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Diskussionen am Rande
Es ist schon so eine Sache mit Einstein und seinen Theorien. Allen voran natürlich die wohl bekannteste und im Zusammenhang mit diesem außergewöhnlichen Wissenschaftler und Menschen meist erwähnte Relativitätstheorie. Sein berühmtes Buch „Grundzüge der Relativitätstheorie“ enthält eine Vielzahl an revolutionären Annahmen, ist jedoch so anspruchsvoll geschrieben, dass es gerade einmal zehn Physiker weltweit, in seiner ganzen Tragweite verstanden haben. Um den aufkeimenden Fragen ‚Woher hatte der das alles bloß?’ oder ‚Ist der nicht immer schlecht gewesen in der Schule?’ vielleicht auch ‚Der hat doch bestimmt Haarspray benutzt oder?’ eine Antwort anbieten zu können, wird diese kleine Geschichte einen Ausflug machen. Und zwar an den Ort, an dem Albert Einstein dieses Wissen erwarb – möglicherweise.
Es ist nur eine Theorie.
1897, Eidgenössische Polytechnische Schule, Zürich
Es war warm an diesem Dienstag, die Sonne ließ ihre unbändige Kraft mit aller Gewalt durch das Blau des Himmels knallen. Albert stand auf dem Campus der Schule und wischte sich mit einem blütenweißen Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Unter dem Arm klemmten diverse Bücher über Mathematik sowie Physik. Ein Eis wäre jetzt genau das richtige, dachte sich der achtzehnjährige Student. Einige Meter weiter, an einer Ecke, eingezwängt zwischen einer kleinen Bäckerei und einem Schuhgeschäft, befand sich sein Lieblingseiscafé. Albert steckte das Taschentuch in die Hose, kramte seine Uhr hervor, musste jedoch feststellen, dass der alte Wecker stehen geblieben war. Er zuckte mit den Schultern, pfiff ein indolentes ‚Was soll’s, für Eis kann die Zeit ruhig einmal stehen bleiben’ und schlenderte Richtung Café.
Woanders
Jake saß auf seinem Barhocker und studierte aufmerksam die Zeitdatei, welche er sich aus der umfangreichen Zeitenbibliothek herausgesucht hatte, auf einem kleinen Monitor der auf der Theke ausgerollt war. Neben ihm standen eine Flasche Beck’s und ein Aschenbecher mit qualmender Zigarette. Bis auf diesen ausrollbaren Bildschirm war alles recht antiquiert in dieser Bar, aber das mochte Jake.
»Hm…«
Kloppie der Barkeeper schlenderte gerade glasabtrocknend an Jake vorüber und bemerkte die ratlose Stimmungslage seines Stammkunden. Leise quietschte das Trockentuch auf dem Glas und Jake erwachte aus seiner Überlegung.
»Ich weiß nicht…«, murmelte er hervor und stützte die Wange in die rechte Hand.
Kloppie war das gewohnt und somit stellte er, wie jeden Monat, immer wieder dieselbe Frage: »Wasn?«
»Soll ich es ihm jetzt zeigen oder doch lieber erst wenn er zu Hause ist.«
»Tja, also…«
»Aber später denkt er vielleicht noch, es wäre nur ein Traum oder so was.«
»Wie du meinst Jake…«
»Ach, was soll’s. Bei Galilei hat’s auch funktionokelt.«
»Funktionokelt?«
»Wissenschaft, Kloppie. Davon verstehst du nix.«
»Natürlich nicht.« Kloppie stellte das Glas in das Regal und sah Jake dabei missmutig an. Jake hob die Flasche an die Lippen und leerte die Pulle in einem Zug. »Aaahhh.«
»Noch eins?«
»Warte noch bis er hier ist.« Er zückte den elektronischen Superduperzeitdimensionsstift und fing an auf dem Monitor herumzukritzeln.
Zürich
Albert bemerkte nicht, wie der große Wäschereiwagen mitsamt Pferd auf ihn zuraste als er die Straße zum Café überquerte. Allerdings fiel ihm auch nicht auf, dass der Wagen in seiner Bewegung verharrte, genau wie die Menschen auf den Wegen und in ganz Zürich. Sogar die Vögel am Himmel, der die große Buche anpinkelnde Cockerspaniel, der vagabundierende Vagabund oder die kleine, von einem leckenden Hydranten herrührende Pfütze, welche er eben noch elegant umgangen hatte, standen still. Albert nahm nichts von alledem wahr und ging geradewegs auf die Eisdiele zu.
Erwartungsfroh stellte er sich hinter eine Mutter mit anhängendem Fünfjährigen. Der blonde, in einer niedlichen Marineuniform steckende Knirps verhielt sich auffallend ruhig und hielt brav Mamas Hand. Albert hatte nicht viel für das Militär übrig aber wunderte sich doch sehr, warum die Mutter bei diesem fragwürdigen Modetrend mitzog – vor allem hier, in der Schweiz. Leicht irritiert und von ihm gänzlich unbemerkt, wachten seine Augen auf dem Po der Mutti auf; unwillkürlich wanderte sein Blick weiter über die ansehnlichen Beine dieser noch jungen Frau. An den Rockzipfeln sah er keinerlei Bewegung; kein Luftzug versetzte den leichten, hellblauen, mit diversen Blumenmustern verzierten Baumwollstoff in Wallung. Und vorwärts ging es in der Schlange auch nicht. Wieso geht das denn hier nicht weiter, fragte er sich. Albert neigte sich zur Seite um an der Mutter vorbeizuschauen. Er erkannte den Eismann grinsend und Eistüte reichend hinter den kalten Süßspeisen stehen – vollkommen regungslos.
Woanders
»Dann drück ich mal ‚Enter’.«
»Drück mal.«
»Ob der sich auch so einkackt wie die anderen? Was meinst du?«
»Weiß nicht, kann sein. Is mir aber auch egal. Ich bin ja kein Wissenschaftler…« Kloppie nahm das nächste gespülte Glas und fing an, es mit eingeschnapptem Gesichtsausdruck zu trocknen.
»Mann, hier geht’s doch um das Universum und so.«
»Wie jedes Mal. Das ist halt dein Job. Und mein Job ist es Bier zu verkaufen. Was is nu, willste noch eins?«
»Ich drück erst mal ‚Enter’.«
»Jaja, sieh zu.«
Bedächtig legte Jake seinen Zeigefinger auf die Entertaste; eine einzelne Taste, konzipiert für einen einzigen Zweck. Leichter Druck ließ die Taste klickend in die Vertiefung versinken.
Klick.
Zürich, Eiscafé
»Hallo Herr Eisverkäufer, könnten Sie der Dame nun endlich das Eis reichen?«
Nichts regte sich. Albert neigte sich wieder zurück und ließ seinen Blick abermals auf dem wohlgeformten Po ruhen. Dieses Mal vergewisserte er sich jedoch nicht der Schönheit des Gesäßes sondern widmete sich dem Rätsel dieser allgemeinen Starre. Langsam ging er in die Hocke, legte die Bücher auf den Gehsteig und holte die alte Uhr hervor. Sie tickte nicht. Er schüttelte den Zeitmesser und hielt ihn an sein Ohr. Nichts, noch nicht einmal ein leises Klackern oder Rasseln der Zahnrädchen.
Verrückt war er nicht geworden. Es bestand die Möglichkeit, dass die Zeit einfach stehen bleiben könnte – theoretisch.
Zügig steckte er die Uhr zurück in die Tasche, hob die Bücher auf, verharrte einen Moment und wägte die Idee ab, der Mutti unter den Rock zu schauen, ließ es aber sein, schnappte sich die Eistüte aus der Hand des Eisverkäufers und stromerte zu einer Parkbank.
Vor einigen Tagen fing er ein paar Worte einer Unterhaltung dreier Psychologiestudenten auf. Es ging um Realitätsverlust und hypersensible Einbildung und so weiter. Aber das hier war real, auf jeden Fall physikalisch zu begründen. Er war nicht verrückt.
Als sich Albert auf der Bank niederließ, die Bücher neben sich legte und einen Happs vom Pistazieneis nahm, vernahm er ein leises Klicken. Er richtete seinen Blick zur Sonne und fragte sich, was wohl ein Betrachter sehen würde, wenn er sich genau so schnell wie das Licht bewegen würde. Dunkelheit? Er war vollkommen versunken in Allotria und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Die Zeit schien still zu stehen. Die Zeit stand still. Einstein störte das nicht. Er bemerkte nicht einmal, wie sich die Häuser um ihn herum verflüchtigten, die Parkbank langsam im Begriff war zu entschwinden – ganz ruhig saß er da und bestaunte die Sonne.
Woanders
»Und?«, wollte Kloppie wissen, »Kommt er jetzt?«
Jake sog aufgeregt an seiner Zigarette und rutschte nervös auf seinem Hocker umher.
»Ja, gleich ist er hier. Toll was?«
»Fantastisch. Kann der auch bezahlen?«
»Du denkst auch nur an die Mäuse was?«
»Hey, ich hab Frau…«
»…und Kinder. Ist doch klar.« Jake lachte höhnisch. Kloppie drehte sich zum Regal und stellte das Glas an seinen vorbestimmten Platz.
Ein kleiner aber doch recht gleißender Blitz baute sich erhaben neben Jakes Barhocker auf. Einen Moment später saß Albert Einstein am Tresen von Kloppie’s Bar; am Rande des Universums. Einsteins Haare waren durch den Zeit- und Dimensionstransport in einem wirren Durcheinander und vollkommen weiß. Wie bei jedem, dachte Jake.
»Hallo, ich bin Jake und das ist Kloppie, der Barkeeper hier. Du befindest dich am Rande des Universums«, erklärte Jake.
»Und nun?«, fragte Einstein.
»Hehe«, lachte Kloppie und griff sich das nächste nasse Glas um es abzutrocknen.
Jake drehte sich vollends zu Einstein herum, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Du bist am Rande des Universums und ich habe dir viel zu erzählen. Das wirst du nicht glauben…«
»Warum nicht?«
»Es geht um das Universum und all seine Mysterien.«
»Wieso tun Sie so geheimnisvoll? Fangen Sie endlich an zu erzählen, glauben Sie etwa ich bin blöde?«
»Natürlich nicht. Stell mir einfach eine Frage und ich werde sie dir beantworten.«
»Haben wir mal Schweine gezüchtet…?«
»Wie bitte?«
»…oder warum duzen Sie mich?«
Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis Jake und Einstein miteinander warm wurden. Alles eine Frage der Zeit.
»Und das ist also der Rand des Universums – aha.«
»Ja, so toll ist es eigentlich gar nicht, was?«
»Tja…«
»Aber zurück zum Thema…«
»Ja, du sagtest was von Gravitation?«
»Genau. Hast du dir schon mal die Frage gestellt, ob ein Mensch seine eigene Schwere empfinden kann, wenn er sich im freien Fall befindet?«
»Immerwährend!«
»Und ist dir bewusst, dass der Raum nicht unabhängig von der Materie existiert?«
»Die Materie krümmt also den Raum?«
»Genau!«
»Dann fällt der Apfel also nicht aufgrund der Schwerkraft sondern aufgrund der Krümmung des Raumes?«
»Richtig!«
»Pah, Newton hatte doch wirklich keinen blassen Schimmer…«
»Darüber sollten wir diskutieren…«