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Diebinnen
Christine. 2019
Miete dir ein Haus in der Toskana, hatte die Freundin in Pittsburgh gesagt. Das wird dir guttun, versuch einfach alles zu vergessen. Im Flugzeug nach Florenz notierte sie auf der Kalenderseite des 4. Oktober: „Ich bin eine geschlagene Armee auf dem Rückzug“ und ließ den Rest der Seite frei.
Sie nahm ein Taxi in das kleine Dorf, das aussah wie alle Dörfer in der Toskana, um einen Hügel herum gebaut, die Kirche ganz oben. Zypressen und Weinstöcke. Die Anmut und die Harmonie des Orts waren kein Trost, sie war müde, erschöpft und traurig, unendlich traurig. Das Haus, das sie gemietet hatte, lag am Hauptplatz, bei der Nachbarin war der Schlüssel hinterlegt.
Beim Eintreten war es so kalt, die Kälte unnachgiebiger Steinmauern, dass sie den Koffer abstellte und eine Strickjacke herausnahm.
Sie suchte unter den Fenstern nach Radiatoren, nein, es gab keine Heizung, es gab auch auch keine Vorhänge und keine Decken auf dem Sofa und keine Teppiche, die das Haus etwas gewärmt hätten. Auf dem Bett im Schlafzimmer sah sie nur ein Leintuch zum Zudecken und einen einzigen Polster. Wie soll ich denn hier schlafen können, alles so kalt, alles in weiß, Plafond, Wände, Boden weiß. Wie ein Laboratorium, dachte sie, wie kann man denn hier wohnen.
In der kleinen Küche wenig Geschirr, ein Holztisch und zwei Sessel, alles so kahl und frostig, sie setzte sich auf einen Stuhl, geschlagen, sie sagte es sich wieder vor, ich bin eine geschlagene Armee auf dem Rückzug, dachte sie, geschlagen und erledigt.
In einer Nische sah sie ein Bücherregal mit Reiseführern und Landkarten, und daneben einen Schrank. Sie öffnete ihn auf der Suche nach einer warmen Decke, aber es war kein Schrank für Bettzeug, es war ein Schrank für Fotoalben, dutzende Fotoalben, am Rücken beschriftet mit Jahreszahlen und Monaten, von - bis, darunter in winziger Schrift Anmerkungen, Namen, fremde Namen, Länder, und auf einmal sah sie ihren Namen, und daneben noch einmal ein Album mit ihrem Namen auf dem Rücken, eine halbe Regalreihe voll Alben mit ihrem Namen.
Ich. 1984
Das erste Mal in meinem Leben bekam ich drei Gänge zum Abendessen serviert, in einem eigenen Esszimmer, Aperitif, Wein zum Essen, als ich bei Christine, einer Kommilitonin aus dem Geschichte-Seminar, eingeladen war.
Ich war an jenem Tag schlecht gelaunt, fühlte mich elend, mein Hals schmerzte und der Stoff für die bevorstehende Prüfung schien mir unüberwindlich. Der Kontrast zu den freudlosen Abendessen mit meiner Mutter, den Einbrennsuppen, den Margarinebroten mit Sardellenpaste, dem ewigen Früchtetee, dem Wachstischtuch und den wackeligen Stühlen war so scharf, entsetzte und bedrückte mich in einem solchen Maß, dass ich zu weinen begann. Zuerst weinte ich ganz leise, aber als Christine und ihre Eltern ganz betreten zu mir sahen und nicht wussten, was sie tun sollten, da weinte ich umso lauter, bis ich am Ende aufsprang, meinen Teller mit dem noch nie gekosteten und auch jetzt nicht gekosteten Tiramisu, einer Unerhörtheit an Dessert, vom Tisch fegte und aus der Wohnung lief.
Als ich Christine das nächste Mal in einer Vorlesung sah, da erwähnten wir diesen Vorfall mit keinem Wort. Sie bat mich um einen Kugelschreiber, ich gab ihr meinen, und sie gab ihn mir nicht zurück. Ich traute mich nicht danach zu fragen, zu groß war die Scham über meinen Anfall im Esszimmer.
Danach habe ich sie gemieden, nie wieder saßen wir nebeneinander, und ich ging auch nicht mehr zu ihr nach Hause zum Lernen, und irgendwann haben wir uns einfach nicht mehr gesehen.
Ich sah sie erst zwei Jahre später wieder, wir standen in der Straßenbahn nebeneinander, ich erschrak, als ihr Gesicht so plötzlich neben meinem war. Hallo, sagte sie freundlich und offensichtlich erfreut, das ist aber ein Zufall! Komisch, dass wir uns seit damals nie mehr gesehen haben! Alle ihre Sätze sagte sie mit einem Ausrufezeichen, sogar die Fragen eher mit einem Ausrufe- als mit einem Fragezeichen.
"Wie geht´s dir denn!", und ich antwortete, "Ja, gut, danke!"
Mir fiel ein, dass sie mir ja noch den Kugelschreiber schuldig war, ich weiß, dass so ein Kugelschreiber nicht viel wert ist, aber trotzdem, ihre freundliche Art und ihre Ausrufezeichen und dann so ein Diebstahl, jawohl Diebstahl. Es wurmte mich, aber ich traute mich natürlich nicht sagen, "He, du musst mir noch meinen Kugelschreiber zurückgeben", das weiß sogar ich, dass das kleinlich ist, aber trotzdem. Ich konnte sie nicht einmal mehr ansehen, so hoch stieg mein Hass, du mit deinem schönen Gewand, die Schuhe, die Tasche … Immer Glück gehabt im Leben, und immer Hochdeutsch ohne Fehler gesprochen, und mit all dem stiehlst du mir, jawohl, stiehlst du mir meinen Kugelschreiber. "Was machst du am Samstag!", schrie sie, um das Rattern und Quietschen der Straßenbahn zu übertönen. "Nichts Besonderes", sagte ich natürlich darauf, es wäre ja lächerlich gewesen ihr vorzumachen, ich hätte etwas Besonderes vor, es war ihr sicher klar, dass ich nichts Besonderes vorhatte, nie. "Komm doch zu mir, ich geb eine Party, du weißt ja noch, wo ich wohne!"
"Ja, gerne", musste ich sagen.
Christine. 2019
Christine nahm eines der Alben aus dem Schrank und schlug es auf. Da war sie mit ihren Eltern am Ossiacher See, genau, da waren sie jedes Jahr auf Urlaub. Mein Gott, das sind meine Fotos, dachte sie, wie kommen die hierher? Ausgerechnet hierher, wo sie ihre Ruhe finden wollte, alles vergessen, neu anfangen. Sie nahm die anderen Alben heraus, auf denen ihr Name stand, ja, ihre Fotos, sie hatte sie eingeklebt, vor vielen Jahren.
Sie dachte an einen Streich, einen bösen Streich, den ihr Ex-Mann ihr gespielt haben könnte, der Amerikaner, das würde ihm ähnlich schauen, so richtig durchtrieben und fies, ihr so richtig wehtun wollen.
Ihr Herz klopfte, klopfte unregelmäßig und hart in den Hals hinein. Das gibt´s doch nicht, das gibt´s doch nicht, dachte sie ein ums andere Mal, das kann doch kein Zufall sein. Wem gehört das Haus? Wer wohnt hier?
Nun nahm sie eins der anderen Alben zur Hand, eines mit einem fremden Namen auf dem Rücken, eine blonde Frau war auf vielen Fotos zu sehen, sie sah ernst aus und misstrauisch, und einige Sekunden lang glaubte Christine, dass sie das sei auf den Fotos, so ähnlich sah ihr die Frau. Aber nein, das ist jemand anderer, wer ist das, um Gottes Willen?
Sie setzte sich, hielt eine Hand ans Herz, ich muss mich beruhigen, ich muss dem auf den Grund gehen, das gibt´s ja nicht, wer ist die blonde Frau?
Sie fand ein schmales Heftchen, in dem einige lose Fotos waren, auf einem stand sie – strahlend – neben einem dünnen dunkelhaarigen Mädchen, auf einem anderen war eine Gruppe zu sehen, junge, lachende, ausgelassene Menschen. Da ist ja der Amerikaner, dachte sie, das war doch das Fest, auf dem wir uns kennengelernt haben, ineinander verliebt haben, mein Gott, da hat das Ganze angefangen, ab da ist alles schiefgelaufen.
Ja, das dunkelhaarige Mädchen, der Name fiel ihr nicht ein, so eine schwierige, verschlossene, die so betrunken war und dann das ganze Bett vollkotzte.
Christine sah das Foto mit dem düsteren Mädchen noch einmal genauer an, und dann die Fotos aus den anderen Alben, nicht ihren Alben, den anderen, fremden, verglich das düstere dunkelhaarige Mädchen mit der düsteren blonden Frau, von der sie kurz geglaubt hatte, dass sie es selber wäre.
Ihr Herz klopfte heftig. Ach, so ist das, flüsterte sie.
Ich, 1984
Da war sie, Prinzessin Morgenschön, Abendschön, freundlich lächelnd, und da sah ich auch schon den Prinzen, Paul, einen Amerikaner mit einem Gesicht so makellos wie aus einer Rasierwasserwerbung. Sie sahen sich an, Prinz und Prinzessin, verteilten zur Begrüßung Gläser mit Getränken, sie lachte, als ihm ein Glas aus der Hand fiel, Scherben bringen Glück!, riefen alle.
Auf dem Fest betrank ich mich, ich fühlte mich so fehl am Platz, so klein und unbedeutend, ich war so neidzerfressen und böse, dass ich zuerst Wein trank, Weißwein gespritzt, immer wieder zum Getränkebuffet ging und mir einschenkte, und danach Cola mit Bacardi mischte, Cuba libre, da schmeckte man den Alkohol nicht so heraus. Ich hatte meine Kamera mitgenommen, und bevor ich zu betrunken dafür war, fotografierte ich die Gäste, die Zimmer, das Essen, Christine mit ihrem Paul, und hielt die Kamera mit der Linse zu mir gedreht weit vor mich, um ein Foto mit Christine und mir zusammen zu machen.
Im seligen Rausch begann ich zu tanzen, die jungen Männer alle in T-Shirts und löchrigen Jeans, und dennoch aus gutem Hause, woran erkannte man das sofort? Mit einem tanzte ich auf hysterische Weise, und schließlich waren wir beide so betrunken und zügellos, dass wir uns in eines der Zimmer zurückzogen, uns auf das Bett warfen und so lange aneinander herumgriffen, bis ich mich übergeben musste. Ich konnte gerade noch den Kopf über die Bettkante drehen und spie sehr schnell und sehr heftig auf den Boden. Jede bisher erlebte Peinlichkeit war nichts gegen die Schmach, mit bis zum Bauch hochgeschobenen Kleid und der Unterhose bei den Knöcheln auf diesem Bett zu liegen, auf Christines Bett, der Boden neben dem Bett voll mit meinem Erbrochenen, zu stinken und mir von Prinzessin Morgenschön helfen zu lassen, auf die Toilette führen zu lassen, wo ich würgte und spie.
Christine brachte mich in ein anderes Zimmer, sie ließ mich bei sich übernachten, sie brachte mir ein Nachthemd und umsorgte mich, und mit jeder fürsorglichen Geste wuchsen meine Scham und mein Hass. Sie war so herzzerreißend freundlich, dass ich sie umso mehr hasste, so abgrundtief hasste, dass ich jetzt und in dieser Stunde ihr etwas antun wollte.
Ich schlief schließlich ein. Es war fünf Uhr morgens, als ich mit dröhnendem Kopf und körperlich fühlbaren Schamgefühlen aufwachte. Ich begann zu weinen, in den Polster zu weinen um niemanden aufzuwecken, und hörte erst auf, als ich aus dem Augenwinkel eine Reihe Fotoalben auf dem Bücherregal neben dem Bett sah.
Die nehme ich mit, dachte ich, ich nehm die jetzt mit und schau sie mir in Ruhe an. Ich suchte meine Tasche, zog das Nachthemd aus und das verdreckte Kleid an, nahm fünf Alben aus dem Regal, nahm sie mit beiden Armen und schlich aus der Wohnung, stinkend nach Schweiß und Erbrochenem. Die Alben rutschten immer wieder aus der Umarmung, und ich brachte sie wieder ins Gleichgewicht. Nach einer Stunde kam ich zuhause an, mir stieg ein Jubel in die Kehle, meine Mutter kam aus dem Schlafzimmer, und ich jauchzte und lachte.
"Was ist denn?", fragte sie.
"Ach nichts", antwortete ich, "mir ist nur gerade was Wunderbares passiert."
Ich. 1984 bis jetzt
Außer den Fotos und der Peinlichkeit blieb mir noch etwas von Christines Fest. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich einmal reich heiraten würde, aber der junge Mann, mit dem ich auf Christines Bett gelegen war, hatte Gefallen an mir gefunden. Er rief mich am nächsten Tag an und fragte, ob er mich sehen könnte. Ich traf mich mit ihm, und es ging ganz schnell, dass er mir seine Liebe gestand und mich heiraten wollte. Mir war nicht ganz klar, was das sein sollte, Liebe, eigentlich war er mir nicht einmal besonders sympathisch, aber ich sagte ja, ich will dich heiraten. Ich will dich reichen Erben heiraten, der Jus studiert und nach dem Studium in die Kanzlei seines Vaters eintreten wird. Es schien mir auch ausgeschlossen, dass mich jemals wieder ein Mann so bedingungslos lieben würde. Christian liebte an mir wohl, dass ich ihn nicht besonders mochte, dass ich lieber alleine als mit ihm zusammen war.
Ich gewöhnte mich an Wohlstand und Überfluss, doch heimisch wurde ich in dieser Welt nie. Immer ein Fremdling, immer auf der Hut.
Mein Mann liebte die Fotos, die ich auf Christines Fest gemacht hatte, ich mit Christine und eins von uns allen, er schon neben mir. Der Beginn unserer Liebe, sieh mal, hier festgehalten, was für ein Zufall, was für ein Glück.
Und da gab es noch die anderen Fotos, die heimlich entwendeten, ängstlich versteckten, sorgfältig versperrten. Niemand durfte die Alben je sehen, nur ich, immer wieder. Ich studierte, was Christine anhatte, wie sie die Haare trug. Ich ließ mir die Haare blond färben. Als mein Mann mich das erste Mal so sah, lachte er und meinte, ich sähe ja aus wie Christine.
Nach der Scheidung – eine vorteilhafte Scheidung, mein Mann wollte doch noch etwas Zuneigung erfahren und verliebte sich in eine Arbeitskollegin bei Gericht – behielt ich unser Haus in der Toskana. Ich brachte die Alben – meine und ihre – in das Haus. Hier sind sie sicher vor fremden Blicken und für niemanden von Interesse. Ich annonciere das Haus bei einem amerikanischen Anbieter für Ferienwohnungen. Gäste haben sich beschwert, dass es kalt und ungemütlich sei, und ich habe mir vorgenommen, es ein wenig heimeliger einzurichten. Vielleicht nächstes Jahr, bevor die Saison wieder beginnt. Für die nächste Zeit ist es noch vermietet, an eine Amerikanerin aus Pittsburgh.
Christine. 2019
Christine erinnerte sich, dass sie, nachdem Paul und sie geheiratet hatten, noch einige Bilder nach Pittsburgh mitnehmen wollte und einige Alben nicht fand, die ganze Familie suchte danach, aber die Abreise nach Amerika war so überstürzt, dass sie die Suche aufgaben und nicht mehr daran dachten.
Sie hat sie mitgenommen! Sie hat sie gestohlen, jawohl, gestohlen, dieses scheinheilige Luder. Wieso stiehlt man die Fotos von fremden Leuten, das ist ja krank! Ihr Schrecken hatte sich in einen Triumph verwandelt. Ein Triumph wie jedes Mal, wenn sie den Beweis hatte, dass Paul sie betrog, wenn sie Nachrichten fand und Haare und Zettel, ha, jetzt habe ich dich erwischt! Auch jetzt fiel dieser Triumph über sie, ha, ich habe dich erwischt, ich bin dir draufgekommen, du kleine Drecksau. Sie wusste jetzt, warum sie sie gemieden hatte auf der Uni, mit der wollte doch niemand etwas zu tun haben! Das Fest, natürlich, da blieb sie über Nacht, weil sie so besoffen war, und da hat sie die Fotos mitgenommen.
Sie beruhigte sich allmählich, ihr Herz war jetzt ganz kalt, so kalt wie dieses Haus. Sie fuhr in den nächsten Ort, nach Greve in Chianti und nahm dort ein Zimmer. Das Fenster ging auf den Hauptplatz, auf das Denkmal des Eroberers Verrazzano, und so fühlte sie sich, stark und unbesiegbar. Sie spreizte die Finger, hob die Arme, stand da wie ein Racheengel und überlegte, was nun zu tun wäre.