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Die zweite Dimension von Kälte

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20.01.2018
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Die zweite Dimension von Kälte

In unserer letzten Nacht in Berlin hat uns Thomas erzählt, dass es nichts Kälteres gäbe als einen russischen Winter. Unendlicher Schnee, tosender Wind und lange Nächte würden selbst die größte Armee zermürben wie Mühlsteine, innerlich wie äußerlich, und nichts übriglassen außer feinst-gemahlenes Krähenfutter. Er hat gesagt, wir könnten uns die Kälte nicht einmal vorstellen. Wir haben das damals als Geschwätz abgetan; schließlich war Thomas genauso betrunken gewesen wie wir selbst, und ist es ehrlich gesagt ziemlich schwer, sich den Winter vorzustellen, wenn man ein Bier in der Hand hält und eine warme Frau auf dem Schoß sitzen hat.
Aber während ich hier in einem russischen Hinterwald stehe und dabei zusehe, wie meine eigene Pisse noch in der Luft gefriert und als Eiszapfen im weichen Schnee landet, kommt mit der Gedanke, dass Thomas mit seiner Behauptung vielleicht gar nicht so Unrecht hatte, und dass wir vielleicht wirklich keine Ahnung hatten, was wahre Kälte ist.
Nicht dass das wichtig ist. Wir marschieren so oder so auf Moskau zu, egal ob Winter oder nicht. Paris ist in deutscher Hand, genauso wie Wien und Warschau, und weil die restlichen Alliierten sich noch immer nicht sicher sind, was sie überhaupt wollen, ist es im Westen still geworden, so still, dass man uns alle in den Osten geschickt hat. Noch vor wenigen Wochen saßen Thomas und ich auf der Ladefläche eines Trucks, tranken Wein und fühlten uns wie die Sieger, die wir waren; jetzt sitzen wir mit fünfzig Anderen in einem Loch aus Schnee, das uns Schutz vor dem harten Wetter gibt, und müssen unsere eigene Scheiße verbrennen, um nicht zu erfrieren.
„Jemand ne Uhrzeit?“, fragt einer der Fünfzig, aber alle schütteln mit dem Kopf. Mittlerweile sind wir so unrasiert und verwahrlost, dass das Unterscheiden schwerfällt, und die Dunkelheit tut ihr Übriges. Irgendwann habe ich angefangen, mir nur noch ihre Stimmen zu merken. Den Namen kann ich eh keine Gesichtern zuordnen.
„Welcher Tag ist heute?“, fragt Thomas, während er wieder mit der Hand an seiner Brusttasche spielt. Für die Anderen ist es nur eine nervöse Geste, aber ich weiß es besser: In seiner Tasche ist ein Bild von ihm und Hitler, aufgenommen vor drei Jahren auf einem Boot in Bremen. Thomas wertvollster Besitz. In den schlimmsten Momenten, wenn der Wind über unseren selbstgebauten Bunker pfeift und der Neuschnee uns eingräbt, dann nimmt Thomas manchmal das Bild aus seiner Jacke und starrt es schweigend an. Als läge ihm eine Frage auf der Zunge, die er nie auszusprechen wagt. Thomas ist kein Mensch, der leicht über seine Gedanken und Gefühle spricht, aber ich bin mir sicher, dass er ohne das Bild längst den Glauben verloren hätte. Und fest an eine Sache glauben zu können, sei es die Familie oder die Zukunft oder einfach nur eine Sache, vollkommen egal. Ein starker Glaube ist das Einzige, dass einem im russischen Winter Wärme spenden kann.
Alle schütteln den Kopf. Keiner kennt den Wochentag.
Der Wind schreit meinen Namen. Ich glaube, ich halluziniere. Das Pfeifen nimmt zu, und mir kommt der Gedanke, dass es vielleicht ein Mörser ist, den die Russen auf unsere Locher schießen. Aber dann fällt mir wieder ein, dass es dafür viel zu windig ist, und außerdem ist hier draußen sowieso niemand außer uns.
Irgendwann werde ich wach. Jemand schüttelt meine Schulter und ich bemerkte erst jetzt, dass ich überhaupt geschlafen habe.
„Hans, wach auf.“
Ich muss blinzeln, um sicher zu gehen, aber meine Augen täuschen mich nicht: Über mir steht der neue Kämmerer vom Herrn Oberst, mit hochrotem Kopf und einem so dicken Fellmantel, dass ich fast neidisch werde. Ich erinnere mich an ihn; er war im selben Loch wie wir und hat seine linke Hand bei einem Hinterhalt verloren, als eine Granate neben ihm gelandet ist. Thomas und ich haben ihn aus seinem Krater gezogen und auf einen Karren gehievt, damit der Arme im nächstbesten Lazarett wieder zusammengeflickt wird, aber seine Hand konnten sie anscheinend nicht retten. Weil der letzte Kämmerer aber mehr verloren hat als nur eine Hand, hat er anscheinend eine Beförderung erhalten. Er ist jetzt einer der wenigen Soldaten, der in einem echten Haus wohnen darf. Nicht irgendein verkohlter Haufen Steine, wie wir ihn immer wieder finden, sondern ein echtes Haus! Fachwerk, gebrannte Ziegel und ein Dach aus Holzbrettern. Je näher wir Moskau kommen, desto weniger bekommt man zu Gesicht. Die Russen brennen ihre Höfe lieber bis auf die Grundmauern nieder, als sie uns zu überlassen, und so ist jedes intakte Gestüt, dass die Späher melden, ein kleiner Sieg gegen das Mühlrad.
„Was ist?“, nuschle ich. Es ist so kalt, meine Zähne klappern wie ein Pferd.
„Der Herr Oberst will Sie sehen.“
„Geh und sag ihm, ich komme gleich.“
„Er ist schon hier.“
Na Heilige. Wenn der Oberst für einen einfachen Soldaten sein warmes Quartier verlässt, ist dass ein Zeichen dafür, dass man irgendetwas kräftig verbockt hat. Seufzend stehe ich auf, schüttle mir den Schnee von den Klamotten und krieche aus dem Loch hervor. Ich rutsche mit einem Fuß ab und eine Ladung Schnee fällt Thomas in den Nacken. Er wacht auf und flucht mir irgendetwas hinterher, aber der Wind ist so laut, dass ich es nicht verstehen kann.
Als ich es aus dem Loch geschafft habe, weht mir Schnee ins Gesicht und macht es schwer, irgendetwas zu erkennen. Ich bin in das Zentrum eines Schneesturms eingetaucht, den man wenige Meter tiefer kaum gespürt hat. Sofort wird mir noch kälter, etwas, dass ich vor fünf Minuten noch für völlig unmöglich gehalten habe. Nach und nach erkenne ich um mich herum die schwachen Feuer der anderen Löcher und darum tausende kauernde Gestalten, die sich wärmen, aber weder eine Spur von dem Kämmerer noch vom Herrn Oberst selbst. Alles um mir herum ist Ackerland, aber der Boden ist so hart und so bedeckt mit Schnee, dass ich nicht glauben will, wie hier je wieder etwas wachsen kann. Ich überlege, ob ich nach ihnen rufen soll, aber es würde eh nichts bringen. Der Sturm frisst jedes Geräusch. Voller Verzweiflung will ich gerade wieder in das Loch kriechen, als mehrere Meter vor mir plötzlich Scheinwerfer angehen. Ein Auto! Ich wusste gar nicht, dass wir überhaupt eines an der Front haben. Schnell eile ich durch den tosenden Schnee auf die Lichtkegel zu, und als ich den Wagen endlich erreiche, reiße ich die Tür auf und schmeiße mich auf den Rücksitz.
Auf dem Beifahrersitz sitzt, von der Kälte völlig überrumpelt, der Kämmerer, und reibt sich seine eine Hand an seinem dicken Mantel. Was für ein Waschlappen. In unserem Loch würde er nicht mehr als fünf Minuten überleben.
Der Mann auf dem Fahrersitz ist das vollkommene Gegenbeispiel. Ich kann das Gesicht des Oberst im Frontspiegel sehen: Glatt rasiert, die Haut voller Falten und der Mund so gerade wie ein Bleistift. Mürrisch blickt er aus der Frontscheibe hinaus auf den Sturm, als wäre das Schneetreiben eine persönliche Beleidigung seiner Person. Vermutlich passt es ihm nicht, dass ein so hochdekorierter Mann wie er, von etwas so Banalem wie Unwetter in die Knie gezwungen wird. Dass er, obwohl er doch die Spitze der menschlichen Rasse repräsentiert, nicht in der Lage ist, den gewöhnlichen Elementen der Natur zu trotzen.
Vielleicht ist er auch einfach nur schlecht gelaunt, weil er selbst fahren muss. Wir haben mit unserem letzten Kübelwagen auch unseren letzen Fahrer verloren und Johann ist mit einer Hand sicher alles andere als verkehrstauglich. Der Krieg zwingt uns alle zu grausamen Sachen: Uns zum Frieren und den Oberst zum Fahren.
Mich persönlich hat der ganze Nationalsozialismus nie interessiert. Ich meine klar, auch ich habe die Fahne geschwungen und Steine auf jüdische Läden geworfen, so wie jeder in meinem Alter. Eine Zeit lang bin ich sogar richtig stolz darauf gewesen, Deutscher zu sein, bis ich eines Tages zufällig ein Buch in die Hände bekam, dass eigentlich hätte verbrannt werden sollen. Gleichzeitig beschämt und neugierig habe ich es in meinem Zimmer versteckt und nachts unter der Bettdecke gelesen. Auch wenn der Inhalt zu philosophisch und ich noch zu klein war, als dass ich es hätte verstehen können, ist mir ein Satz doch im Kopf geblieben:
Patriotismus ist die Überzeugung, dass unser Land das Beste ist, weil wir darin geboren wurden.
War das mit dem Nationalsozialismus nicht irgendwie genauso?
Ich blicke weg, und meine Augen finden den Seitenspiegel. Es braucht einen Moment, bis ich erkenne, dass das zottelige Etwas in dem Spiegel ich selbst bin. Ein wilder, langer Bart, und unterlaufene Augen, die seit Wochen zu wenig Sonnenlicht bekommen haben. Ich sehe wirklich scheiße aus, und geistig vollkommen abwesend greife ich mit der Hand nach meinem Bart und berühre ihn vorsichtig, nur um sicherzugehen, dass mein Spiegelbild keine Illusion ist.
Er ist echt.
Wenn mich jemand aus meiner Familie jetzt sehen könnte, er würde mich für den Fremden halten, der ich geworden bin.
„Johann, verlassen sie den Wagen“, sagt der Oberst, mit einer Stimme, die ich in unserem Loch eher einem Bären als einem Menschen zugeordnet hätte. Johann der Kämmerer beißt sich auf die Zunge, hat aber nicht den Mumm zu widersprechen, sondern zieht den Sturm dem Oberst vor. Stumm steigt er aus und schließt die Tür, während der Oberst weiter aus dem Fenster starrt. Im Wagen wird es still. Mein Atem ist so laut wie Trommelfeuer.
„Heute Morgen ist Nachschub angekommen. Die Dritte hat sich zu uns durchgekämpft, und sie haben alles mitgebracht, was sie tragen konnten.“
„Gute Neuigkeiten“, sage ich. Daher also der Wagen. Ich frage besser nicht danach, wo der eigentliche Fahrer gerade ist.
„Einer von ihnen hatte einen Sack Post dabei.“
Mein Herz beginnt zu rasen. Endlich, Post aus der Heimat! Ich will aufstehen, ihn am Kragen greifen und fragen, ob mir meine Familie geschrieben hat, aber ich beherrsche mich.
„Gibt es Post für mich?“, frage ich stattdessen.
Mit regungsloser Miene zieht der Oberst einen Brief aus seinem Mantel und reicht ihn mir. „Post ja, aber nicht für Sie. Für mich.“
Verwundert nehme ich den Brief und falte ihn auf. Ich lese ihn dreimal: Einmal, um meine Augen wieder an das Lesen zu gewöhnen, zweimal, um den Inhalt zu begreifen, und ein Drittes Mal, weil ich es nicht glauben will. Als ich nach und nach erst verstehe, was dieses Stück Papier bedeutet, bin ich viel zu erstarrt, um irgendetwas zu antworten.
„Vorlesen.“, befiehlt der Oberst.
Ich schlucke und muss blinzeln, weil sich meine Augen mit Tränen füllen. Das kann einfach nicht die Wahrheit sein. Mit zitternder Stimme beginne ich zu lesen:
„Sehr geehrter Herr Oberst,
am 23 November dieses Jahres ist der Bürger Adolf Knabe aufgrund einer Ausschreitung gegen das deutsche Gesetz verhaftet worden. Bei den nachfolgenden Untersuchungen und Vernehmungen stellte sich heraus, dass seine Mutter jüdischer Abstammung ist. Adolf Knabe und der Rest seiner Familie wird nun wegen Verrat am deutschen Vaterland angeklagt; sein Sohn Hans Knabe dient zur Zeit unter ihrem Kommando an der Ostfront. Sie kennen ihre Befehle.
Mit freundlichen Grüßen
Walter Hoch“
Mein Gehirn schaltet einen Gang hoch, aber es kann noch immer nicht verarbeiten, was ich gerade gelesen habe. Alle meine Gedanken kreisen um meine Familie und darum, wie es ihnen wohl gerade geht. Ein einziges Stück Papier, nicht größer als meine Hand, und trotzdem hat es mehr Auswirkung auf mein Leben als alles, was ich seit unserem Aufbruch aus Deutschland gesehen und getan habe.
„Verzeihung, Herr Oberst, ich glaube, ich verstehe nicht.“, frage ich, in der Hoffnung, mich einfach nur verlesen zu haben.
„Sie sind ein Jude, Knabe“, erklärt mir der Oberst.
Wie ein Hammer trifft mich die Erkenntnis. Ich starre auf meine Hände und versuche zu begreifen, was sich jetzt geändert hat, aber sie sehen noch immer genauso aus wie vorher.
„Ich bin Deutscher!“, stottere ich, aber es ist nicht mehr die Kälte, die meine Zähne klappern lässt. Ich werfe einen Blick auf das Datum. Der Brief wurde geschrieben am 23 November. Wir haben Anfang Januar.
Meine Familie ist schon längst tot, und ich erfahre es erst jetzt.
Es braucht meine ganze Willenskraft, um nicht heulend aus dem Auto auszusteigen.
„Nicht mehr. Sie wurden heute Mittag mit sofortiger Wirkung aus der Wehrmacht entlassen und unterstehen somit nicht mehr meinem Befehl.“ Der Oberst dreht sich zu mir um; die Augen trüb vom wenigen Sonnenlicht, aber trotzdem randvoll mit Verachtung. Seine typische Bleistiftmiene, als wäre er plötzlich sogar davon beleidigt, dass ich nie gewusst habe, dass mein Großvater eine Jüdin geheiratet hat.
„Das können sie nicht machen, ich habe mein Leben lang für Deutschland gekämpft! Meine Akte ist tadellos und ich habe jeden Befehl, den man mir gab, ohne zu Zögern befolgt.“ Mir wird schlecht, wenn daran denke, wie grausam ironisch plötzlich die Taten wirken, die ich früher ohne Frage ausgeführt habe. „Herr Oberst, ich bitte Sie! Ich habe meine Loyalität gegenüber Deutschland mehr als einmal bewiesen, also was macht es jetzt für einen Unterschied, dass-“
„Es macht einen Unterschied!“, schreit mich der Oberst an. „Verrat liegt in ihrem Blut, Knabe, ob sie wollen oder nicht! Sie können nicht gleichzeitig ein Jude und ein Deutscher sein!“ Wütend öffnet er das Handschuhfach und nimmt eine Flasche heraus, aus der er ein paar Schlücke nimmt. Ich rieche den scharfen Geruch von Alkohol, kann sein Brennen förmlich spüren.
Plötzlich frage ich mich, was Thomas zu all dem sagen sagen würde. Wir kennen uns, seit wir Kinder sind, haben zusammen Familienfeste gefeiert und uns die geheimsten Sachen erzählt, die man einem anderen Menschen überhaupt anvertrauen kann. Was würde er dazu sagen, dass meine Familie tot ist? Würde es jetzt einen Unterschied zwischen uns machen, dass meine Großmutter jüdische Wurzeln hat? Oder wäre es ihm egal, weil ich noch immer derselbe Mensch bin wie früher?
Bin ich überhaupt noch wie früher?
Der Oberst rümpft die Nase und setzte die Flasche ab. „Das Beste wäre, wenn ich Sie einfach erschieße, aber dafür ist mir die Kugel zu teuer, wenn ich sie auch auf einen Russen schießen kann. Außerdem würde ich nur ungern einen ehemaligen Soldaten hinrichten, selbst wenn es nur jemand wie Sie ist.“ Der Oberst zeigt aus dem Fenster. „Das, Knabe, das ist ihr Weg. Verlassen Sie mein Auto und entfernen Sie sich aus dem Lager.“
Lächelnd setzte er die Flasche wieder an, während ich beinahe ohnmächtig in den Schneesturm starre und über mein Schicksal nachdenke. Ohne Feuer und Schutz vor dem Wind werde ich in wenigen Minuten den Kältetod sterben; meine Hände werden vor Kälte abfrieren und schwarz werden, meine Lippen werden aneinander festkleben und am Ende werde ich vor Erschöpfung in den Schnee fallen und darum betteln, sterben zu dürfen. Es ist ein grausameres Schicksal, als eine Kugel je sein könnte, und ich habe nie so sehr an einen Gott geglaubt, als dass er sich jetzt erkenntlich zeigen und mich beschützen würde.
Aber was habe ich für eine Wahl?
Mir kommt ein grausamer Gedanke. Es wäre hinterlistig und feige, aber wenn es das ist, für dass mich der Herr Oberst sowieso hält, dann macht es ja keinen großen Unterschied. Ich schließe meine Augen und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, aber es ist so unglaublich schwer. Alles, was in meinem Kopf atmet, ist die Erkenntnis, dass an nur einem einzigen Tag meine Familie verhaftet und verurteilt, meine Zukunft in Deutschland zerstört und ich zu einem vogelfreien, gottlosen Verbrecher geworden bin. Ich habe nichts mehr, nichts, an das ich jetzt noch glauben kann. Was habe ich denn jetzt noch zu verlieren, außer meinem Leben?
Und verdammt, ich will leben.
Ich atme langsam und tief aus; dann ziehe ich meine Pistole aus dem Halfter und schieße dem Oberst durch den Rücksitz in den Kopf. Eins, zwei, drei, so rhythmisch perfekt wie der Schlag eines Metronoms. Hier, in einem geschlossenen Auto, sind die Schüsse ohrenbetäubend. Die Patronen durchschlagen seinen Schädel, treten zwischen seinen Augen wieder aus und zerfetzen die Flasche, aus der er noch eben getrunken hat. Mit offenem Mund kippt er vornüber und bleibt auf dem Lenkrad liegen, währende die Scherben auf den Boden fallen und sich der Alkohol mit seinem Blut vermischt. Die offenen Augen starren aus dem Fenster, als wollten sie fragen, wie es möglich ist, dass er durch die Hand eines Nichtdeutschen stirbt. Das muss es wohl sein, was der Oberst mit Verrat gemeint hat.
Ich bin wirklich nicht mehr wie früher.
Mit zitternden Händen ziehe ich den Leichnam auf die Rückbank und klettere selbst auf den blutverschmierten Vordersitz. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, es muss schnell gehen. Ich blickte aus dem Fenster, aber der Kämmerer ist nicht zu sehen und der Sturm ist so laut, dass niemand außer ihm die Schüsse hätte hören können. Niemand hat den Mord mitbekommen.
Ich atme nervös aus, starte das Auto und fahre langsam los. Meine Finger jucken vor Adrenalin und Anspannung, aber ich reiße mich zusammen und konzentriere mich. Hier in Russland ist der Boden nicht mehr als gefrorener Acker und der Schneesturm macht das Fahren auch nicht ungefährlicher.
Zu gern würde ich Thomas Lebewohl sagen, ihn noch einmal umarmen und versuchen, ihm alles zu erklären, was heute passiert ist. Aber er würde es nicht verstehen. Nicht, solange er sich an das Bild in seiner Brusttasche klammert. Ich verdrücke mir eine Träne und beschleunige, vorbei an den den Soldaten in ihrem Schneelöchern und ihren Lagerfeuern aus Scheiße.
Am Fachwerkhaus angekommen setzte ich den toten Oberst auf die Rückbank und wickle ihn in eine Decke ein, sodass es aussieht, als wenn er schläft. Ich lasse mir den Laderaum voll mit Lebensmitteln und Benzinkanistern packen und verschwinde mit der Ausrede, dass der Oberst und ich die Front kontrollieren würden und wir erst in einigen Tagen, ja wenn nicht sogar Wochen zurück sein könnten. Schließlich ist der Sturm unberechenbar, und zum Glück viel zu kalt, als dass man irgendeine Nachricht außerhalb eines Autos überbringen könnte.
Ohne einen Blick zurück trete ich das Gaspedal durch und verschwinde vom Gestüt. Mittlerweile ist mein Puls wieder normal und die Anspannung weitestgehend verschwunden. Von außen betrachtet sehe ich wieder aus wie der unschuldige Großstadtjunge, der auf der Suche nach Abenteuern in die Welt hinausgereist ist. Nur das Loch in der Lehne und die eingewickelte Leiche auf meinem Rücksitz zeugen davon, dass ich zu weit gegangen, als dass ich noch irgendwie unschuldig sein könnte. Trotzdem bereute ich es nicht. Schlagartig muss ich wieder an das Buch denken, das ich vor dem Feuer gerettet habe; zu gerne würde ich jetzt einen Stift ziehen und mit dicker Tinte hineinschreiben, dass es zwei Arten von Kälte gibt. Die Eine, die auf der Haut sitzt und den Körper kühlt. Und die Andere, tief unter der Haut, die die Seele in einen Eiszapfen verwandelt.
Russische Winter sind wirklich kalt.

 
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Hi Meuvind,

Zu aller erst herzlich willkommen!

Dein Text hat mir gut gefallen, ich hab ihn gerne gelesen. Man kann sich gut in den historische Schauplatz hineinversetzen. Wie authentisch deine Geschichte im geschichtlichen Detail ist, vermag ich natürlich nicht zu beurteilen, mir erschien es aber sehr gefestigt.

Leider strotzt dein Text nur so vor Rechtschreibfehlern, was das Lesevergnügen von Anfang an dämpft. Alles zu korrigieren, würde leider jeden Rahmen sprengen. Einige Fehler sind dir in der Groß- und Kleinschreibung unterlaufen, mehrere Flüchtigkeitsfehler wie vergessene Wörter, ein paar wenige bei der Zeitanwendung. Vor allem aber ein Fehler hat sich haarsträubend oft wiederholt, dass sich mir die Fingernägel aufgerollt haben: das/dass!!!! Beliebige, korrigierte Beispiele:

Nicht , dass das wichtig ist.

Ein starker Glaube ist das Einzige, das einen in einem russischen Winter Wärme spenden kann.

Schlagartig muss ich wieder an das Buch denken, das ich vor dem Feuer gerettet habe

Bitte unbedingt korrigieren!

Ansonsten hat mir dein Stil gut gefallen, die Landschaft dürfte vielleicht noch einen Satz abbekommen: Wald? Wiese? Dorf? Vielleicht habe ich das aber auch irgendwo überlesen...

Letztendlich, großes Lob meinerseits. Ich freue mich, mehr von dir zu lesen.

Viele Grüße,
Salomon

PS: Zuletzt noch den stets tadelnden Rat, den hier fast jeder unter seinem ersten Text findet: Indem du andere Texte kommentierst und konstruktiv kritisierst, werden auch mehr Leute deinen Text lesen und um ihre Meinung bereichern.

 

Hallo Meuvind,

auch von mir ein herzliches Willkommen.

Ich lege direkt los:

Er hat gesagt, wir könnten es uns die Kälte nicht einmal vorstellen.

ohne "es"

wenn man ein Bier in der Hand [hält]und eine warme Frau auf dem Schoß sitzen hat.

Aber während ich hier so in einem russischen Hinterwald stehe und dabei zusehe, [wie]meine eigene Pisse noch in der Luft gefriert und als Eiszapfen im weichen Schnee landet

"so" kann weg
"wie" ergänzen

vielleicht gar nicht so unrecht hatte

Unrecht

und dass wir vielleicht wirklich keine Ahnung haben, was wahre Kälte ist.

Ich würde hier eher mit Plusquamperfekt arbeiten, da dein Prota sich in diesem Moment ja bereits im Klaren darüber ist, was wahre Kälte bedeutet.

Nicht das das wichtig ist.

dass

„Jemand ne Uhrzeit?“, fragt einer der Fünfzig, aber alle schütteln mit dem Kopf. Mittlerweile sind wir alle so unrasiert und verwahrlost,

Ich weiß, als Autor verliert man nach einiger Zeit den Blick für solche Kleinigkeiten. Versuche solche Doppelungen trotzdem ausfindig zu machen und zu vermeiden.

Ich weiß nicht mehr wann, aber irgendwann habe ich angefangen, mir nur noch ihre Stimmen zu merken.

Auch hier kannst du "irgendwann" streichen, denn das "wann" macht es überflüssig.
Ich weiß nicht mehr wann, aber ich habe angefangen, mir nur noch ihre Stimmen zu merken.
Oder andersherum: Irgendwann habe ich angefangen, mir nur noch ihre Stimmen einzuprägen.

Ein starker Glaube ist das Einzige, dass einen in einem russischen Winter Wärme spenden kann.

(...) das Einzige, dass einem im russischen (...)

In den schlimmsten Momenten, wenn der Wind über unseren selbstgebauten Bunker pfeift und der Neuschnee uns eingräbt, dann nimmt Thomas manchmal das Bild aus seiner Jacke und starrt es an, wie ein Ankläger einen Täter anstarrt. Thomas ist kein Mensch, der leicht über seine Gedanken und Gefühle spricht, aber ich bin mir sicher, dass er ohne das Bild längst den Glauben verloren hätte. Und fest an eine Sache glauben zu können, sei es die Familie oder die Zukunft oder einfach nur eine Sache, vollkommen egal. Ein starker Glaube ist das Einzige, dass einen in einem russischen Winter Wärme spenden kann.

Wenn er der Ankläger ist und Hitler der Täter, dann widerspricht das deiner Schilderung, dass dieses Bild ihm die Hoffnung gibt zu überleben. Sei etwas präziser um es verständlich zu machen: Hasst er Hitler nun, da er sie in dieses Höllenloch schickte, oder verehrt er ihn, so wie 3 Jahre zuvor in Bremen? Wenn zweiteres, dann passt der Vergleich mit "Ankläger" und "Täter" nicht.

Je näher wie Moskau kommen

wir

Ich kann das Gesicht des Oberst im Frontspiegel sehe:

sehen

Vermutlich passt es ihm nicht, dass ein so hochdekorierter Mann wie er[,] von etwas so Banalem wie Unwetter in die Knie gezwungen wird.

nur um sicherzugehen, dass mein Spiegelbild nicht eine Illusion ist.

keine

Wenn mich jemand aus meiner Familie jetzt sehen könnte, er würde mich für den Fremden halten, der ich geworden bin.

Guter Satz!

hat aber nicht den Mumm, um zu widersprechen, sondern zieht den Sturm dem Oberst vor.

hat aber nicht den Mumm zu widersprechen, sondern...

Stumm steigt er aus und schließt die Tür hinter sich, während der Oberst weiter aus dem Fenster starrt.

das kannste auch weg lassen

Auf dem Beifahrersitz sitzt, von der Kälte völlig überrumpelt, der Kämmerer, und reibt sich die Hände. Was für ein Waschlappen. In unserem Loch würde er nicht mehr als fünf Minuten überleben.
Der Mann auf dem Fahrersitz ist das vollkommene Gegenbeispiel.

Der Oberst würde traditionell hinten sitzen und sich entweder von einem Fahrer oder seinem Kämmerer kutschieren lassen.

„Einer von ihnen hatte eine Sack Post dabeiPunkt"

einen

„Ich bin Deutscher!“, stottere ich, aber es ist nicht mehr die Kälte, die meine Zähne klappern lässt. Es ist Verwirrung.

Müsste es nicht pure Angst sein? Dein Protagonist ist sich vermutlich bewusst, was seiner Zeit mit Juden passierte. Vor allem mit jenen, die sich nicht als solche zu erkennen gegeben haben. Gerade Ostfront-Soldaten der Wehrmacht fanden sich in einem Vernichtungskrieg wieder, der von keinem der Soldaten unbemerkt bleiben konnte, ob er sich nun aktiv beteiligte oder nicht.
In diesem Moment müsste ihm klar sein, dass er erschossen, seine Familie verschwinden wird. Angst würde hier vermutlich eher passen, aber das bleibt allein deine Entscheidung.

„Das, Knabe, dass ist ihr Weg.

das

Lassen wir unsere beiden Götter über ihr Schicksal entscheiden

Es ist der selbe Gott! Darüber waren sich selbst die Nationalsozialisten im Klaren.

Ich lasse mir den Laderaum voll mit Lebensmitteln und Benzinkanistern packen und verschwinde mit der Ausrede, dass der Oberst und ich die Front kontrollieren würden und wir erst in einigen Tage, ja wenn nicht sogar Wochen zurück sein könnten.

Tagen
Hmm... das ist etwas zu unglaubwürdig. Versuche dir am besten eine andere Ausrede einfallen zu lassen. So formuliert, würde vermutlich jede/r Wache/Soldat/Grenzposten misstrauisch werden.


Also:

Im Großen und Ganzen hast du dir eine interessante Grundthematik ausgesucht, die jedoch mit Vorsicht zu behandeln ist. Deshalb ist es aus meiner Sicht ziemlich wichtig, historische Genauigkeiten und zeitgenössische Gepflogenheiten zu beachten.
Kleinigkeiten, wie die Tatsache, dass ein Auto (in dem Fall muss es sich um einen VW Kübelwagen oder um einen klobigen Mercedes handeln, denn in der Wehrmacht gab es sonst lediglich Kettenfahrzeuge und LKW in unterer Größenordnung) im Schneesturm, ohne Sicht und bei klirrender Kälte, die kaum auszumachenden Bunkeranlagen absucht, um einen einzelnen Juden zu finden, ist etwas unglaubwürdig. Eher würde man versuchen, per Fernfunk die vorderste Linie zu erreichen und den Betroffenen verhaften, bzw. sofort erschießen zu lassen.
Ein hochdekorierter Oberst, wie du ihn beschreibst, würde nicht selbst am Steuer sitzen. Außerdem habe ich nicht ganz verstanden, warum er den Kämmerer wegschickt. Die Verhaftung eines Juden war nichts ungewöhnliches, warum also die Geheimnistuerei?
Das hört sich kleinlich an, ich weiß, aber solche Details müssen halt stimmen, um auch Leser, die sich in der Materie auskennen, in die Handlung erfolgreich hineinzuziehen.

Bei mir hat das leider nicht geklappt. Dies lag nicht an deinem Schreibstil, den fand ich ganz in Ordnung. Eher an der typischen Krankheit, an der jeder unerfahrene Autor leidet (ich auch). Denn woher zum Henker soll man wissen, wann man die Gedanken des Protagonisten nun beschreiben soll, damit der Leser nicht im Dunkel steht - und wann man es sein lassen soll, da der Leser es von selbst tut. Mir wurde gesagt, es sei nur mit viel Übung zu schaffen, da man ein Gefühl dafür ausprägen muss. Dem stimme ich zu, deshalb gebe ich diesen Rat nun auch an dich weiter.
Denn wie die meisten "Neulinge" in der Welt der Kurzgeschichten oder allgemein dem Verfassen von Geschichten, machst auch du den Fehler, alle Gedanken aufzulisten, die dein Prota hegt.
Hier zum Beispiel:

Mein Gehirn schaltet einen Gang hoch, aber es kann noch immer nicht verarbeiten, was ich gerade gelesen habe.

Dies könntest du anders vermitteln, indem du seine "Verwirrung" bzw. aufkommende "Angst" in den Dialog mit dem Oberst einbaust. Der Leser merkt, dass sich im Sprechverhalten deiner Figur etwas verändert hat und zieht daraus seine Schlüsse. Wenn du jeden Gedanken auf dem Silberteller servierst, hat der Leser es nicht mehr nötig, sich in die Situation hineinzuversetzen und schaltet somit ab.
Ich glaube auf diese Art und Weise könntest du einiges mehr aus deinem Text holen.

Ich hoffe ich konnte dir etwas helfen.

Gruß vom

Dave

 
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Hi Salomon,
danke für das konstruktive Feedback. Es freut mich, dass es dir gefallen hat :D was die Rechtschreibung angeht, muss ich wirklich zugeben, dass ich mich nicht sehr mit Ruhm bekleckert habe. Das ändere ich natürlich so schnell wie möglich.
Als Landschaft habe ich mir einen verschneiten Acker vorgstellt. Habe ich wohl nicht ausdrücklich genug beschrieben, aber kann man ja nachholen.
Viele Grüße
Meuvind


Hi Dave A,
auch dir vielen Dank für den Kommentar. Wie bereits erwähnt sind in dem Text viele, teils ziemlich willkürlich erscheinende Fehler. Das liegt zur Hälfte daran, dass ich den gesamten Text mehrmals neu geschrieben habe, teils daran, dass ich einfach einen Tunnenblick habe :D .
Bei dem Ankläger-Täter-Ding ist es der erste Fall, hab ich wohl nicht verständlich genug beschrieben.
Das mit dem Gott ist mir ein bisschen peinlich, weil ich immer gedacht habe, dass die Nazis extra versucht haben, die jüdische Religion zu diffamieren. Kommt also auch auf die Liste.
Bezüglich der historischen Kleinigkeiten werde ich alles an Rückmeldungen sammeln und mir dann überlegen, was wie am meisten Sinn ergeben würde. Vielleicht hat der Sturm ja einfach den Mast geräumt und der Oberst hat Spaß daran, seinen Kämmerer im Sturm frieren zu lassen.

Viele Grüße
Meuvind

 
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Hallo Meuvind,
herzlich willkommen!

Dein Titel hat mich neugierig gemacht – er klingt nach SciFi, steht aber unter Historik, und ich hab schon Alternative History erwartet.
Was mit gut gefällt ist dein flüssiger Stil, stellenweise Flapsigkeit, die gut zu der Zeit passt (ob zur Front ist eine andere Frage, dazu später) und keine Berührungsängste mit deinem Thema = keine künstlich verschwurbelten Satzkonstruktionen, die mit aller Gewalt Tiefe und Wichtigkeit vermitteln sollen. Die Geschichte liest sich gut runter, und es hat mir Spaß gemacht, nebenbei gleich ein bissl Fakten zu checken. Man liest dem Text auf jeden Fall an, dass du Spaß am Erzählen hast, und dass du den Plot im Griff hast. Schön auch, dass die Geschichte stringent erzählt wird, ohne dass du dich auf Nebenschauplätzen verrennst.

Kritik habe ich auch, und die betrifft:
- Autorenmeinung / Historienanalyse aus heutiger Sicht im historischen Text
- Generelle „Flüchtigkeit“ oder Oberflächlichkeit von Gefühlen und Erlebnissen

Ich finde es ein bisschen zu ‚praktisch‘ für dich als Autor, dass dein Prot ohne Not bereits systemkritisch ist, fast ein Widerständler, der seine Haltung zu dieser frühen Kriegsphase erstaunlich weitsichtig – und eben mir zu sehr aus der Sicht heutiger Geschichtsbücher – durchanalysiert und sich da verortet hat. (Frühe Kriegsphase, weil die auf Moskau marschieren, als habe es dort noch keine Rückschläge gegeben, also kann das nur November ´41 sein). Hierbei klingen mir einige Statements einfach zu sehr so, wie sich das ein kritischer Autor von heute denkt, quasi liest man hier Null Beeinflussung durch Propaganda und das ganze damalige Weltbild heraus (zum Vergleich kannst du bei Interesse ja hier mal stöbern: http://www.museumsstiftung.de/brief...detail&what=letter&id=1146&le_keyword=Hygiene)

Ich meine Stellen wie:

Noch vor wenigen Wochen saßen Thomas und ich auf der Ladefläche eines Trucks, tranken Wein und fühlten uns wie die Sieger, die wir waren; jetzt sitzen wir mit fünfzig Anderen in einem Loch aus Schnee,
(zu der Zeit wären das eher Lastwagen oder Laster, meine ich – falls du eine Quelle für den Truck hattest, lasse ich mich gern eines Besseren belehren.)
Neuschnee uns eingräbt, dann nimmt Thomas manchmal das Bild aus seiner Jacke und starrt es an, wie ein Ankläger einen Täter anstarrt. Thomas ist kein Mensch, der leicht über seine Gedanken und Gefühle spricht, aber ich bin mir sicher, dass er ohne das Bild längst den Glauben verloren hätte.
-> wie passt der Glauben an Hitler zu der Kläger/Täter-Bemerkung?
Dass er, obwohl er doch die Spitze der menschlichen Rasse repräsentiert, nicht in der Lage ist, den gewöhnlichen Elementen der Natur zu trotzen.
Sehr 21. Jahrhundert
Mich persönlich hat der ganze Nationalsozialismus nie interessiert. Ich meine klar, auch ich habe die Fahne geschwungen und Steine auf jüdische Läden geworfen, so wie jeder in meinem Alter. Eine Zeit lang bin ich sogar richtig stolz darauf gewesen, Deutscher zu sein, (...) ist mir ein Satz doch im Kopf geblieben: Patriotismus ist die Überzeugung, dass unser Land das Beste ist, weil wir darin geboren wurden. War das mit dem Nationalsozialismus nicht irgendwie genauso?
Das nehme ich deinem Prot so einfach nicht ab, sorry.
Würde es jetzt einen Unterschied zwischen uns machen, dass meine Großmutter jüdische Wurzeln hat? Oder wäre es ihm egal, weil ich noch immer derselbe Mensch bin wie früher? Bin ich überhaupt noch wie früher?
Für die Situation ist das bereits extrem reflektiert, er ist in ein paar Minuten ja schon bei Identität, Selbstbild und Fremdbild angekommen. Da sind noch mehr Stellen im Text, von denen ich den Eindruck habe, der Autor wollte einen Prot, der weder aktiver Widerständler noch Überzeugter ist, damit er ein Sympathieträger bleibt.
selbstgebauten Bunker
-> getrennt, und dann meinst du Unterstand (ein Bunker ist ein Bauwerk aus Stahl und Beton, das schaffen die nicht mal so nebenbei
Die Russen ->
ist nicht unmöglich, aber „der Russe“ war Jargon (auch bei Nichtnazis). Und wenn du offizielle Feldpost zitierst, wirst du um ein Heil Hitler nicht rumkommen, ‚mit freundlichen Grüßen‘ stand da sicher nicht.

Mit Oberflächlichkeit oder Flüchtigkeit bei Emotionen / Erlebtem meine ich z.B

Walter Hoch
Mein Gehirn schaltet einen Gang hoch, aber es kann noch immer nicht verarbeiten, was ich gerade gelesen habe. Alle meine Gedanken kreisen um meine Familie und darum, wie es ihnen wohl gerade geht. Ein einziges Stück Papier, nicht größer als meine Hand, und trotzdem hat es mehr Auswirkung auf mein Leben als alles

Das hier und die anderen Beispiele sind einfach zu schwach und banal für die enorme Entwicklung (Front, Wintereinbruch, Herkunft, Todesurteil, Flucht). Sind so lässig drüberrutscht als stünde der Prot nicht mit einer feindlichen Armee vor Moskau, sondern würde mal auf ein Bier in die Kneipe gehen. Selbst wenn ich einkalkuliere, dass Leute Gefahr verdrängen, steht hier der Tonfall und das erzählt Erlebte einfach in zu krassem Widerspruch, als dass er a) der Tragik und Tragweite des Settings gerecht wird und b) mich in irgendeiner Weise emotional engagiert.

Dabei meine ich z.B.

Seufzend stehe ich auf,
Der Wind schreit meinen Namen. Ich glaube, ich halluziniere.
Aber während ich hier so in einem russischen Hinterwald stehe und dabei zusehe
(Hinterwald übrigens ist kein Wort, es gibt nur eine Landschaft im Taunus, die so heißt, und es gibt die Hinterwäldler im Volksmund – wie wäre, es mit einer Baumart stattdessen? Birke oder Fichte oder was es da um Moskau gibt?)
Nicht das das wichtig ist.
-> außerdem: Nicht, dass das wichtig ist.
Seufzend stehe ich auf, schüttle mir den Schnee von den Klamotten
Einmal, um meine Augen wieder an das Lesen zu gewöhnen, zweimal, um den Inhalt zu begreifen, und ein Drittes Mal, weil ich es nicht glauben will. Als ich nach und nach erst verstehe, was dieses Stück Papier bedeutet, bin ich viel zu erstarrt, um irgendetwas zu antworten.
in der Hoffnung, mich einfach nur verlesen zu haben.
Wie ein Hammer trifft mich die Erkenntnis.
Ich bin sogar irgendwie entsetzt.
Eins, zwei, drei, so rhythmisch perfekt wie der Schlag eines Metronoms. (…) Das muss es wohl sein, was der Oberst mit Verrat gemeint hat. Ich bin wirklich nicht mehr wie früher.
macht das Fahren auch nicht ungefährlicher.
Ich verdrücke mir eine Träne und beschleunige
Ich atme nervös aus
-> besser zeigen, nicht behaupten (show, don’t tell)

Und der gesamte letzte Absatz.

Was mir hier fehlt, ist irgendein Innehalten, das nicht einfach so dahinerzählt ist, und – obwohl du durchweg durchaus szenisch schreibst – ein Mehr an show don’t tell (gerade, da es ein Ich-Erzähler ist, der z.B. einen Schock erst selbst erleben muss, bevor er das so reflektiert säuberlich wiedergibt. Also, es fehlen „akute“ Emotionen, wo du momentan Behauptungen hast (= „ich fühlte xy, mir geht es xy“ etc). Und dann, gleiches Thema, fehlt es mir enorm an Sinneseindrücken. Nicht nur beschreiben, es ist kalt, die Pisse friert ein, man kann nicht draußen sein, sondern: wie fühlt sich das an, was macht das mit einem? Gleiches für das Erlebte: wie fühlt sich Schock an, wie ist die Wahrnehmung? Nicht behaupten, dass alle dreckig sind, sondern mal Sinne mit reinnehmen, Geruch, Geschmack …

Kleinkram:
ein kleiner Sieg gegen das Mühlrad. -> nicht eher Windmühlen?

meine Zähne klappern wie ein Pferd. -> die Hufe eines Pferdes

Bei dem Gestüt dachte ich schon, du hättest dich nach Ostpreußen vergalloppiert, aber Wiki sagte mir was von den Orlow-Trabern nahe Moskau (ich weiß nur nicht, ob an der passenden Seite) :D

Am Fachwerkhaus -> Bei Moskau? (Ich kann mich irren, aber die würde ich weiter westlich ansiedeln, Kaliningrad und so, aber ich mag falsch liegen). Die ganze Geschichte hat für mich eh ein starkes Ostpreußenfeeling.

aus der er ein paar Schlücke -> Mein RS-Programm markiert das nicht, ich bin aber sicher, dass der Plural nur Schlucke heißen kann.

Ausschreitung gegen das deutsche Gesetz -> Das ist das falsche Wort, Ausschreitung geht z.B. gegen einen Beamten oder generell irgendwelche Straßenkämpfe. Gesetzesübertretung oder -verstoß gibt es, und in einem solchen Brief wäre das sicher genau, evt. mit Paragraphen, bezeichnet worden.

„Sie sind ein Jude, Herr Knabe“, erklärt mir der Oberst. -> Da er noch nicht offiziell entlassen wurde, würde er hier noch mit dem Dienstgrad angeredet werden; und das würde der Oberst eventuell aus Gewohnheit danach weiterhin tun.

Der Prot redet von Nachrichtenübertragung nur per Auto: Was ist denn mit Funk?

Und verdammt, ich will leben. -> Phrase

Soweit ich weiß, sind Deserteure und Verräter gehenkt worden - dafür muss man auch keine Kugel verschwenden. Ich hab es allerdings so gelesen, dass der Oberst sich davor drücken will, seinen bis dahin unbescholtenen Soldaten zu erschießen. Ob das realistisch ist, sei dahingestellt. (Ich denke, nicht.)

Nach dem Genöle mag ich aber auch ein paar Stellen raussuchen, die mir sehr gut gefallen haben, wo du für mich die Balance Erlebtes / Erzähltes super gewichtest und gut verpackst (auch im Sinne der Zeit da):

„Welcher Tag ist heute?“, fragt Thomas, während er wieder mit der Hand an seiner Brusttasche spielt. Für die Anderen ist es nur eine nervöse Geste, aber ich weiß es besser:
Alle schütteln den Kopf. Keiner kennt den Wochentag.
Jemand schüttelt meine Schulter und ich bemerkte erst jetzt, dass ich überhaupt geschlafen habe. „Hans, wach auf.“
Der Sturm frisst jedes Geräusch.
Gleichzeitig beschämt und neugierig habe ich es in meinem Zimmer versteckt und nachts unter der Bettdecke gelesen.
Ich atme langsam und tief aus; dann ziehe ich meine Pistole aus dem Halfter und schieße dem Oberst durch den Rücksitz in den Kopf.
Plötzlich frage ich mich, was Thomas zu all dem sagen sagen würde. Wir kennen uns, seit wir Kinder sind, haben zusammen Familienfeste gefeiert und uns die geheimsten Sachen erzählt, die man einem anderen Menschen überhaupt anvertrauen kann.
Zu gern würde ich Thomas Lebewohl sagen, ihn noch einmal umarmen und versuchen, ihm alles zu erklären, was heute passiert ist.

Bin gespannt auf mehr (Geschichten und Kommentare) von dir!

Viele Grüße, Katla

p.s. Ich hab den Komm in word offline geschrieben, bevor andere geantwortet hatten, daher mag hier was doppelt sein. ;-)

 

Hi Meuvind,

Das mit dem Gott ist mir ein bisschen peinlich, weil ich immer gedacht habe, dass die Nazis extra versucht haben, die jüdische Religion zu diffamieren.

Primär diente die jüdische Religion den Nationalsozialisten zur Abgrenzung einer ethnischen Gruppe in derselben Bevölkerung, um die Diskriminierung und später die Vernichtung seiner Anhänger durchführen zu können. Die Judenverfolgung im 20. Jahrhundert fußte jedoch hauptsächlich auf wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergründen, nicht auf religiösen, wie z.B. im Mittelalter.

Vielleicht hat der Sturm ja einfach den Mast geräumt und der Oberst hat Spaß daran, seinen Kämmerer im Sturm frieren zu lassen.

Naja, damit wirst du es nicht besser machen. Für einen Mann hätte sich der Oberst bei diesem Wetter erst gar nicht auf den Weg zur Frontlinie gemacht. Würde der Funkkontakt abgebrochen, wäre die ohnehin ziemlich aussichtslose Suchaktion im Schneesturm komplett unmöglich gewesen. Du erwähntest Moskau als Ziel, wonach es sich nur um eine Division der Heeresgruppe Mitte handeln kann. Die Frontlinie der Heeresgruppe Mitte zog sich über tausende Kilometer. Dort einen einzelnen Soldaten ohne Funk ausfindig zu machen ist beinahe unmöglich. Aber dies bleibt deine Entscheidung. Löse es, wie du es für richtig hälst :)

Gruß

Dave

 

Tach Meuvind, und auch von mir nochmal herzlich willkommen.

Na ja...
Salomon, Dave und Katla haben zum meckern ja kaum noch was übriggelassen, :lol:
aber einen kleinen Fliegenschiss hab ich doch noch gefunden.

Johann, verlassen sie den Wagen
Sein Sohn Hans Knabe dient zur Zeit ihrem Kommando
Sie kennen ihre Befehle
Das können sie nicht machen, ich habe mein Leben lang...
Verrat liegt in ihrem Blut, ob sie wollen oder nicht
Das Knabe, das ist ihr Weg

An genannten Stellen hast du vergessen, die höfliche Anrede großzuschreiben.

Sonst kann ich leider nichts Neues beitragen, was meinen winzigen Kommentar hier unter all den Riesendingern oben leider total erbärmlich und mickrig aussehen lässt.:sad:

Also dann verabschiede ich mich mal mit vielen Grüßen, jedoch nicht, ohne dir ebenfalls nochmal zu raten, dich auch unter anderen Geschichten einzubringen, da haben wir alle mehr von.

Anna

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Meuvind und Dave A,

ich hab zwar nur ne Funkerlizenz See, aber sag trotzdem mal: Funkstationen waren mit die wichtigsten und am besten geschützten Einheiten, da fällt nicht alles aus, nur weil eine Antenne im Sturm steht. Streich doch den Satz einfach, zumindest ich hätte gar nicht an den Funk gedacht, hätte dein Prot nicht das mit der Nachichtenübermittlung erwähnt. ;)
Das waren ja auch keine Masten, selbst wenn einige Antennen sowas um die 1,70m hoch waren, gab es auch das: http://www.alamy.de/stockfoto-veran...p=1&cbstore=1&vd=0&lb=&fi=2&edrf=&ispremium=1

Aber vor allem: Selbst wenn man den Mord mal großzügig übersieht, ist der Prot eh tot: auf unerlaubte Entfernung von der Truppe und Entwendung von Material steht jeweils allein schon die Todesstrafe. Ob er zu diesem Zeitpunkt jüdischer oder ‚arischer‘ Abstammung ist, sollte grad seine geringste Sorge sein.

Auch wenn du schreibst, seine 50 Mann sind an der Stelle vom Rest isoliert, stehen trotzdem Hunderttausende vor Moskau, und selbst wenn er irgendwie an seinen eigenen Leuten vorbeikäme (suspension of disbelief und so), stünde er bald mit leerem Tank mitten in Russland und muss ja irgendwo hin. Egal wo er Deutschen begegnet, ist klar, dass er Deserteur ist. Und zur anderen Seite geht’s auch nicht: eine belagerte Stadt ist ein denkbar ungünstiger Ort zum Überlaufen, und dann fehlten den Sowjets nicht Soldaten, sondern Waffen und Munition. Es gab ja Kommunisten in der Wehrmacht, die tatsächlich aus echter Überzeugung zur Roten Armee überliefen, und soweit ich weiß, sind alle dort verhört und dann erschossen worden, weil das einfach zu riskant war, sich Spione aufzuhalsen. Und selbst wenn es dein Prot in die Heimat schaffte, ist dort auch offensichtlich, dass er desertiert ist – er hat also überall das gleiche Problem, und mAn kann es da kein Happy End geben, nur, dass er in der Geschichte – und das ist ja völlig legitim – quasi im Off stirbt.

Die Diskussion um den Glauben finde ich spannend, und ich würde deinen Eindruck, dass der Verfolgung religiöse Ursachen zugrunde lagen, unterstützen. Durch Himmlers Tick mit dem germanischen Heidentum (bzw. das, was er dafür hielt und das, was die Christen quellentechnisch draus gemacht hatten) wird oft übersehen, dass der deutsche Faschismus eine extrem christlich geprägte Bewegung war. Das Konzept vom „jüdischen Parasiten“ stammt vom Philosophen und Theologen Johann Gottfried Herder; Hitler hat selbst z.B. gesagt: „Wir dulden niemand in unseren Reihen, der die Ideen des Christentums angreift. Unsere Bewegung ist christlich.“ (27. Oktober 1928) und hier gibt es eine echt spannende Seite voller Zitate mit Quellenangaben die man schwerlich wegdiskutiern oder misinterpretieren kann: http://christian-dicker.de/Kirche und Nationalsozialismus.htm

Die Rat Lines für flüchtende Kriegsverbrecher haben sehr gut funktioniert, und die Faschisten wurden von der katholischen Kirche auch weiterhin in Südamerika geschützt und finanziert – nicht von ungefähr.

Der Antisemitismus und nicht das absonderliche völkische Denken ließ die deutschen Faschisten auch enge Kooperation mit Diktatoren im Mittleren Osten aufbauen, deren Armeen und Staatsstrukturen von Nazis mit aufgebaut wurden. Zitat Hitler: "The peoples of Islam will always be closer to us than, for example, France" (in: Hitler's Apocalypse: Jews and the Nazi Legacy, Robert S. Wistrich, Weidenfeld & Nicolson, 17 Oct 1985, p. 59) und „ … because we were jointly fighting the Jews. This led him to discuss Palestine and the conditions there, and he then stated that he himself would not rest until the last Jew had left Germany. Kalid al Hud observed that the Prophet Mohammed … had acted the same way. He had driven the Jews out of Arabia …“ (in: The Arabs and the Holocaust: The Arab-Israeli War of Narratives, by Gilbert Achcar, (NY: Henry Holt and Co.; 2009), pp. 125—126).

Spätestens hier wird deutlich, dass die Religion und nicht die „Rasse“ die geistige Grundlage für die Verfolgungen (EDIT: hier speziell der Juden) bildete. Anders als andere mörderische Ideen des Christentums hat leider der Antisemitismus die Aufklärung gut überstanden.

Also, ich finde deine Geschichte anregend und es macht wirklich Spaß, sich mit deinem Text zu beschäftigen. Ich hoffe wirklich sehr, du verstehst die Anmerkungen und Kritiken als positiven Ansporn, mehr in die Tiefe zu gehen und dir zuzutrauen, die emotionale Extremsituation deines Prots mehr auszuloten. Das Zeug dazu hast du auf jeden Fall.

Herzlichst, Katla

 
Zuletzt bearbeitet:

„Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen
gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und
eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist.“
K. Deutsch​

Wir marschieren so oder so auf Moskau zu, egal ob Winter oder nicht. Paris ist in deutscher Hand, genauso wie Wien und Warschau, und weil die restlichen Alliierten sich noch immer nicht sicher sind, was sie überhaupt wollen, ist es im Westen still geworden, so still, dass man uns alle in den Osten geschickt hat. Noch vor wenigen Wochen saßen Thomas und ich auf der Ladefläche eines Trucks, tranken Wein und fühlten uns wie die Sieger, die wir waren; jetzt sitzen wir mit fünfzig Anderen in einem Loch aus Schnee, das uns Schutz vor dem harten Wetter gibt, und müssen unsere eigene Scheiße verbrennen, um nicht zu erfrieren.
„Jemand ne Uhrzeit?“, fragt einer der [f]ünfzig, aber alle schütteln mit dem Kopf.

Die historische Erzählung gestaltet künstlerisch historische Ereignisse in Prosaform,

Meuvind -

und damit erst einmal herzlich willkommen hierorts!

Das Wort „Geschichte“ (ahd. gisciht) ist vom Verb „geschehen“ (ahd. giskehan) abgeleitet und meint zunächst „Begebenheit / Ereignis /Geschehnis“, um bereits im mhd. die Folge(n) des Ereignisses einzubeziehen und so im 15. Jh. in seiner Bedeutung auch die Erzählung / den Bericht über dieses Geschehen zu benennen und "historia" wird. Erst mit Herder wird Geschichte zur Wissenschaft und erst mit dem Durchbruch des Geschichtsbewusstseins der Romantik(er) entsteht der Geschichtsroman- im deutschsprachigen Raum verknüpft mit den Namen Arnims, Hauff (Lichtenstein und Jud Süß!) und Novalis mit einem Höhepunkt in C. F. Meyer, der auch ein Problem auf schlichte Art gelöst hat, indem sein Personal die Sprache der Jetztzeit spricht, was aber genug Fußfallen birgt in Dingen, die es „früher“ nicht gab -

und eine Fußfalle schnappt im Eingangszitat zu, nicht so sehr wegen der schon kritisierten Äußerung über die Alliierten - aber das Wort "Truck" für Lastwagen wird erst mit dem anglo-amerikanischen Siegermächten in die deutsche Sprache einfließen. Nicht, dass es das Wort nicht gegeben hätte im Deutschen, aber es bezeichnete dann eher eine Erscheinung im Manchesterkapitalismus. To truck = tauschen, statt des Lohns erhielten - bis zum Verbot des Trucksystems - Arbeiter Waren aus eigener Produktion (das Kohledeputat im Ruhrgebiet zB ist davon ein aussterbendes Relikt, von dem ich bis in die 90-er Jahre hinein profitierte, wenn der Nachbar sein Deputat an mich - drei Kohleöfen!, die neben dem Erdgeschoss noch zwo weitere Etagen warm halten mussten - verkaufte, der Arbeiter als unfreiwiliiger Händler!) was nicht bedeutet, dass der Manchesterkapitalismus aussterbe, vielmehr feuert er seit Reagonomics und der Eiserenen Lady fleißig Urständ, wobei man nie vergessen darf, dass ein Vater des Neoliberalismus dem NS-Regime nahe stand, Fritz Hayek, wie überhaupt Faschismus und Kapitalismus zu einandr passen. Man schaue sich das Wirtschaftsprogramm der FDP und der AfD an.)

Und die Haltung

„Das können ie nicht machen, ich habe mein Leben lang für Deutschland gekämpft!
ist die alter Soldaten, die im Weltkrieg I gedient und gekämpft hatten und sich daraus eine besondere Behandlung im 3. Reich erhofften ... Da bekommt der alttestamentarische "Sündenbock" eine besondere Note.

Gleichwohl, sowenig mir die damaligen Geschehnisse - was heutige nicht ausschließt - nicht gefallen, gefällt mir Dein Thema, gilt doch für alles "historische" Erzählen - selbst für die Autobiografie, dass es eine Annäherung bleibt, ein Bild, dass sich der Autor von der/den Person/en, dem/den Ereignis/sen macht.

(Man, ist das wieder ne Einleitung!), aber darüber solltestu nicht vergessen, in der zitierten Passage

... einer der [f]ünfzig, ...
das Zahlwort zu korrigieren, ist es doch Attribut der "Anderen" aus der Passage
... jetzt sitzen wir mit fünfzig Anderen in einem Loch ...
zuvor.

Ähnlich ganz zum Schluss,
hier

... zu gerne würde ich jetzt einen Stift ziehen und mit dicker Tinte hineinschreiben, dass es zwei Arten von Kälte gibt. Die [e]ine, die auf der Haut sitzt und den Körper kühlt. Und die [a]ndere, tief unter der Haut, die die Seele in einen Eiszapfen verwandelt.
die eine und die ander Art eben!

Trivialitäten

In unserer letzten Nacht in Berlin hat uns Thomas erzählt, dass es nichts Kälteres gäbe als einen russischen Winter.
"Unsere letzte Nacht" hat so was Endgültiges durch das Possessivpronomen, dass da m. E. der Artikel genügen sollte, wird doch das Wir-Gefühl durch das "uns" als Zuhörer Thomas' schon gestärkt.

Unendlicher Schnee, tosender Wind und lange Nächte würden selbst die größte Armee zermürben wie Mühlsteine, ...
wird mit den "Mühlsteinen" das falsche Bild gepflegt, das schon im letzten Kapitel der Busch'chen Max und Moritz angezeigt wird. Und die lassen sich nicht zermürben. Lass sie weg, denn das Zermürbende liefern ja schon Kälte und Dunkelheit.

Der Wind schreit meinen Namen.
Nicht erst seit Jimmy Hendrix' The Wind cries Mary ein schönes Bild!

Irgendwann werde ich wach. Jemand schüttelt meine Schulter und ich bemerkte erst jetzt, dass ich überhaupt geschlafen habe.
Nee, jemand "schüttelt mich" und zwar "an der Schulter"

„Hans, wach auf.“
Klingt doch nACH mehr als bloßer Aussage!, wie auch gleich hierorts
„Der Herr Oberst will Sie sehen.“
„Vorlesen.“, befiehlt der Oberst.
"... !, ..."

... bei einem Hinterhalt verloren, als eine Granate neben ihm gelandet ist.
Wie'ne Schwalbe? Ist die Granate nicht "eingeschlagen"?

Es ist so kalt, meine Zähne klappern wie ein Pferd.
Die Mühle klappert am rauscenden Bach und Hufe klappern auf festem Boden, und Zähne klappern halt wie Zähne, da braucht es keines Bildes

Der Sturm frisst jedes Geräusch.
Kann nicht sein, dann wäre es still. Er frisst/übertönt jedes andere Geräusch.

Auf dem Beifahrersitz sitzt, von der Kälte völlig überrumpelt, der Kämmerer, und reibt sich seine eine Hand an seinem dicken Mantel. Was für ein Waschlappen.
Statt "überrumpelt" (was etwas Überraschende an sich ist), vielleicht ist er überwältigt. "Seine eine Hand" ist ziemlich ... naja. Weg mit dem Possessivpronomen - wessen Hand sollte es sonst sein? Und der letztzitierte Satz klingt eher wie - vorhin auch - nach Ausruf.

Flüchtigkeit

... auch unseren letz[t]en Fahrer verloren ...

Der Krieg zwingt uns alle zu grausamen Sachen: Uns zum Frieren und den Oberst zum Fahren.
Na, wenn es da nicht grausameres gibt ...

Ich glaube eher, dass ein amtlicher Brief - wie hier unten - in korrektem Deutsch verfasst wurde

„Sehr geehrter Herr Oberst[!],
am 23[.] November dieses Jahres ist der Bürger Adolf Knabe aufgrund einer Ausschreitung gegen das deutsche Gesetz verhaftet worden. Bei den nachfolgenden Untersuchungen und Vernehmungen stellte sich heraus, dass seine Mutter jüdischer Abstammung ist. Adolf Knabe und der Rest seiner Familie wird nun wegen Verrat am deutschen Vaterland[e] angeklagt; sein Sohn Hans Knabe dient zur Zeit unter hrem Kommando an der Ostfront. Sie kennen hre Befehle.

Mit freundlichen Grüßen

Walter Hoch“

„Verzeihung, Herr Oberst, ich glaube, ich verstehe nicht[...]“, frage ich, in der Hoffnung, mich einfach nur verlesen zu haben.

Wie dem auch sei, ich bin gespannt auf Deine nächste "Historia"!

Friedel

Nachtrag

„Sie sind [...] Jude, Knabe“, erklärt mir der Oberst.

Diese Passage

... und wickle ihn in eine Decke ein, sodass es aussieht, als wenn er schläft.
erzwingt durch den hypothetischen Vergleich den Konjunktiv: "als schliefe er" oder "als wenn er schliefe".

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Katla,

Funkstationen waren mit die wichtigsten und am besten geschützten Einheiten, da fällt nicht alles aus, nur weil eine Antenne im Sturm steht.

Im Grunde hast du Recht, trotzdem kam es immer wieder vor, dass der Funkkontakt zur Frontlinie abbrach, die Gründe dafür waren vielseitig, vor allem bei Temperaturen von -35 Grad und Isolation der Einheit vom Nachschub.

Spätestens hier wird deutlich, dass die Religion und nicht die „Rasse“ die geistige Grundlage für die Verfolgungen bildete.

Dem kann ich nicht zustimmen. Der deutsche Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert basierte auf einer "Rassenideologie". Alles war darauf aufgebaut die "arische" Rasse in ihrer genetischen Grundlage zu erhalten und neuen "Lebensraum" für sie zu schaffen. Die Kirche war für Hitler nur ein Mittel zum Zweck. Natürlich äußerte er sich positiv über Vatikan und Christentum, aber das hatte politische Hintergründe. Denn ein Großteil der Bevölkerung im Reich war katholisch, ergo versuchten die Nationalsozialisten den Papst als Verbündeten zu gewinnen, damit der Glaube ihnen innenpolitisch nicht im Wege stand. Nicht umsonst war der Vatikanstaat der erste Staat, der das Regime Hitlers offiziell anerkannte. Ein großer außenpolitischer Erfolg für die Nationalsozialisten. Das die Kirche der Regierung im Reichstag dann eher ein Dorn im Auge war, stellte sich spätestens bei der Durchführung des Euthanasieprogramms heraus. Viele Geistliche übten Kritik am Morden der Regierung, weshalb tausende von ihnen in Konzentrationslager interniert wurden. Die Kirche hielt sich über die Kriegsjahre bedeckt, aus Respekt vor einem unberechenbaren Regime.
Der Nationalsozialismus war die neue Religion im Reich und das ganze Alltagsleben der Bürger hatte sich darauf auszurichten.

Der Vernichtungskrieg ab 1941 richtete sich obendrein nicht gegen die russisch-orthodoxe Kirche, sondern gegen den Bolschewismus als verfeindete Ideologie, die eine "minderwertige" Rasse, wie z.B. Slaven, vertrat. Die Kirche hatte in diesem Vorhaben keinen Platz.

:teach: Mensch, was ein perfektes Thema für Diskussionen :D


Gruß


Dave

 

Hallo Dave A,

nix schlimmes, aber das Kunststück fertig zu bringen, Religion mit Ethnie in eins zu setzen, hat schon was.

"Es gibt Wahrheiten, die so sehr auf der Straße liegen, daß sie gerade deshalb von der gewöhnlichen Welt nicht gesehen oder wenigstens nicht erkannt werden. Sie geht an solchen Binsenwahrheiten manchmal wie blind vorbei und ist auf das höchste erstaunt, wenn plötzlich jemand entdeckt, was doch alle wissen müßten. Es liegen die Eier des Kolumbus zu Hunderttausenden herum, nur die Kolumbusse sind eben seltener zu treffen", beginnt das elfte Kapitel "Volk und Rasse" des Anstreichers Kampf http://www.harrold.orgrfhextradownloadAdolf Hitler - Mein Kampf - German.pdf

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

:teach: Mensch, was ein perfektes Thema für Diskussionen :D

Ja, stimme ich voll zu. Aber bitte weitere Diskussion, die sich nicht direkt auf den Text bezieht bzw. keine Textarbeit ist, bitte an anderer Stelle fortführen, z.B. im "Kaffeekranz"-Bereich unter "Service".

Weiteres Off-Topic wird hier gelöscht.

Danke und Gruß,
GoMusic

EDIT:
Hallo Meuvind,

beim Überfliegen ist mir eine Sache aufgefallen:

Ich atme langsam und tief aus; dann ziehe ich meine Pistole aus dem Halfter und schieße dem Oberst durch den Rücksitz in den Kopf.
Ich würde hier eher den gebräuchlicheren Begriff "Holster" (für Pistolentasche) anstatt "Halfter" nehmen, dessen Bedeutung allgemein für das Zaumzeug/die Zügel eines Pferdes steht. ;)

Viele Grüße,
GoMusic

 

So, erstmal einen guten Abend!
Tut mir leid, dass ich erst spät schreibe, aber Abitur und Nebenjob halten einen gut am Laufen :D . Ich finde es ehrlich gesagt ziemlich lustig, wie lebhaft die Diskussion war, die ich ausversehen getriggert habe.
Dave A Friedrichard Katla annami

Vielen Dank für eure Zeit und eure wirklich konstruktive Kritik. Leider bin ich momentan zu beschäftigt zum Schreiben, habe aber bereits eine Idee, wie ich die Logikbrüche in der Geschichte wieder geradebiegen kann. Im Laufe der nächsten Zeit werde ich den Text sowohl inhaltlich aus auch sprachlich nocheinmal überarbeiten und ihm hoffentlich den Feinschliff verpassen, auf den ihr bereits hingewiesen habt.
Ich muss ehrlich sagen, dass Historik eigentlich nicht mein Setting ist, fand aber den Zweiten Weltkrieg und die Judenverfolgung in diesem Fall als so passend, dass ich es einfach genutzt habe. Auch bei meinem Prot. war ich mir anfangs sehr unsicher: Ich will auf keinen Fall einen Wiederstandskämpfer haben, weil das als Motiv einfach zu ausgelutscht ist. Ein überzeugter Nazi hingegen wäre zwar interessant, aber für meinen ersten Text vielleicht einfach der falsche "Held" :D .
Gerne werde ich mich auch weiter in die Community einbringen. Ich freue mich sehr darauf, auch eure Texte zu lesen und meine Meinung einbringen zu können. Wie ich aber schon erwähnt habe hängt momentan alles sehr stark davon ab, wie viel freie Zeit ich gerade zu Verfügung habe.

Euch noch einen schönen Abend
Meuvind

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin Meuvind.
Auch von mir ein herzliches Willkommen hier bei den Wortkriegern.
Im großen und Ganzen bin ich nicht unzufrieden mit Deiner Geschichte und habe den detaillierten Anmerkungen der Kollegen nicht mehr viel hinzuzufügen, außer;
Fachwerkhäuser gab es nicht vor Moskau. Die Häuser waren, zumindest die der Landbevölkerung ausnahmslos aus Holz gebaut, lediglich Guts- und Stadthäuser hatten Steinmauern.

Ich entdeckte einen nicht unwichtigen (Faktenfehler) / Logikfehler: Handfeuerwaffen hatten zumeist nur Offiziere, es sei denn, der betreffende Soldat hatte die Genehmigung dafür, was ebenfalls nicht der Regel entsprach. Aus diesem Grunde schlage ich vor, dass Dein Prot. dem Oberst das Genick bricht, oder ihn von hinten erdrosselt, das würde es auch leichter machen, ihn schlafend aussehen zu lassen, auch wenn Katla sehr treffend bemerkte, dass die Flucht, zumal in einem Auto und im Winter nicht gerade als aussichtsreich zu bezeichnen ist. das wäre auch für mich die Schwächste Stelle Deiner Geschichte.

Ansonsten ist absolut klar, dass Du die Schreibe schon recht gut beherrschst, und die Mühe, welche Du Dir beim Schreiben gegeben hast klar erkennbar. Ich bin gespannt auf Deine edit-Version, wie auch auf weiteres aus Deiner Feder.

Es grüßt Der LORD

 

Hallo Meuvind,

eins vorneweg: du legst uns mit dem Text ein beachtliches Debüt vor, herzlich willkommen bei uns! Spannungsaufbau, Plotgestaltung gelingen dir aus meiner Sicht besonders gut. Wenn du dran bleibst, weiter schreibst, das Handwerk übst, werden wir wunderbare Glücks- und Tränengeschichten von dir lesen.
Der Kälte-Text (schönes Symbol) enthält ein paar logische Ungereimtheiten, Verbesserungspotential auch im Hinblick auf die sprachlicher Gestaltung, aber daran lässt sich arbeiten.

Textstellen:

Unendlicher Schnee, tosender Wind und lange Nächte würden selbst die größte Armee zermürben wie Mühlsteine, innerlich wie äußerlich, und nichts übriglassen außer feinst-gemahlenes Krähenfutter.
Neun Adjektive/Adverbien, damit überlädst du den Satz, zumal du nichts/wenig an Bedeutung verlierst, wenn du auf sie verzichtest. (Schnee, Wind, Eisesnächte). Außerdem finde ich ‚zermürben‘ zu schwach, ungenau, weil ein Mühlstein gar nichts zermürbt, eher zerquetscht, zerfasert, ja sogar zerstört.

Den Namen kann ich eh keine Gesichtern zuordnen.
eh klingt hässlich nach Umgangssprache.

Nach und nach erkenne ich um mich herum die schwachen Feuer der anderen Löcher und darum tausende kauernde Gestalten, die sich wärmen, aber weder eine Spur von dem Kämmerer noch vom Herrn Oberst selbst.
Hast du mal versucht, tiefgefrorene Erde aufzubrechen, umzugraben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die überhaupt Löcher graben konnten.

Ich sehe wirklich scheiße aus, und geistig vollkommen abwesend greife ich mit der Hand nach meinem Bart und berühre ihn vorsichtig, nur um sicherzugehen, dass mein Spiegelbild keine Illusion ist.
den Sound finde ich zu ‘modern’, gerade so, als ob einer aus dem Suff erwachen würde, weniger nach Schützengraben und II.WK

„Sie sind ein Jude, Knabe“, erklärt mir der Oberst.
Wie ein Hammer trifft mich die Erkenntnis.
schwer nachzuvollziehen, weil es den Arier-Pass längst gab und ich auch nicht ganz verstehe, warum er nicht wusste, dass die Großmutter Jüdin war.

Schlagartig muss ich wieder an das Buch denken, das ich vor dem Feuer gerettet habe; zu gerne würde ich jetzt einen Stift ziehen und mit dicker Tinte hineinschreiben, dass es zwei Arten von Kälte gibt. Die Eine, die auf der Haut sitzt und den Körper kühlt. Und die Andere, tief unter der Haut, die die Seele in einen Eiszapfen verwandelt.
das mit den unterschiedlichen Formen der Kälte finde ich stark, sehr bildhaft, allerdings wünschte ich mir die Metapher zu Beginn des Textes, dann hat es einen anderen Nachhall, wenn du am Ende darauf zurückkommst.

Viele Grüße, ich hoffe du kannst was mit anfangen, besonders jetzt, in diesen sibirischen Kältetagen
Isegrims

 

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