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Dies irae
VORBEMERKUNG: "Dies irae" ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen morti und wölfin!!!!!!!!!!!!
„Hat deine kleine Odyssee endlich ihr Ende gefunden? Glaubst du, die Stimmen in deinem Kopf, die ruhelosen Geister, werden schweigen?“
Die dunkle Gestalt, die zu ihm sprach, saß hoch oben auf dem Dach einer alten Kapelle, die sich wie ein Schatten im Schein des vollen Mondes in den Himmel erhob. Über Jahre schon war das Gebäude dem Zerfall ausgeliefert, versuchten Moose und Sträucher sich ihm zu bemächtigen; das von Menschen angeeignete Gebiet wieder der Natur zurückzuholen und den schändlichen Fleck aus gebrochenem Stein und faulendem Holz sich einzuverleiben.
„Jahr um Jahr ist vergangen und unermüdlich jagtest du mich. Wie ein Tier, dass unnachgiebig seiner Beute folgt, auch wenn es dabei selber den Tod findet.“
Der Jäger stand direkt vor dem zersplitterten und morschen Tor des verlassenen Gotteshauses, unterhalb der Gestalt, die wie eine schwarze Krähe auf dem Giebel hockte. Dennoch kam die Stimme, die zu ihm sprach, von weit her, so als wäre sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, ein Echo der vor langer Zeit gesprochenen Worte.
„Sieh dich nur mal um. So viel symbolische Kraft. Ein alter Wald bei Nacht. Ein Haus Gottes, von ihm selbst verlassen und zwei Feinde, die dort nach nunmehr über sechs Jahren ihren letzten Kampf austragen werden.“
Sein schwarzer Mantel wehte leicht im Wind und mit selbigen kamen die Erinnerungen zurück. Die Gedanken an die Zeit, in der alles begannen hatte; dort wo der Weg geebnet worden war und die Sehnsucht nach Vergeltung das Denken des Jägers übernommen hatte.
Sechs Jahre früher:
Ein gellender Schrei fuhr ihm durch Mark und Bein, als er aus dem Sessel aufschrak und sein Blick auf das Testbild des Fernsehers fiel. Er musste eingeschlafen sein, vor ih stand immer noch die Weinflasche, die er zur Feier seiner Beförderung geöffnet hatte. Marcels Augen glitten ruhelos von links nach rechts. Hatte er nur geträumt, oder hatte er diesen spitzen Schrei wirklich gehört?
Es klirrte...
Das Geräusch einer zerspringenden Glases hallte durchs Haus und mit einem Mal war Marcel völlig wach. Er sprang auf und lief im fahlen Licht des Fernsehers durch die Küche in den Hausflur, wo er kurz innehielt, um in die Dunkelheit hineinzulauschen. Da bemerkte er die Kühle; einen kalten Luftzug, der durch sein Heim wehte. Er hastete zum Lichtschalter und nachdem er diesen gedrückt hatte, brauchten seine Augen noch einige Sekunden, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Da sah er die Eingangstür, wie sie weit offen stand; ein gähnendes, schwarzes Loch.
Ein zweiter Schrei. Aber ein anderer; heller, undefinierter. Der Laut eines Kindes; seines Kindes; Max. Gedanken an mögliche Szenarien schossen durch seinen Kopf. Ein Alptraum seines Sohnes, ein Krampf in seinem Bein, aber je länger er auf die offene Tür starrte, desto klarer wurde ihm, was wirklich vor sich ging. Jemand war in seinem Haus. Er spürte die Anwesenheit eines Fremden und die Absicht, die hinter seiner Gegenwart steckte.
Angst verbreitete sich wie eine Seuche in seinem Körper und mutierte zum Wahnsinn, als er die massive Holztreppe hinauf rannte und nicht darauf achtete, wie sein linker Fuß an einer Stufe hängen blieb. Es riss ihn von den Beinen, das Licht zog sich im Fall in Streifen dahin und nichts vermochte seinen Sturz nun noch aufzuhalten. Marcels Kinn schlug hart auf das Holz, sein Ellbogen brach, als sich dieser in einer Seitenstrebe verfing und alles um ihn herum versank in einem Farbenmeer. Blinkende Lichter, wabernde Schatten und verzerrte Geräusche. Benommen lag er am Boden, sog die kühle Luft in seine Lunge und roch den Schnee, der draußen unaufhörlich vom Himmel fiel. Bilder seiner Frau und seines Sohnes wirbelten durch seinen Kopf. Eine Diashow, als wäre das Gelebte nur noch eine blasse Erinnerung. Er spürte wieder das Fremde, denjenigen, der in sein Heim eingedrungen war und nun nach dem Leben seiner Familie trachtete.
Marcel bäumte sich auf. Mobilisierte alle Kraft, die noch in seinem geschundenen Körper steckte und setzte seinen Weg nach oben fort.
Die Angst war nun vollständig vom Wahnsinn ersetzt worden und er spürte schon die Trauer, die sich wie ein dunkler Schleier um seinen Geist legte.
Marcel hatte den oberen Flur erreicht und schaltete auch hier das Licht ein. Diesmal stellten sich seine Augen schneller auf den Wechsel zwischen Hell und Dunkel ein. Und das mussten sie auch, da er nicht innehielt um ihnen diese Möglichkeit zu geben, sondern seinen Weg direkt fortsetzte, um seiner Familie zu helfen.
Die Familie war alles, was er hatte. Das einzige, was ihm jemals wirklich etwas bedeutet hatte.
Das Zimmer seines Sohnes kam zuerst. Er stieß die Tür auf und starrte blind in das Dunkel des Raumes. Er blinzelte und rief nach Max, doch als Antwort erhielt er nur das Schweigen der Düsternis.
Seine Finger tasteten sich zum Lichtschalter. Die Zeit vom Druck des Schalters bis zum Einsetzen des Lichtes schien eine Ewigkeit zu dauern, und als das künstliche Licht schließlich die Nacht verbannte, breitete sich vor Marcels Augen ein Bild des Grauens aus. Er sah das blasse Gesicht seines Sohnes, seine offenen Augen, seinen offenen Mund, aus dem kein Atem mehr drang und er sah die blutigen Kleider, die er trug. Der türkise Schlafanzug, auf dem sich Astronauten und Raumschiffe tummelten, war in Blut getränkt.
Die Kraft verließ ihn und seine Knie wurden weich. Der Schmerz des Ellbogens und seines Kinns waren vergessen, denn die Pein, die nun über ihn kam, war mehr, als er sich jemals vorstellen konnte.
Später vermochte Marcel nicht mehr zu sagen, wie lange er so reglos auf dem grauen Teppichboden gekauert hatte, der sich rings um den Körper seines Sohnes mit Blut vollgesogen hatte und im grellen Neonlicht wie eine makabere Insel wirkte.
Der Anblick von Max’ Augen hatte sich tief in sein Hirn gebrannt; was in ihnen lag, waren ungläubiges Entsetzen, Panik und schließlich die verzweifelte Frage eines fünfjährigen Kindes nach dem Warum...
Er sah Max, wie er auf einem Spielplatz schaukelt, höher, immer höher schaukelt, sein Lachen eins mit dem Herbstwind... Max im Technikmuseum, wie er endlos auf die Tafeln mit den Daten der ausgestellten Flugzeuge schaut, obwohl er doch gar nicht lesen kann... Max, wie er sich zum ersten Mal ganz stolz selber ein Eis kauft und es anschließend seinem Vater schenkt...
Benommen wandte Marcel sich um und übergab sich. Es schien ihm, als werde er zusammen mit seinem Mageninhalt auch jenen tranceähnlichen Zustand los, der ihn wie gelähmt an den Boden gefesselt hatte.
Gefasst erhob er sich, schritt hinaus in den Flur und verschloss die Tür des Kinderzimmers - des Leichenzimmers - durchzuckte es ihn - mit einem trockenen Geräusch hinter sich.
Dann bewegte er sich den Gang entlang, bis er vor dem Arbeitszimmer seiner Frau angekommen war. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, des Abends hier zu lesen oder Briefe an ihre zahlreichen Freundinnen zu verfassen, während Max schon im Bett war und er, Marcel, sich noch einen Krimi im Fernsehen anschaute.
Wie oft war er nach Ende des Films leise die Treppe hinaufgestiegen und hatte sie durch den Spalt der nur halb angelehnten Tür voller Liebe betrachtet, wie sie mit konzentriertem Gesicht an ihrem Schreibtisch aus dunklem Holz saß und Seite um Seite schrieb... Er liebte Lorna mehr als alles andere in der Welt, mehr noch als seinen Sohn.
Es war wie sonst auch. Erschreckend normal. Ein schmaler Lichtstreifen fiel aus dem Zimmer seiner Frau in den dunklen Flur; gleich einem Leuchtturm, der das in den Wellen verlorene Schiff in den sicheren Heimathafen lotst. Einen Moment lang gab er sich der Illusion hin, sich alles nur eingebildet zu haben; der Rotwein, der Krimi ... Doch die Realität schlug mit aller Macht zu: Als Marcel sich gerade sicher war, sich alles nur eingebildet zu haben und sich anschickte, seine Frau mit einem stürmischen Kuss zu überraschen, sah er, dass die makellose Wärme des Lichtstrahls befleckt wurde durch eine Spur dunkler Tropfen in seiner Mitte.
Den Kopf von allen Gedanken brutal leergefegt, betrat er den Raum und das endlose Weiß in seinem Gehirn speicherte automatisch die Bilder, die sich ihm offenbarten. Lorna auf dem Boden, hinter ihrem Kopf eine Lache aus Blut. Lorna auf dem Boden, in ihrer Hand noch den Hals der gläsernen Blumenvase. Lorna auf dem Boden, das Fenster offen, kalte Luft weht hinein, Schneeflocken mit sich tragend, die nun in ihrer Reinheit ins Zimmer fallen und im dunklen Blut schmelzen. Eine abgeknickte weiße Rosenblüte lag in jenem See und wurde allmählich rot, als das Blut in ihre Fasern drang. Er schmeckte den bitteren Rest seines Mageninhalts auf der Zunge und roch den Schnee, dessen Geruch sich auf ewig mit dem Bild des Todes vereinigt hatte. Dann wurde es schwarz, nur noch schwarz, denn sein Bewusstsein wich einer alles beherrschende Ohnmacht...
Am darauffolgenden Morgen unternahm Marcel einen langen Spaziergang durch die friedlich verschneite Landschaft, in der kahle Baumgerippe den einzigen Farbklecks bildeten. Nur das Krächzen einiger Krähen und das Knirschen seiner Stiefel im Harsch durchbrach die Stille.
Er wollte nicht mehr an die Bilder erinnert werden, wollte nicht mehr das Gesicht seines Sohnes sehen müssen, wollte nicht mehr das glockenhelle Lachen seiner Gattin hören, nun für immer verstummt, nein, in seinem Kopf lachte sie weiter, sie lachte, sie lachte... Erinnerungsfetzen tauchten auf, er hatte geschrieen, die Nachbarn waren gekommen, Notaufnahme im Krankenhaus, dann war er heute Morgen im Gästezimmer der Nachbarn erwacht und hatte sich still aus dem Haus geschlichen, den Blick auf das eigene Grundstück sorgfältig vermeidend.
Nun war er hier... und Lorna lachte...
Marcel atmete heftig, der Weg stieg an und führte ihn schließlich zu einer Anhöhe, auf der die Ruine einer Kapelle ihre Mauern in den Himmel streckte. Erschöpft nahm er auf einem Steinhaufen Platz, da er sich völlig verausgabt hatte in dem Bestreben, davonzulaufen vor der gestrigen Nacht.
Doch er konnte nicht davonlaufen, konnte nicht fliehen vor der Realität, konnte nicht fliehen vor Lornas Lachen...
Abschätzend wog er einen scharfkantigen Stein in der Hand. Kalt ruhte er dort und Marcel fragte ihn im Stillen: “Willst du mir mein letzter Freund sein, mir einen letzten Dienst erweisen?” Langsam hob er ihn mit seiner unverletzten Hand hoch, setzte ihn an seiner Pulsader an. Längs schneiden, fuhr es ihm durch den Kopf; das hatte Lorna ihm einmal gesagt, wer quer schneidet, wird meist rechtzeitig gerettet. Lorna wusste das, sie arbeitete als Krankenschwester im örtlichen Hospital. Lorna... Wieder sah er ihre blitzenden grünen Augen, hörte ihr Lachen... und ließ den Stein sinken. Mit einem leisen Klickern rollte er den Abhang hinunter. Entschlossen stand Marcel auf und wandte sich zum Gehen. Er würde nicht aufgeben. Nicht eher würde er ruhen, als bis dass der Tod seiner Frau und seines Sohnes gerächt sein würde. Er würde den Mörder finden und richten, und wenn es das Letzte sein sollte, was er in seinem Leben tat. Nur noch der Gedanke an Rache war es, der Marcel am Leben erhielt, denn seine kleine Familie war alles gewesen, was ihm bisher Kraft gegeben hatte – Vergeltung!
Heute:
Die Gestalt verschwand durch ein Loch im Dach. Wie Wasser floss sie hindurch und entzog sich so Marcels Blicken. Er wusste, dass die Zeit der Abrechnung, der Tag des Zorns, nun gekommen sein würde. Er fühlte sich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen, das es nicht mehr erwarten konnte, seine Geschenke endlich von dem bunten Papier zu befreien.
Mit einem Fußtritt brach er die morsche Tür restlos aus ihren Angeln und das fahle Licht suchte sich seinen Weg hinein. Es glitt vorbei an den modrigen Holzbänken, an den rostigen Kerzenhaltern, die sich nur noch mit Mühe in der Wand hielten und schließlich traf der letzte Strahl den Gejagten. Er hockte am Ende des Ganges auf einem kleinen Altar vor dem Kreuze Christi. Seine Augen waren leer und doch lag in ihnen ein sonderliches Funkeln.
Marcel schritt durch die Bankreihen. Unter seinen Füßen brachen kleine Äste und sogar der Boden gab seinem Gewicht nach. Das aufgeschreckte Ungeziefer lief davon, suchte Schutz vor dem Licht und dem Eindringling. Es hatte nur Angst vor Marcel, denn um den schwarzen Schemen wimmelte es nur so von Getier.
Schritt um Schritt kam er dem Altar näher und mit jedem weiteren roch er den Schnee von damals umso intensiver. Er roch die weiße Reinheit und das rote Blut. Vor seinen Augen spielte sich ein Film ab. All die Dinge fanden nun zueinander. Er sah eine weite Schneeebene und aus dem bewölkten Himmel fiel ein Tropfen Blut herab. Erst einer, dann mehrere, bis es nicht mehr aufhören wollte. Die Tropfen drückten sich tief in das Weiß hinein und verbreiteten sich dann langsam in der kristallenen Struktur. Im Schnee lagen seine Frau und sein Sohn. Ihre Gesichter fahl und tot. Und über ihnen thronte, gleich einer riesigen Statue, ihr Mörder, aus dessen Augen das Blut herabfloss und den reinen Schnee mit seinem dreckigen Regen beschmutzte.
Marcel schüttelte energisch den Kopf, um in die Realität zurückzukehren, denn zu lange hatten ihn diese Bilder verfolgt, zu lange war er dem eigenen Wahnsinn erlegen. Es musste beendet werden. Jetzt!
„Weißt du eigentlich was ich bin? Kein Mensch. Kein Tier. Kein Geist.“
Marcel ging weiter. In seiner Hand ruhte eine silberne Klinge.
„Es gibt Dinge, die du nicht verstehst. Es ist ein Fluch. Gebunden bin ich an den Wahn. Menschen muss ich töten um selber zu leben. Es ist wie essen, wie trinken. Und nichts kann ich dagegen tun. Versuche du dich einmal gegen Durst und Hunger zu wehren, wenn alles vor dir steht.“
Beide, Jäger und Gejagter, standen sich nun direkt gegenüber.
„Wenn du mich tötest, wirst du zu mir. Mein Fluch geht auf dich über und auch du wirst mordend durch die Welt ziehen, um deinen Sehnsüchten die Befriedigung zu schenken...“
Wieder stand Lornas Bild vor Marcels Augen und ihr engelsgleiches Lachen hallte in seinem Kopf wider. Heftig kniff er die Augen zusammen, um wieder klar denken und der Gestalt zuhören zu können.
„Genau, wie du es jetzt getan hast. Der Unterschied liegt nur im Leben und im Tod, denn ich gehöre nicht mehr dazu. Es gab keinen Platz für mich. Weder im Himmel, noch in der Hölle...“
Marcels Gedanken schweiften ab, und in einem Anflug von Panik bemerkte er, dass er sie nicht länger kontrollieren konnte. Abermals entstand das Bild seiner Frau vor seinen Augen, es war in ihrem letzten gemeinsamen Sommer, er wusste es ganz genau; als sie den Garten angelegt hatten. Während er selber noch Kleinigkeiten am Haus verrichtet hatte - sie waren erst im Frühjahr eingezogen - hatte Lorna unermüdlich im Garten verbracht, hatte Beete angelegt, Bäume und Blumen gepflanzt und eines Abends schließlich hatte sie ihn, Marcel, herumgeführt und ihn mit einem liebevollen Picknick unter der alten Linde überrascht. Sie hatten dort eine wundervolle Nacht verbracht, nur sie beide, Max war bei einem Freund; mit dem unergründlichen Konzert der Zikaden im Hintergrund, die Luft voll dem reichen Duft eines üppigen Kräuterbeetes und dem sanften Mondschein auf ihren bloßen Körpern... Nie mehr würde es so sein wie damals, und darum war er hier!
„Wie lange mein Zustand schon herumgereicht wird, kann ich nicht sagen, doch ich weiß wie du dich fühlst, denn auch ich war einst du. Der schwarze Schemen holte meine Frau, genau wie ich deine und ich jagte ihn. Über Jahre hinweg, bis er einst meinen Händen erlag und ich die Rache stillen konnte.“
Rache, das war es... Marcel packte die Silberklinge fester und spürte, wie ihre Kälte verschwand, die tödliche Waffe wurde eins mit ihm... Nur noch wenige Augenblicke, und der Jäger würde endlich seine Beute erlegen, nach so vielen Jahren unerbittlicher Verfolgung... Marcel atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben. Diesen Moment des Triumphes wollte er in aller Klarheit erleben und auskosten. Nur noch einige Sekunden...
„... nur er hatte mich nicht aufgeklärt über diesen Fluch. So verschwand ich in der Ewigkeit. Gebunden an die Qual zu töten und zu rauben. Er wollte nicht mehr und auch ich will nicht mehr. Stell dir vor, wie es ist, wenn man sein Leben beenden möchte, doch das, was in einem lebt, lässt einen nicht. Ich bete sogar darum, dass du mich tötest, doch werde ich mich wehren, wenn deine Klinge mir das Leben, wie ich es kenne, nehmen will. Hin und hergerissen zwischen zwei Extremen. Dem Wunsch ewig zu leben und dem Wunsch endlich zu sterben. Auch solltest du wissen, dass dieser Zustand einem die wirkliche Ewigkeit verwehrt. Tot bedeutet auch tot. Kein Leben danach. Nur das Nichts. Ausgelöscht, als hätte man nie existiert...“
Die unergründlich schwarzen Augen taxierten ihn mit einem Funkeln. Marcel war sich dessen nur zu genau bewusst, als er langsam die Klinge anhob.
Erlöst werden wollte jene Kreatur also von ihm... Dank ihm keine Qualen mehr spüren müssen...
1 Jahr später
Das Haus war dunkel und kein Auge vermochte diese Düsternis zu durchbrechen, bis auf die seinen. Es hatte ihn stark und mächtig gemacht und er war nicht mehr Herr seines eigenen Willens. Getrieben von einer dunklen Macht schlich er durch die engen Gänge des Hauses, dessen Türen nicht verschlossen waren und ihm den Weg geebnet hatten. Vor einem Jahr hatte der Jäger sein Opfer erlegt und er hatte den unersättlichen Durst nach Rache gestillt. Doch an dessen Stelle war ein anders Verlangen gerückt. Eine Sehnsucht, die sich tief in ihm versteckte und doch sein Handeln bestimmte.
Marcel öffnete eine Tür und sah direkt auf ein Bett. Unter Laken und Decken lag ein kleiner Kinderkörper; friedlich in den weiten Welten der Träume versunken. Er sah das Kind, er spürte den Fluch und er hörte sein Gewissen.
Ein Mondstrahl fiel durch die Türöffnung genau auf die silberne Schneide, die wie zum Hohn all die Jahre schon in seiner Hand lag und ließ sie in einem überirdischen Licht erstrahlen. Nein! Er konnte es nicht! Der Jäger vollführte eine rasche Bewegung und trieb die Klinge mit tödlicher Präzision in sein eigenes Herz. Ein Quell dunklen Blutes ergoss sich auf den bunten Teppich unter seinen Füßen und aus seiner Kehle drang ein spitzer Schrei . Er verhallte zugleich mit dem glockenreinen Lachen einer jungen Frau in der tiefen Stille einer Winternacht.
Die Stille wehrte nicht lange, des Marcels Bewusstsein verschwand nicht.
Er begriff.
Der Fluch konnte nicht beendet werden. Nicht durch die eigene Hand. Sie waren keine Monster, die aus Spaß töteten. Sie konnten nicht anders und auch er konnte nicht länger anders.
Er weinte Tränen der Erkenntnis, als er sich über den kleinen Körper beugte und sich der fremden Macht in ihm schließlich ergab.
Draußen fiel der Schnee. Weiß und rein und im Inneren erwachte ein Mann aus dem Schlaf, denn er hatte einen gellenden Schrei gehört.
Der Jäger wurde zum Gejagten. Der Kreis hatte sich geschlossen und begann von vorne.
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