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Diese … diese … Schlampe
„So früh schon Besuch? Wer mag das sein?“
Agnes schaute verblüfft zur Wohnungstür. Klingeln um acht Uhr morgens war mehr als ungewöhnlich.
Sie stand auf, schlich zur Tür hinüber und spähte durch den Spion.
„Ach, die Schlampe von gegenüber. Was mag die nur wollen?“, fragte sie sich. Lust zu öffnen hatte sie keine. Sie wollte nicht hineingezogen werden in die Angelegenheiten von dieser, dieser…
Die Neugier siegte. Sie öffnete.
„Frau Sorwald, ich…“ Die Frau vor der Tür brach ab.
Agnes sah eine Träne im Augenwinkel der Nachbarin und bemerkte das ärgerliche Zucken ihres Kopfes.
„Ja?“ Agnes klang mehr als kühl. Sie suggerierte arktische Temperaturen.
„Ich … ich ... der Junge …“ Jetzt konnte die Schlampe ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie weinte hemmungslos.
Geschah ihr Recht. Was führte sie auch einen solchen Lebenswandel? War doch klar, dass das in einer Katastrophe enden musste. Nur, was belästigte sie unbescholtene Bürger damit?
Agnes wollte mehr wissen. Nun ja, nicht direkt wissen wollen. Solche Abnormitäten gingen sie ja nun nichts an. Immerhin gab es so etwas wie Sitte und Anstand. Für einige. Für einige andere nicht.
Aber neugierig durfte sie doch schon sein, was so eine Person in aller Herrgottsfrühe von ihr wollte.
„Was ist denn passiert? Kann ich Ihnen helfen?“ Agnes bemerkte genau den lauernden Unterton in ihren Worten, sie konnte nur hoffen, dass der Kummer der Schlampe echt genug war, dass sie ihn überhörte. Gleichzeitig hoffte sie, diese Frau würde „nein“ sagen und gehen.
Sie ging nicht. Agnes verstand sie kaum, immer wieder unterbrach Schluchzen die Worte.
Bruder, tödlich verunglückt. Mutter, zusammengebrochen, Krankenhaus. Der Junge, Fieber.
„Bitte, Frau Sorwald! Marko braucht mich doch! Und meine Mutter braucht mich auch! Was soll ich tun? Ich hab doch niemanden! Ich weiß nicht weiter. Bitte!“
Der Junge! Marko!
Den hatte sie schon oft bedauert. Der kleine Kerl wusste doch bestimmt nicht, wer von all denen sein Vater war. Armer Junge.
Doch, über den Kleinen hatte Agnes schon oft nachgedacht. Immer dann, wenn er aus der Schule kam und mit seinem Schlüssel die Wohnungstür aufschloss.
Seine Mutter pennte noch. Zu müde, sich um ihr Kind zu kümmern. Musste sich selbst die Tür öffnen, bestimmt auch selbst was zu Essen machen. Mutter hatte keine Zeit, Mutter musste schlafen. Mutter musste sich erholen von den vielen…
Na, man sagt den Leuten nichts Schlechtes nach.
„Was kann ich tun? Sagen Sie nur, ich helfe gern, wenn ich kann.“
Warum hatte sie das gesagt? Sie wollte mit der nichts zu tun haben! Na gut, der Junge tat ihr Leid. Aber trotzdem wollte sie nicht in irgendwas reingezogen werden.
„Wenn Sie, ich meine, wenn Sie Zeit haben, könnten Sie dann mal nach Marko sehn? Ich glaube nicht, dass er Unfug macht. Ich habe ihm gesagt, dass er brav sein muss und er ist zu schlapp auf den Beinen. Ich denke, ich bin morgen gegen Mittag wieder zurück. Ach verdammt! Ich muss verrückt sein zu glauben, Sie könnten solange auf Marko aufpassen!“
Eine neue Tränenflut unterbrach die Nachbarin und Agnes überlegte angestrengt. Dann nickte sie. Das war die beste Gelegenheit, sich die Wohnung der Schlampe anzusehen. Die Neugier hatte gesiegt.
„Frau Neuhaus, machen Sie sich keine Sorgen. Fahren Sie, ich sehe schon nach Marko. Wozu hat man sonst Nachbarn?“
Agnes ging mit nach nebenan. Neugierig sah sie sich in der Wohnung ihrer Nachbarin um. Schlampig. Hatte sie doch gewusst. Überall Chaos, Spielzeug. Spülkram von gestern, Staubwischen dringend erforderlich. Madame griff nach einem Küchentuch, wischte sich das Gesicht ab. Der Junge sollte wohl nicht sehen, dass sie geweint hatte.
„Marko, Oma ist krank. Ich muss fort und mich um sie kümmern.“
Agnes sah genau die weit aufgerissenen Augen des Jungen. Allein gelassen sein.
Eigentlich müsste er das kennen.
„Was hat sie? Sie wird doch wieder gesund? Wann kommst du weder?“
So erschreckt! Qual in Kinderaugen. Der Knirps schien an der Oma zu hängen. Wahrscheinlich galten die Geburtstagsgeschenke mehr als das, was die Mutter tagtäglich zu bieten hatte. Armes Kind.
„Morgen komm ich zurück. Frau Sorwald kümmert sich solange um dich. Sei bitte artig, mach ihr keinen Ärger. Versprichst du mir das?“
„Indinaerehrenwort! Ich bin ganz brav! Darf ich nicht mit?“
„Marko, Oma ist sehr krank. Ich muss mich um sie kümmern und werde kaum Zeit haben, mich mit dir zu beschäftigen. Außerdem könntest du Oma anstecken. Und das wollen wir doch nicht.“
„Du musst dich nicht mit mir beschäftigen! Ich will mit!“
„Schatz, bitte! Es ist so schon schwierig genug. Du erinnerst dich, als Papa so krank war? Ich …“ Pause.
„Nein! Oma darf nicht sterben!“
„Oma stirbt schon nicht. Sie ist nur krank.“
Das war doch total verrückt! Agnes nahm sich vor, die Polizei anzurufen, wenn die Frau bis zum Einbruch der Dämmerung nicht wieder aufgetaucht sein sollte. Sie ließ sich nicht ausnutzen, nur weil die Schlampe sich eine Weile nicht um das Kind kümmern wollte.
„Und du kommst wieder und sagst mir, dass Oma gesund ist?“
„Ich hoffe es. Ich hoffe, dass alles gut wird.“
Sie küsste das Kind und der Kleine klammerte sich an sie, als habe er Angst, sie käme nie zurück.
Komisch, dass Kinder an ihren Müttern hingen, auch wenn die so außerhalb der Norm waren. Die Frau hatte doch gar keine Zeit, sich um den Jungen zu kümmern. Ein oder zwei Stunden, wenn er aus der Schule kam, mehr bestimmt nicht, Denn dann zog sie los. Der Rock, viel zu kurz, bedeckte kaum das Knie. Der Pulli, zu eng, zu kurz. Oben und unten zu kurz, Ein Stück Bauch konnte man sehen und - schlimmer noch - den Ansatz des Dekolletees. Unverschämtes Geschöpf! Kam erst weit nach Mitternacht nach Hause.
Die Mutter hatte sich von dem Jungen frei gemacht.
„Frau Sorwald, kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo alles steht, wenn Marko etwas braucht. Sie müssen nicht die ganze Zeit hier bleiben. Wenn Sie nur ab und zu mal hereinsehen könnten? Und heute Abend muss er seine Medizin nehmen. Am besten beim Essen.“
Sie brach ab und die Farbe wich aus ihrem Gesicht.
Da waren ihr bestimmt die Freier eingefallen. Sollte Agnes die alle anrufen und absagen? Nein, keinen einzigen würde sie anrufen. Agnes ekelte sich davor.
„Um Himmels Willen, ich hab ja noch gar nichts vorbereitet! Wissen Sie, Marko macht sich ein Butterbrot, wenn er aus der Schule kommt. Ich koche immer erst später und wir essen, kurz bevor ich zur Arbeit muss! Aber heute ist alles durcheinander.“
Arbeit nannte sie das!
„Wissen Sie was? Ich nehme Marko mit hinüber zu mir. Da weiß ich, wo alles steht und etwas zu kochen ist kein Problem.“
„Das kann ich Ihnen doch nicht zumuten!“
„Und wenn er etwas braucht? Wenn er ruft, höre ich das nicht, wenn ich drüben bin und er hier. Bei so einer Grippe mit Fieber muss er viel trinken. Ich werde schon dafür sorgen, dass er nicht austrocknet. Tee koche ich ihm. Nur …“ Agnes überlegte einen Moment. „Ich habe keinen Saft da.“
„Steht im Kühlschrank. Ich lasse Ihnen einen Schlüssel da, dann können Sie sich holen, was Sie brauchen.“
Die Nachbarin zeigte Agnes, wo Saft, Milch und Medizin standen. Gemüse für die Suppe im Kühlschrank, die Spielzeugkiste.
„Am Besten trage ich Marko mit der Bettdecke zu Ihnen rüber. So verschwitzt kann er nicht über den Flur laufen“, überlegte Frau Neuhaus.
„Ja, stimmt. Bringen Sie ihn ins Wohnzimmer. Die Couch kann ich ausziehen, dann wird das ein Bett.“
Marko weinte, als er in die fremde Umgebung kam. Noch ein Kuss, eine letzte Umarmung, dann ließ er seine Mutter los.
„Mach, dass Oma wieder gesund wird!“, bat er.
„Ich versuch’s“, versprach sie, dankte Agnes noch für die Mühe, die sie sich machen wollte und war zur Tür hinaus.
Der Junge drehte sich zur Lehne der Couch und zog die Decke über den Kopf. Agnes hörte ihn schluchzen.
Vier von der Sorte hatte sie großgezogen. Und jetzt? Alle vier im Ausland. Zu weit für einen Besuch. Und seit ihr Jupp unter der Erde war…
Der Vater des Jungen war auch gestorben? So hatte sie das gar nicht verstanden vorhin. Vielleicht war es doch nicht so verrückt, wie sie dachte?
„Marko, ich glaube, wir müssen miteinander auskommen bis morgen. Was sollen wir bis dahin tun?“
Die Decke rutschte ein Stück nach unten.
„Der ist ja gar nicht richtig blond! Der hat ’nen Rotstich im Haar!“, fiel Agnes auf.
Dann kam der Kopf zum Vorschein, das Gesicht wandte sich ihr zu. Instinktiv griff Agnes nach dem Taschentuch in der Kitteltasche. Gelernt ist gelernt, vergisst man nicht. Vier Stück. Alle weg.
„Mama liest mir immer vor.“
„Die liest?“, staunte Agnes in Gedanken, bedauerte dann:
„Ich habe nichts zum Lesen für dich. Die Zeitung wirst du nicht mögen.“
„Ich habe ein Piratenbuch! Das hol ich!“
„Na! Du bleibst liegen! Willst du noch mehr krank werden? Bleib unter der Decke, dann gehe ich rüber. Aber erst mach ich dir Tee.“
„Süßen?“
„Sicher. Mit Zucker.“
Suchend sah Agnes sich um. Marko hatte gesagt, sie saßen meist am Küchentisch, wenn Mama vorlas. Das Buch müsse wohl irgendwo in der Küche sein. Ein grimmig aussehender Pirat mit einem Säbel sei darauf und ein Segelschiff.
Kein Buch zu sehen. Weder mit Pirat noch ohne. Ob Frau Neuhaus es in eine Schublade gelegt hatte?
Schublade auf. Besteck. Nächste. Frühstücksbrettchen, Eieruhr. Nächste. Papierkram. Quittungen vom Supermarkt. Aha, Madame bezahlt mit Karte. Und das? Impfpass von dem Jungen. Und hier?
Ein Foto. Glückliche Familie. Frau Neuhaus mit einem Säugling auf dem Arm. Ein Mann, einen Arm um ihre Schultern gelegt, verliebter Blick. Rötliche Haare.
Agnes spürte, wie das Blut ihr in den Kopf stieg. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass sie bis zum Haaransatz errötet war. Trauring, alle beide.
Weg mit dem Foto! Was ist das?
Gehaltsabrechnung. Arbeitgeber: ein bekanntes amerikanisches Restaurant.
Agnes hatte die jungen Leute reden hören bei ihren seltenen Ausflügen in die Stadt. Nach dem Kino bekam man nirgendwo mehr etwas Essbares, außer dieses ungesunde Zeug bei dem Amerikaner. Die schlossen erst beim Morgengrauen.
Das Papier fiel in die Schublade zurück. Agnes spürte einen Kloß im Hals, der nicht verschwinden wollte. Nur zu die Schublade!
Zu deutlich hatte sie die Zahl am Ende der Abrechnung gesehen. Jupp hatte immer gut verdient. Sie bekam mehr Rente, als Frau Neuhaus mit ihrer nächtlichen Arbeit verdiente! Und davon den Jungen groß ziehen?
Die Spielzeugkiste! Bestimmt war das Buch darin. Nur nicht weiter nachdenken. Nur auf den Piraten konzentrieren.
Das Buch lag auf dem Schreibtisch im Kinderzimmer, gleich neben der angefangenen Hausaufgabe. Agnes griff danach und lief in ihre Wohnung zurück.
„Marko, hast du heute schon was gegessen?“
„Mag nichts.“
„Du musst essen. Wie willst du sonst gesund werden? Ich koche dir Hühnersuppe. Willst du?“
„Keinen Hunger.“
„Das geht ganz schnell. Ich hab Hühnerklein eingefroren. Lies ein paar Minuten alleine, dann komm ich vorlesen.“
Marko nahm das Buch und Agnes verschwand in der Küche.
„Hab ich dich du … du … Fei … Feige … Feigling!“, hörte sie die Kinderstimme und beugte sich über die Gefriertruhe.
Würstchen, nichts für einen kranken Jungen. Da! Nein, ein Schweinebraten. Da war es. Agnes nahm das Paket mit den Hühnerteilen und machte sich an die Arbeit. Als das Suppe kochte, drehte sie die Flamme kleiner und ging ins Wohnzimmer zurück.
Marko reichte ihr das Buch und setzte sich erwartungsvoll zurecht.
„Hab ich dich, du Feigling“, las Agnes, „du entkommst mir nicht! An der höchsten Rah werd ich dich aufknüpfen!“
Ob das nicht zu brutal war für einen Siebenjährigen? Sie äußerte diese Bedenken und erntete einen entrüsteten Blick.
„Ich bin schon acht!“
„Entschuldige. ‚Nein! Gnade! Ich verrate auch, wo der Goldschatz vergraben ist!’ - ‚Zu spät! Ich habe längst die Karte. Der Ort ist genau markiert.’ Marko, ich hab was vergessen. Bin gleich zurück!“
Sie rannte fast in die Küche, riss die Gefriertruhe auf und angelte nach dem Braten. Wenn Frau Neuhaus - Sabrina hieß sie - wenn sie morgen nach Hause kam, würde sie doch Hunger haben. Sabrina freute sich bestimmt, wenn sie nicht kochen musste. Kartoffeln waren schnell geschält und Erbsen, ja die passten perfekt dazu. Die beiden könnten noch mit essen, bevor Sabrina den Jungen wieder hinüber trug.
Der Braten lag auf einem Teller in der Küche zum Auftauen und im Wohnzimmer suchte Kapitän Rotbart nach dem Schatz.