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Die Zuflucht

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29.09.2004
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Die Zuflucht

Er hasste seinen Partner. Ständig war er mit ihm zusammen. Wo der eine hinging, musste auch der andere mit. Selbst zusammengerollt in der Dunkelheit war er ihm nah. Kein Raum für Individualität. Keine eigenen Entscheidungen. Kein Ich. Nur immer Wir. Er hätte schreien mögen, wenn er es denn gekonnt hätte. Aber selbst das war ihm verwehrt. So litt er stumm vor sich hin. Haderte mit seinem Schicksal, das ihn an ein solches Leben kettete. An ein Gegenüber, das ihm keinerlei positive Herausforderung bot. Keine Resonanz der Gedanken. Keine Impulse für den Geist. Eben weil er ihm so schrecklich ähnlich war.

Täglich wurde er damit konfrontiert, ein Abbild seiner Selbst in den Handlungen des Anderen zu entdecken und sich gleichzeitig bewusst zu werden, wie verzerrt dieses Bild ihn doch darstellte. Es war, als ob man sein Leben in einem Spiegelkabinett verbringen musste, in dem man nie auch nur eine einzige authentische Darstellung fand.

An manchen Tagen hatte er das Gefühl, nicht mehr Atmen zu können, weil die Eintönigkeit seines Daseins ihn so sehr quälte. In gleichem Maße, wie seine Existenz auf einen endlosen Kreislauf von zermürbenden Wiederholungen schrumpfte, dehnte sich in seinem Inneren die Gier nach Freiheit aus. Warum durfte er nicht er selbst sein? Einzigartig, und doch integriert in die Gesellschaft. Einer von vielen und doch wie kein anderer. Geschätzt und geachtet wegen dem, was er hatte und keiner sonst außer ihm. Sollte so nicht das Leben eigentlich sein?

Wie lange konnte man es aushalten, mit einer Situation, die einen grenzenlos unglücklich machte? Wie lange konnte man seinen Pflichten nachkommen, die man unter diesen Umständen als Zumutung empfand? Wie lange, ohne innerlich zu zerbröseln? Einen Tag noch? Nur noch diesen einen ...?

Doch dann hatte er von dem Ausweg gehört. Ein Gerücht zuerst. Leise erzählt, in den stillen, dunklen Stunden der Nacht. Geflüstert von denen, deren Gedanken in Zeiten der Ruhe von dem Verlangen nach Veränderung wachgehalten wurden. Sie nannten es „Die Zuflucht". Je mehr er hörte, desto fester klammerte er sich an diesen Gedanken. Einige waren schon den Weg gegangen. Keiner war bisher zurückgekehrt. Wo genau der Ort war, konnte ihm niemand sagen. Auch nicht, welches Leben man dort führen würde. Aber welcher Ort, welches Leben konnte schlimmer sein als dieses?

Er träumte nicht von einem Paradies des Dolce Vita und es ging ihm nicht darum, seinen Aufgaben zu entfliehen. Aber er wollte - er musste seine Heimat dort finden, wo Individualität als etwas Selbstverständliches, etwas Kostbares war, wo nicht das Gesetz der Masse herrschte und wo man nicht leichtfertig mit anderen in einer Schublade landete.

Das Karussell hatte damit zu tun, hatte man ihm gesagt. Dort wäre der Übergang in die andere Welt. Im Karussell wurden sie alle regelmäßig erneuert, wenn sie geschunden, erschöpft und stinkend von ihrem Dienst kamen. Und manchmal fehlte danach einer. Zwei gehen rein und einer kommt raus. Keiner konnte erklären, wo und wie genau jemand verschwunden war und es kursierten die wildesten Geschichten über verborgene Gänge oder das Zauberwort „Ankh".

Es war ein zartes Pflänzchen, diese Hoffnung und doch bot es ihm genügend Halt, um weiterzumachen. Um jedem quälenden Tag einen neuen Tag folgen zu lassen. Um begierig zu warten, bis er wieder an der Reihe wäre, mit seinem Partner ins Karussell zu gehen. Um „Ankh" zu murmeln, nach dem Weg zu suchen, den außer den Verzweifelten keiner sah, um aus den Tiefen seines Herzens zu wünschen, dass dieses Mal ... dieses Mal ... ER derjenige Socken sein könnte, der in der Waschmaschine spurlos verschwindet.

 
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@ Anna-Fee: Danke :kuss:

@ macsoja: Auch wenn ich meinen Deprisocken vielleicht nochmal neu erfinde, hab ich den jetzigen doch in den Genuss einiger deiner Änderungsvorschläge kommen lassen. Nicht aller, denn an manchen Formulierungen hänge ich einfach. Zum Beispiel hieße für mich

Er wollte schreien, aber er konnte es nicht.

dass jemand, der schreien kann, daran (durch Halsschmerzen oder Klebeband) daran gehindert wird. Da der Socken an sich nicht schreien kann bleibt die umständliche Formulierung. Ok, ok ... ich hör schon die Einwände ... Socken können auch nicht flüstern ... Trotzdem! Der Satz bleibt!

Genauso fällt es mir schwer zu schreiben, dass er in ruhigen Stunden abseits vom andren lag, weil oben ja schon die Aussage der Nähe zusammengerollt in der Dunkelheit war. Und den lamentierenden Absatz brauche ich irgendwie als Verzweiflungs-Spitze und Übergang auf die Hoffnung auf den Ausweg.

Ansonsten hab ich aber gerne von deinen Tipps profitiert. Thx. :)

Gruß,

Kira.

 

Und Anea machte sich auf, in alten Texten zu kramen und längst vergessenes wieder an die Oberfläche zu spülen... und ja, sie tat es gern...

Hallo Kira.

Ich geb gleich mal zu, dass ich keine Lust hatte, alle anderen Kritiken zu lesen, also wiederhole ich mich vielleicht.
Deine Geschichte gefällt mir, aber nur wegen der Pointe. Nur dadurch erhält das zuvor Gelesene so viel Sinn, als dass der Text mir im Gedächtnis bleiben könnte. Hättest du die Pointe nicht, hätte ich dich angemault von wegen fehlender Handlung und viel zu viel Gelaber, auch wenn es sich gut lesen lässt.
Aber es war ja wohl als Pointengeschichte gedacht und als solche ist die Geschichte gut.

Gruß,
Anea.

 

@Kira

Mummenschanz
Gevatter Tod

sind imho die besten von ihm :)

Gruss Julian

 

@Anea
Hey, hast du schon mal überlegt, doch noch in Richtung Archäologie umzusattlen, wenn du so gut im Ausgraben bist? ;) Ja klar, ist das hier vordergründig ne Pointengeschichte. Aber hintergründig hab ich in das viele Gelaber halt noch ein paar philosophische Gedanken dazu reingepackt, wie man sich fühlen muss, wenn man notgedrungen nur von Individuen umgeben ist, die einem keine Herausforderung bieten (und die augenzwinkernde Überlegung, wer zum Geier eigentlich festgelegt hat, das Socken grundsätzlich homosexuell sind). Außerdem sind noch ein paar wortspielerische Hinweise auf einen alten Sci-Fi-Film drin. Steht ja aber alles bereits in den früheren Kommentaren, so dass ich mich jetzt nicht langatmig wiederholen will. Trotzdem bin ich froh, dass du auch ohne diese zusätzlichen Punkte die Geschichte mochtest und mich nicht anmaulen musstest. :D

@dicker
Danke, für die Leseempfehlungen. Ich hab mittlerweile meiner Pratchett-Unkenntnis mit zwei Scheibenweltbänden abgeholfen und mich mit dem Manne durchaus ein wenig angefreundet.

Gruß,

Kira.

 

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