deutlich einfacher, nachdem sirupartige Flüssigkeiten eingenommen, vielleicht auch ausgetauscht worden waren.
Gedankenverloren, denn im Geiste meißelte Meister Heinrichs wacher Verstand schon Sätze wie aus Granit, ging er durch die Tür in den Brauraum und steuerte auf seinen Schreibtisch zu.
„Bursche, ist viel zu heiß hier drinnen“, murrte Meister Heinrich, ohne aufzusehen.
Jakob und die fette Katze beobachteten ihn zitternd. Die Katze noch von ihre Ecke hinter dem Schreibtisch aus, Jakob von der Hintertüre her. Dort war er an Ort und Stelle zusammengesackt, nachdem er aufgesehen und die Schokoladengöttin erblickt hatte, deren Oberkörper aus dem Kessel gewachsen war.
In Bewegung war die Göttin, sie floss dahin, Strömungen waren in ihrem durchsichtigen, schokoladenbraunen Leib zu erkennen. Kleine Wirbel trieben Schokolade nach oben zu ihrem wogenden Busen, hinauf, den herrlichen Hals hinauf, und an den Schultern hinab, formten das Gesicht mit der breiten, schwarzen Nase, den tiefen Augen und dem vollen, weichen Mund. Zu einem riesigen dunklen Busch floss die Schokolade dann das Haupt hinauf und thronte als Haupthaar über jenem fließenden Wesen aus Schokolade.
Doch die Schokolade rann auch wieder hinab, tropfte von den zarten Armen, tropfte vom flachen Bauch, tropfte von den Fingerspitzen in den Kessel zurück.
Und die Göttin wiegte sich im Kommen und Gehen, flackerte, atmete und tanzte vor Jakobs Augen, streckte eine Hand zu ihm hinab und lockte und flüsterte: „Lieber Jakob, komm doch, lieber Jakob.“
Und sie wogte und wallte noch, als Meister Heinrich an ihr vorbeischlurfte, doch ihre weichen tiefen Augen weiteten sich. Ihr voller Mund, der eben noch becircte, schnitt nun in ihr Gesicht, und die lockenden Finger ballten sich zu Krallen. „Ah“, sagte sie.
„Das ist ein rechtes Opfer.“
Meister Heinrich spürte den Arm aus Schokolade wie Basalt auf seine Schulter krachen. Er riss die Augen auf, Blut schoss ihm in den Mund, eine Woge spülte ihn siedendheiß nach oben in die Luft, einen oder zwei Meter über den Boden hinauf. Dann würgte er und bekam keine Luft, das Blut, das er auf seiner Zunge schmeckte, vermischte sich mit bitterer, ungesüßter Schokolade. Sein Geschlecht verbrühte in schmelzendem Kakao. Er riss die Augen noch auf und sah eine Flussnymphe, er war studiert, eine böse Hexe wie aus alten Sagen. Aus Schokolade. Dann donnerte er mit dem Schädel gegen den gusseisernen Kessel und wurde Stück für Stück in den Kessel gezerrt und war lange schon tot.
Doch Jakob und die Katze sahen es mit an, und mit jedem Stück, vom Scheitel bis zur Sohle, das in den Kessel wanderte, wurde die Göttin dunkler und weicher, milder und zarter. Es roch sogar zärtlicher, wie frisch geschmolzener, gesüßter Kakao, und als die Schultern Meister Heinrichs im Kessel verschwanden, da hatte Jakob aufgehört zu zittern, und als die Hüfte im Kessel verschwunden war, da hatte sich die Katze an den Kessel geschmiegt und schnurrte aus Leibeskräften, und als endlich Meister Heinrichs Schuhe mitsamt Füßen im Kessel aufgegangen waren, da lachte Jakob aus vollem Halse, bis ihm der Schmerz in seiner Stirn jede Freude austrieb.
„Fürchte dich nicht, Jakob“, sagte die Göttin. „Du hast dein Opfer gebracht, nun will ich dich belohnen.“
Und es rumorte leicht unter ihrer Oberfläche. Einer ihrer nun dicken Arme schoss wie ein Pfeil auf Jakobs Gesicht zu, wurde dabei immer dünner und länger, bis schließlich, als der Arm bei ihm angelangt war, nur noch ein dünner Schokoladenfinger über blieb, der flugs in Jakobs Nase fuhr – er konnte zartbitteren Kakao in seinem Mund schmecken -, von dort weiter hoch ins Hirn wanderte und seinen Schädel von innen ausspülte. Die Göttin kicherte dazu dunkel und verheißungsvoll.
Aus Jakobs Ohren rann dunkle Flüssigkeit, die so scharf und sauer roch, dass es sogar durch den allgegenwärtigen Schokoladengeruch drang.
„Das war dein Albdruck“, sagte die Göttin freundlich und fiel in sich zusammen. Von oben herab träufelte sie in den Kessel zurück. Zuerst lösten sich die Haare auf, dann die Stirn, schließlich Kinn, Brust und Bauch. Eine Schokoladen-Welle schwappte noch im Kessel nach, dann war der Spuk beendet.
Aber einiges blieb: Tatsächlich, Jakobs Kopf war frei. Kein Glockengeläut, keine Eisenschuhe mehr, nur noch das Gesicht der Zofe in der Mittagssonne.
Eilig rannte Jakob zum Kessel, tauchte einen Finger in die brühend heiße Masse und kostete von der Schokolade. Seine Nackenhaare stellten sich auf und auch sein Geschlecht und er sagte, mit leichter, flinker Zunge: „Vorzüglich.“
Die Katze strich ihm um die Beine.
Zwei Tage und drei Nächte stand Jakob über den Kessel gebeugt und rührte. Nur um das Feuer anzuheizen, verließ er seinen Platz, und manchmal, wenn er die Augen schloss, fand er sich in den unteren Gewölben wieder und zerrte Reagenzien nach oben, aber meistens rührte er, immer rechts herum, und dachte. Denn das Denken, so ein ausgeruhter Muskel bei unserem Jakob, das machte ihm einige Freude. Wie bei einem Stier, der jahrelang in seinem Stall nur steht und Futter bekommt und Futter und Futter, damit er Fett ansetzt und Kraft sammelt für die Arena, so war es auch bei Jakob. Soviel Kraft hatte sich angesammelt, die zu nichts nutze war all die Jahre, dass Jakob in seinem Denken nun ganz tolldreist geworden war.
Aber vielleicht hatte daran auch die Schokolade aus dem Kessel ihren Anteil, von der Jakob immer häufiger und gieriger mit beiden Händen schöpfte und trank.
Die Katze strich um seine Beine, und ab und ihr ließ er aus seinen schöpfenden Händen ein paar Tropfen fallen.
Dem denkenden Jakob war sein Anblick ein Gräuel: Die Haare hingen ihm zersaust vom Schädel, überall in seinem Gesicht sprossen Flecken borstigen Bartes, auf der Oberlippen quollen teigig Pustel und auf der Unterlippe auch. So sah sich Jakob auf der Schokoladenoberfläche des Kessels und es gefiel ihm nicht.
Doch dann eines Nachts veränderte sich sein Spiegelbild, die Haare gingen glatt zurück, an den Schläfen färbten sie sich grau, die Pustel wichen ebenso und auch die tumbe Nase wurde spitzer und seine teigigen Arme, so konnte er fühlen, die wurden hager und stark, das Fett schmolz von seinem Hintern und er fühlte sich leichtfüßig und vitalisiert. So als habe der göttliche Bildhauer dort droben sich nun dieses unfertigen Klotzes Lehm erbarmt und ihn zu Ende gemeißelt, auf dass er ihm mehr gleichen möge.
Doch kaum hatte Jakob geblinzelt, fiel die Last zurück auf seinen Körper und sein Gesicht quoll zu dem auf, was es vorher gewesen war.
Beherzt beugte er sich nach unten, griff die fette Katze mit beiden Armen unter viel Miau, warf sie in den gusseisernen Kessel, schnappte sich das Paddel, schlug der Katze – ihr Kopf tauchte noch einmal auf – kräftig auf den Schädel und rührte, immer rechts herum.
„Auf Reisen ist er“, sagte Jakob mit flinker Zunge.
Frau Anabel nestelte an den Ärmeln ihres blauen Plusterkleides umher.
„Wissen Sie“, sagte sie dann unter tiefem Seufzen. „Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Pralinen waren nie so recht. Die Apfeltrüffel, die er mir versprach, sie schmeckten nach Birnen. Nur aus reiner Gutherzigkeit“, sagte sie und musterte mit ihren Augen Jakobs sehnigen Hals und seine breiten Schultern, „bin ich überhaupt noch hierher gekommen. Er war ja doch ein recht angenehmer Geselle.“
„Nun“, sagte Jakob, „eine Blume wie Sie in dieser öden Wüstenei. Da sehnen Sie sich bestimmt nach jedem noch so kleinen Wasserguss. Aber nun, wenn ich das so sagen darf, kosten Sie doch einmal hiervon und Sie werden schwören, der Himmel habe seine Tore aufgetan, um die schönste Blume des Landes mit Ambrosia zu begießen.“
Frau Anabel roch nach gepudertem Schweiß und ihre Schweinsäuglein funkelten mit erweiterten Pupillen – denn sie pflegte, nachdem sie von einer weitläufig verwandten Cousine aus der Stadt davon erfahren hatte, den Saft der schwarzen Tollkirsche, Bella Donna genannt, hineinzuträufeln; doch Frau Anabels Finger pflückten filigran eine der Pralinen aus der Schachtel, die ihr Meister Jakob nun entgegenhielt.
Wo hatte der alte Heinrich denn den nur immer versteckt gehalten!
Kaum hatten ihre Zähne die Praline zerteilte, spürte sie eine überwältigende Wärme in ihrer Leibesmitte erblühen und ein unkeusches Geräusch entfleuchte ihrem Munde. „Mmmmmm“, machte Frau Anabel. Und dann schnell: „Safran.“
„Gewiss, Ihr Gaumen wird nur noch von Ihrer Leidenschaftlichkeit übertroffen“, stellte Meister Jakob fest. „Das ist Safran, wie er safraniger nicht sein könnte.“
„Wie die Atalante“, stammelte Frau Anabel und malte sich aus, wie ihr bornierter Herr Gemahl mit seinen Freunden der herrschenden Kaste, deren Geschmackssinne tot und planiert waren vom Teer der Zigarren, aufblühten mit diesem herrlichen Safran-Geschmack, und wie alle Damen der Gesellschaft um sie herum flanierten und schwirrten und danach frugen und sie lobten und ihre Zungen rieben wegen dieses … hach. Ein weiteres unkeusches Geräusch entwich ihrem Munde. Und ihre Leibesmitte, die Klaviatur, auf der Meister Heinrich so meisterlich zu spielen gewusste hatte, fühlte sich cremig an, so cremig wie die Praline, die in ihrem Mund zu explodieren drohte.
„Hach“, sagte Frau Anabel, verschränkte beide Arme unter ihrer Brust und zog den Bauch ein. „Der vielgereiste Meister Heinrich und ich hatten ja ein Arrangement, ich weiß nicht, ob Ihnen davon bekannt ist.“
„Ja“, seufzte Meister Jakob und ging an ihr vorbei, um das Geschäft zu schließen. „Davon habe ich gehört.“
Als Frau Anabel das Geschäft verließ, es mochte eine Ewigkeit vergangen sein, geleitete sie Meister Jakob noch zur Tür.
„Lieber Meister Jakob“, sagte Frau Anabel kurzatmig zum Abschied und kniff ihm äußerst unstandesgemäß in den Hintern.
Und Meister Jakob erwiderte, während er über den nassen Schopf der fetten Frau sah: „Wie schön, dass Sie gekommen sind.“
Tatsächlich: Dort auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß die wunderschöne Zofe und beobachtete mit Argusaugen sein Treiben.
„Warten Sie, Frau Anabel“, sagte Meister Jakob geflissentlich. „Ich gebe Ihnen noch ein paar von den besonderen Pralinen mit, da wird sich Ihre Gesellschaft sicher freuen.“
Frau Raquel betrat das Geschäft kaum eine halbe Stunde später. Ohne Anhang, sehr zu Meister Jakobs Bedauern.
Pferdegesichtig und hochnäsig stand sie vor ihm, den Fächer wie einen Dolch auf seine Brust gerichtet: „Wo ist Meister Heinrich!“
„Verreist“, beschied ihr Jakob kühl.
„Und Sie haben die Dreistigkeit wer genau zu sein?“
„Der neue Besitzer.“
„Man wird das prüfen! Ich habe Kontakte! Bis in die höchsten Kreise!“
„Ach, bis zur Bürgermeisterei, ja?“
„Hören Sie mit den Spielchen auf“, fauchte Frau Raquel. „Mein Mann ist sehr vermögend!“
„Und mit Gewissheit sehr potent, was? Meine Teuerste. Ein Adonis mit der Stärke des Herkules und dem Hammer Thors, wie?“, fragte Meister Jakob, ging um die Ladentheke herum und griff sich mit einer Hand fordernd in den Schritt.
Frau Raquel quiekte entsetzt auf.
„Nur eines weiß ich von Ihrem Ehegatten. Er muss taub wie ein Esel und blind wie ein Maulwurf sein, wenn er bis heute noch keine Kenntnis Ihrer unzüchtigen Liason mit –“ Meister Jakob machte eine Pause, ging um die zürnende Dame herum und setzte süffisant fort: „- meinem Vorbesitzer hatte!“
Frau Raquels Haar, streng zu einem Zopf gebunden, flog auf und ab, als sie wütend und fauchend aus dem Geschäft stürmte.
Meister Jakob ging zurück in den Brauraum, um zu rühren – und um sich, flüsternd, mit dem Kessel zu beraten. Gebückt stand er da und rührte und flüsterte und dachte.
Frau Anabels Besuche zehrten zunehmend an seinen Kräften und Nerven. War sie früher noch, zu Meister Heinrichs Zeiten, zwei-, höchstens dreimal die Woche im Laden erschienen, suchte sie ihn nun täglich auf. Und manchmal, wenn ihr Mann auf Reisen, sogar zweimal am Tag.
Andere Kundinnen, die immer häufiger den Weg in Meister Jakobs Geschäft fanden, schwärmten von ihren Empfängen, eine solch exquisite Frau sei eine Zierde für jede Gemeinschaft. Und ob man nicht, so fragten sie mit kokettem Augenaufschlag, ebenfalls in den Genuss käme, zu seinem erlauchteren Kundenkreis zählen zu dürfen.
Meister Jakob lächelte dann stumm, nickte, griff unter die Ladentheke und präsentierte einige der älteren Pralinen. „Wie schön, dass Sie gekommen sind“, sagte er. „Und empfehlen Sie mich doch weiter.“
Nachdem er Frau Anabel beschlafen hatte, sie entweder sanft geliebt, wie der zartbittere Kuss einer Praline, oder viehisch und wild und stürmisch genommen hatte, wie der Kakao-Ozean seiner neuesten Chili-Komposition, pflegte Meister Jakob ihr Gift ins Ohr zu träufeln. Am Anfang wenig nur, eine kurze Bemerkung darüber, dass es nur eine Sonne gäbe und nicht zwei. Dass in einem Boden, in dem zwei Pflanzen zwar hübsch, aber nicht prächtig wuchsen, eine einzige, alleinige Pflanze zu voller Blüte erstrahlen könne.
Doch diese Sätze verstand Frau Anabel schlicht nicht, sagte nur: „Ach, Sie können sich so gut ausdrücken. Sie sind so eloquent, Sie sind mein Augenstern“, bevor sie ihre Kleider raffte und von dannen tänzelte.
Und so musste Meister Jakob deutlicher werden. Davon erzählen, einige machten sich über Frau Anabels jüdische Herkunft lustig, sprächen über sie als fette Gans, als alte Glucke, ja, es täte ihm in der Seele weh, ihr nur davon zu erzählen, aber manche verglichen sogar ihre Leibesfülle mit der eines Walrosses.
„Wer?“, verlangte sie endlich zu wissen, hochroten Kopfes stand sie vor ihm, das diesmal fliederfarbene Plusterkleid kaum über den Hüften.
„Ah“, sagte Meister Jakob und hob die Hände wie zur Verteidigung nach oben. „Also dies kann ich nicht preis geben.“
„Aber Jakob, liebster Jakob, ich bin’s doch. Deine Aurora.“
„Frau Raquel ist’s“, stieß Jakob leise zwischen seinen Zähnen hindurch und empfahl sich, breit lächelnd, in den Brauraum.
In den folgenden Wochen geriet das Geschäft von Frau Raquels honorigem Mann in raue Fahrwasser. Eine Steuerprüfung stand wohl an, so hörte Meister Jakob an seiner Ladentheke, ferner entsprächen bestimmte Baulichkeiten nicht den Brandschutzverordnungen und an umstürzlerischen Verschwörungen sei der honorige Mann ebenfalls beteiligt.
Als Meister Jakob dies hörte, setzte er sich an seinen Schreibtisch im Brauraum und brachte mit geschwungenen Lettern einige Zeilen aufs Papier, dann beugte er sich über den Kessel, der leer und leerer wurde und flüsterte: „Bald.“
Und auf der Schokoladenoberfläche des Kessels bildete sich das Antlitz der wunderschönen Zofe mit den wilden Haaren und dem grauen Kleid. Jene knospende, einzige Schokoladenblüte, nach der Meister Jakob mit all seinem Sinnen und Trachten strebte.
Wie ein Bettler in der Nacht kam Frau Raquel zu ihm, öffnete die Ladentür nur einen Spalt breit und quetschte sich hinein. Ihr Atem rasselte, das Asthma musste sich verschlimmert haben, und doch, als sie die Kapuze vom Kopf zog, da war noch der starre, harte Blick. Den Zorn im Gesicht, der sich so oft, unter Meister Heinrichs Lenden und Jakobs Augen, in zarte Creme verwandelt hatte.
„Sie sind am Ende“, stellte Jakob fest.
„Wir sind noch lange nicht am Ende!“, sagte Frau Raquel mit roten Wangen.
„Ihr Mann wird sich erhängen und Sie knüpfen das Seil.“
„Wer zum Teufel sind Sie?“
„Essen Sie eine Praline und schließen Sie die Tür hinter sich. Sie werden sehen, es wird sich alles zum Besten wenden.“
Frau Raquel ließ ihre Schultern sinken und schlurfte zur Tür, Meister Jakob griff unter die Ladentheke und zauberte ein paar Pralinen hervor und ein Lächeln auf sein Gesicht.
Frau Anabel betrat den Laden am nächsten Vormittag. Meister Jakob hatte sich, kaum zwei Stunden zuvor, Schokolade auf die Augenringe schmieren müssen, um die Überbleibsel einer durchwachten Nacht zu verbergen.
Eilig ging Jakob auf sie zu und schloss die Tür hinter ihr, ein Knie drückte er zwischen ihre Beine und krallte sich hart in ihren Po.
„Aber, aber Jakob“, seufzte Frau Anabel, legte ihren Kopf in den Nacken und bot den Hals dar. „Du bist doch sonst nicht so stürmisch“, sagte sie, als der Biss ausblieb. „Manchmal in meinen schwachen Stunden dachte ich sogar, du begehrst mich nicht, wie ich dich begehre.“
Dann spürte sie ein köstliches Schokoladenpralinchen auf ihren Lippen und seine starken Hände, die an ihrem Gesäß Schabernack trieben.
„Iss, meine Aurora“, flüsterte er und sie biss und schmeckte – etwas sauer diesmal, anregend, vitalisierend sauer -, ihre Glieder wurden ganz weich und sie sackte etwas zusammen. Wie dankbar war sie, als sie seine starken Arme unter ihren Achseln fühlte.
„Ich hab das Mieder wohl zu eng schnüren lassen“, sagte Frau Anabel und kicherte leiste. Ihre Augen konnte sie kaum noch offen halten; aber der Gedanke Widerstand zu leisten kam ihr nicht, weshalb auch?
Jakob stand vor dem wieder gefüllten Kessel und rührte und rührte.
„Ich muss ja sagen, in meiner Weiblichkeit kränkt mich das nun ein Quantum deutlicher als ich zunächst vermutete“, sagte Frau Raquel.
Jakob knetete fahrig seine Hände, bückte sich immer wieder und stapelte hastig Pralinen auf die Ladentheken.
„Da nimm! Und jetzt geh! Und lass sie endlich hier!“
„Aber, aber“, sagte Frau Raquel und hob die Nase ein Stück höher. „Ich denke, wir müssen einmal deutlich machen, dass sich unsere Positionen hier etwas verschoben haben, nicht wahr? Ich war lange genug meines Mannes Gattin, um zu bemerken, wann der Zeitpunkt günstig ist, neu zu verhandeln.“
Jakob starrte unablässig auf die graue Gestalt, die sich dort hinten in der Ecke versteckt hielt. So oft hatte er sie da kauern sehen, damals, als er noch ein anderer war. Verbunden mit ihr, durch ein stumpfes Band.
„Du hast sie zusehen lassen“, sagte Meister Jakob.
„Es hat ihr sicher gefallen“, krächzte Frau Raquel, mit den ungesunden roten Wangen. „Meister Heinrich schätzte es wohl ebenfalls. Er war ein, wie man in Paris in dieser Saison zu sagen pflegt, ein Voyeur. Ach, wann kehrt er denn von seiner Reise zurück? Ich vermisse seine Gegenwart doch sehr.“
Jakobs Blick raste zur Brauraumtür, dünne Fäden Schokolade lugten wie die Fangarme eines Oktopoden unter dem Türspalt hervor.
„Raus jetzt!“, schrie er. „Wenn dir dein Leben lieb ist, lass uns endlich allein!“
Frau Raquel entblößte ihre Zähne und reckte die Nase noch etwas höher.
„Was riecht denn hier so gut?“, fragte sie.
Jakob stürzte an ihr vorbei auf die zitternde Zofe zu, die in der Ecke kauerte, und er beugte sich über sie und hielt sie ganz fest, während der Schokoladengeruch stärker und herber wurde, und die Schreie leiser.
In dieser Nacht zeigte Jakob der Zofe, wie man den Kessel rührt. Links herum und links herum und links herum, denn der Mond nahm ab. Und sie tranken Schokolade, direkt aus dem Kessel, mit vier Händen schöpften sie und fütterten sich und liebten einander.
Nackt und kalt lagen die zwei unter dem blubbernden Kessel und ab und an stand einer von beiden auf und rührte oder trank oder legte Feuer nach.
Und so ging es zwei Tage und drei Nächte.
Und man möchte sie gerne dort liegen sehen, jetzt und für alle Zeit. Schokolade trinkend und sich neckend und liebkosend. Und kennenlernen könnten sie sich, denn, das ist ja keine Frage, sie kannten sich kaum, als Jakob erwachte, nicht mehr Meister, nur noch er. Und er erwachte, da ihm etwas heiße Schokolade auf die Stirn getropft war.
Dumpf hatte er gemerkt, dass der Kessel wieder leerer geworden war. Doch erst jetzt begriff er, dass die Schokolade, die er über ihre jungen Brüste geträufelt hatte, ja aus dem Kessel stammte. Doch nun, da dass Feuer unter dem Kessel weiß zischte und blau flimmerte, da war er wieder allein. Kein Stofffetzen ihres grauen Kleides war ihm geblieben. Und kalt war ihm und trist und bang und hinter seinem vorderen rechten Stirnlappen war kein Trost geblieben.
Und so rappelte er sich auf mit geschlossenen Augen, seine Knie waren kalt und in seinem Magen rumorte es dumpf. Er öffnete die Augen und der Kessel war bis an den Rand gefüllt. Blasen stiegen auf und Schokolade schwappte über den Rand des Kessels auf seine Zehen hinab.
Jakob stieg nackt auf den Schemel, von dem aus er so oft gerührt hatte, und ließ sich kopfüber in die siedend-heiße Schokolade fallen.
Der Kessel kochte über. Wie ein Vulkan erblühte die uralte Göttin, in maßloser Gier breitete sie sich aus. Schokolade floss in Strömen. Die Einwohner ereilte es nachts, sie starben einen süßen Tod. Und ob Pferd oder Automobil – niemand entkam ihr. Und als der Vulkan erlosch und als es nichts mehr zu verzehren gab und als alle grüne Wiese und als alles rote Blut zu Schokolade erstarrt dem Morgen entgegenwachte – und als der Kessel selbst, der Ursprung des Vulkans, bedeckt war unter meterdicken Schichten purster, reinster Schokolade, da ruhte eine Göttin wieder. Und der Kessel war still und stumm.
Hier verliert auch unser Auge den Kessel aus dem Blick. Eine Stadt voller Schokolade. Was mag aus ihr geworden sein? Manche sagen, einige Leute aus einer Nachbarstadt hätten sie entdeckt. Mit Mann und Maus hätten sie die Stadt gefressen und vor Scham geschwiegen. Andere sagen, die Stadt wäre in der Julihitze geschmolzen. Und wiederum andere sagen, ein findiger Geschäftsmann habe sie entdeckt, einen Schokoladensteinbruch errichtet und man koste von ihr noch heute.