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Die Zeit ist überreif
Wer in Kindertagen in den außergewöhnlichen Hochgenuss der waltdisney’schen „Alice im Wunderland“-Verfilmung gekommen sein sollte, kann sich unter Umständen an einzelne Handlungsfiguren der Geschichte erinnern. Dies ist selbstverständlich stark von Intensität und Umfang des Filmkonsums abhängig- ich für meinen Teil kann behaupten, den genannten Disney-Klassiker an die achzigtausend Mal gesehen zu haben. Insbesondere das Walross, welches in Verbindung mit einem wahnsinnigen Zimmermann auftritt, hat sich zu damaliger Zeit bis in die tiefsten Windungen meiner zarte Kinderseele gefressen und verursacht bis zum heutigen Tag regelmäßig auftretende psychotische Angstattacken.
Doch wie ist es möglich, dass eine in den Fünfziger Jahren entwickelte Zeichentrickfigur Inbegriff meiner persönlichen Albtraumsequenzen wurde? Neben dem skurrilen Auftreten als menschengleiches Wesen verfügte das normalerweise in der Arktis beheimatete Raubtier über einen äußerst geschmackvollen Kleidungsstil: neben einem petrolfarbenen Anzug kam das kugelförmig anmutende Wesen mit Spazierstock und Monokel daher.
Doch bereits im mittleren Kleinkindalter ließ ich mich keinesfalls von derartigen Verblendungen und Äußerlichkeiten täuschen- und das mit gutem Grund: mit Hilfe eines perfiden und bis ins letzte Detail ausgeklügelten Täuschungsmanövers gelang es den Schurken Walross und Zimmermann eine Kindergartentruppe Austernbabys subtil gewaltsam von ihrer Mutter- ob leiblich oder adoptiert entzieht sich meiner damaligen und heutigen Kenntnis- loszureißen. Im fröhlichen Duett sinnieren die Unholde scheinbar der Frage, wann denn nun eigentlich Austernverspeisezeit wäre, antworten im Refrain „Die Zeit ist reif, die Zeit ist überreif.“ und kehren mit erbeutetem Diebesgut den Rattenfänger von Hameln imitierend in ihre baufällige Junggesellenhütte am Strand zurück.
Den weiteren Verlauf, gespickt mit verstörenden Elementen des üblichen Gewaltrepertoires- eben ganz Walt Disney Manier, man denke nur an den von Gnus zu Brei verarbeiteten Mufasa in „König der Löwen“ oder das traumatisierte Elefantenbaby Dumbo- möchte ich dem werten Leser ersparen- nur soviel: schlussendlich sind die knuffigen Austern, welche selbstverständlich kindchenschematisch mit Babyhauben und Schühchen versehen waren, verspeist, zurück bleibt ein selbstgefällig dreinblickendes Walross.
Den überwiegenden Teil meiner mittlerweile einundzwanzig Jahre andauernden Existenz verbringe ich in der tiefen Überzeugung, mein frühkindliches Austerntrauma verarbeitet und überwunden zu haben. Womit ich allerdings nicht gerechnet habe, war die unglaubliche Hinterhältigkeit, mit der Herr Walross in menschlicher Gestalt die alten Narben aufzureißen vermochte.
Ein Besuch des nahegelegenen Kupsch-Marktes, welchem die Besorgung kleinerer Gebrauchsgegenstände und Konsumgüter zugrunde lag, konfrontierte mich mit der exakten Personifizierung der mir verhassten Animationsfigur in Form eines unvorstellbar dickbäuchigen Kassenmitarbeiters, welcher darüber hinaus die akribisch genaue Nachbildung des Walrossbartes in seinem Gesicht zur Schau trug. Ungläubig dreinblickend, emotional fünfzehn Jahre zurückgeworfen und mit der echoenden Gedankenschleife „Er hat die Muscheln gefressen! Er hat die Muscheln gefressen!“ starrte ich in das robbenartige Gesicht; vor meinem geistigen Auge tanzten Austernbabys vergnügt und quietschfidel über den von Unheil überschatteten Strand und während ich die Frage „Wollense ne Tüte?“ langsam versuchte, in die gerade stattfindende Realität einzuordnen, ertönte in meiner Kopf der nervtötende Jingle „Die Zeit ist reif, die Zeit ist reif, die Zeit ist überreif."