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Doch zu welchem Preis?

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11.09.2020
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Doch zu welchem Preis?

Der Auslöser für die abrupte Abfolge von jenen Handlungen, welche im weitesten Sinne als normale Morgenroutine gedeutet werden könnten, wenngleich sie sich doch, angesichts der signifikanten Einschränkung des Lebensraumes, wesentlich von selbigen Handlungen auf der Erde unterschieden, war, wie schon so viele Male zuvor, jener gelbe Rasselwecker, welchen Felix schon vor Monaten geschenkt bekommen hatte.
Seit über zwei Jahren befand sich Felix in dem, wie er es nannte, „Canopy“, einer kreisrunden Kuppel, welche, zwanzig Meter unter der Mondoberfläche, zehn Männern und fünf Frauen eine Herberge bot. Die Kuppel war eingeteilt in Kajüten zu je zwei Betten, einem Gemeinschaftswaschraum, welcher unweigerlich voraussetzte, dass jedes Mitglied der Mission eine große Menge an Anpassungsfreude mitbrachte, und einer spärlich eingerichteten Küche, deren Zweck wegen der Tatsache, dass sich im Canopy kein einziges frisches Lebensmittel, sondern nur vakuumverpackte Astronautennahrung befand, durch ein oder zwei Mikrowellen ersetzt hätte werden können. Die Bewohner, allesamt Ingenieure und Kundige in Bezug auf den Mond und dessen Gefahren für den Mensch, konnten diesen stolz ihren Arbeitsplatz nennen.
Zweck ihres Aufenthaltes war die Errichtung eins Mond-Hotels. Ein Unternehmen plante, physisch und psychisch taugliche Gäste, welche bereit sind, mehrere Millionen Euro dafür auszugeben, in Shuttles zu je zehn Mann auf den Erdtrabanten zu transportieren. Wie genau dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt würde, wusste, nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass sie jede Minute ihrer letzten Monate auf der Erde damit verbracht haben, die Pläne der ihnen bevorstehenden Missionen wie besessen zu verinnerlichen, niemand besser als Felix und seine Kompagnons.
Der Kopf dieser Organisation, Dr. Johann Anzinger war ein österreichischer Raketenwissenschaftler, der durch den Verkauf eines Patents auf ein hitzebeständiges Beschichtungsmaterial an ein Stahlwerk in Linz Unmengen an Geld verdiente. Er beschloss, den Großteil seines Vermögens in dieses Unternehmen fließen zu lassen.
Auf Grund dessen konnte man zusehen, wie in einer flachen Region im Osten Österreichs nach und nach ein vierstöckiges Gebäude Form annahm. Kurze Zeit später begann sich direkt dahinter ein Gerüst empor zu räkeln, das starke Ähnlichkeit mit jenem Gebilde aufwies, welches einst Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins den Einstieg in die majestätische „Saturn V“ ermöglichte. Etliche Nächte vergingen, in denen die grellen Schweißarbeiten die umliegenden Felder und Wiesen mit den langgezogenen Schatten ihrer Begrenzungszäune schmückten, weil der getaktete Zeitplan keine Nachtruhe erlaubte.
Schließlich, am 28. Juli 2067, hob die erste Rakete von der neu errichteten österreichischen Cape Canaveral Station ab und wurde in der Mondumlaufbahn stabilisiert. Gefolgt von zwei baugleichen Modellen landete diese sechs Tage später in unmittelbarer Nähe des Apollo-11- Landeplatzes im Mare Tranquillitatis, da es, so vermutete man, wohl am spannendsten sei, von seinem Hotelzimmer aus direkten Blick auf den am Mond zurückgelassenen unteren Teil der Landefähre der ersten Mondlandung und auf die verkümmert im Sand liegende Flagge der USA zu haben, zumal diese historischen Überbleibsel seit hundert Jahren unverändert dem grauen Erscheinungsbild des Mond-Sandes Kontrast boten.
Felix befand sich in keiner der drei Raketen. Er kam erst ein Jahr später in den Genuss, sich Astronaut nennen zu dürfen. Am 22. September 2068 landete er mit neun Kollegen im Meer der Ruhe, welches zu dieser Zeit schon von etlichen Mondfahrzeugen und einem an einen Rohbau erinnernden Gebilde, das in spezieller Weise, nämlich in der generellen Form, der Wiener Hofburg ähnelte, besetzt war.
Wie die irdische Hofburg, hatte auch jene auf dem Mond eine konkave Gebäudeseite. Eine gedachte Linie, sauber symmetrisch austretend aus dieser konkaven Seite, würde nach etwa hundert Metern direkt auf die Stützen der „Eagle“ treffen. Zöge man die Linie exakt in die andere Richtung, so stieße man, nur ein paar Meter entfernt von der hinteren Seite des Rohbaus, auf eine unscheinbar wirkende Luke: Der Eingang zum Canopy. Dort wurde zu jener Zeit der gelbe Rasselwecker, welcher etwa zwei Jahre später routiniert den morgendlichen Ablauf startete, von einem übermüdeten Felix am Nachttisch in seiner Kajüte platziert.

Als er den Wecker an diesem Tag, dem 20. Oktober 2070, mit einem leisen Seufzer abstellte, konnte Felix noch nicht erahnen, welch außergewöhnliche Stunden ihm bevorstehen würden. Er erhob sich, obwohl es für objektive Betrachter wohl nicht so aussah, denn die Gravitation auf dem Mond beträgt etwa nur ein Sechstel der Erdanziehungskraft, träge von seinem schmalen Bett und sein Blick wanderte zu einem weiteren, unmittelbar gegenüberstehenden Bett, in welchem sich ein Mann schlummernd hin und her drehte, als würde er nicht einsehen wollen, dass es an der Zeit war aufzustehen.
Es war Tobias, der Mann, mit dem sich Felix eine Kajüte teilte. Er und Felix kannten sich seit dem Tag ihrer gemeinsamen Ankunft am Mond. Tobias war, so wie Felix, Ingenieur, welcher zu dieser Zeit sein Geld damit verdiente, die von seiner Firma entwickelten Atmosphärendrucksysteme im Hotelgebäude zu installieren.
In letzter Zeit prägten tiefe Augenringe Tobias ́ Gesicht. Felix konnte beobachten, wie dieser im Laufe der letzten Wochen immer antriebsloser, ja fast schon ein wenig depressiv wurde. Darüber reden mochte Tobias nicht, das hatte er bei mehreren Annäherungsversuchen seitens Felix deutlich gemacht. Zudem verbrachte er zunehmend seine freie Zeit damit, sich an seinen Schreibtisch zu setzen und mit einer klobigen Füllfeder Texte in ein ledergebundenes Buch zu kritzeln, anstatt sich - wie gewohnt - mit Felix ihrer gemeinsamen Begeisterung zu widmen, Zeitlupenvideos von dem Mondstaub zu machen, welcher beim Beschleunigungsakt der Mondfahrzeuge in die Höhe gewirbelt wird. Die beiden Freunde interessierten sich nämlich für die exakt parabelförmige Flugbahn, welche jedes der Staubkörner in der dünnen Mondatmosphäre beschreibt.
Während Felix also versuchte, Tobias beim Vorbeigehen mit einem freundschaftlichen Schlag auf den rechten Oberarm zum Aufstehen zu bewegen, konnte er einen kurzen Blick auf dieses Buch auf dem Schreibtisch werfen. Sein Blick verfing sich in den ersten Worten einer Überschrift: „Das Universum und meine Sicht auf jenes, (...)“. Felix dachte nicht weiter darüber nach und bereitete sich auf das morgendliche Meeting vor. Dieses fand im oberen Stock des Canopys statt. Direkt neben der Küche befand sich ein Gemeinschaftszimmer, welches Raum für diese Art von Zusammenkünften bot.
Aus dem Meeting, welches Tobias in den ersten fünf Minuten durch seine verspätete Ankunft unterbrach, ging hervor, dass die beiden Freunde wohl die nächsten Stunden damit verbringen würden, mit einem der zahlreichen Mondfahrzeuge durch den Sand zu fahren. Sie hatten den Auftrag, einen etwa vierzig Kilometer entfernten Antennenmast zu warten. Felix freute sich über diese überraschende Planänderung, denn sie bot einen erfrischenden Kontrast zu den sonst so monotonen Arbeiten, bei denen es zu einem überwiegenden Teil darum ging, die Prototypen der Sauerstofftanks, welche bei baldigem laufenden Betrieb des Hotels mit jeder Gruppe an neuen Gästen auf den Mond befördert würden, an die dafür konzipierten Anschlüsse an der Außenwand des Gebäudes zu schließen, die Computerdiagramme des in den Zimmern herrschenden Drucks auszuwerten und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum diese Diagramme drastischen Schwankungen unterlagen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand mehrere Millionen Euro zahlen würde, um dann in einem Zimmer zu schlafen, in welchem man gezwungen wäre, im Minutentakt durch die zugehaltene Nase auszuatmen, um den Ohrendruck auszugleichen.
An diesem Tag standen andere Probleme im Vordergrund.
Sie machten sich auf den Weg in den sich direkt unter der Luke befindenden Ankleideraum. Dort nahmen sie wie jeden Tag ihre weißen Raumanzüge aus ihren Spinden und zogen die unhandlichen Hosen an, an welchen sich anstelle der Gürtel dicke Stahlringe befanden, mit deren Gegenstücken an den Oberteilen der Anzüge eine dichte Einheit geschaffen wurde. Bei dem komplizierten Akt des Helmaufsetzens hatte sich im Laufe der Zeit eine paarweise Hilfestellung eingebürgert.
Mit einem lauten Klacken schloss sich die hintere Luftschleuse ins Canopy und ein Zischen verriet, dass die verbliebene Luft im Ankleideraum durch die Ventile strömte. Kurze Zeit später öffnete sich die Luke nach außen und die Astronauten kletterten an die Mondoberfläche.

Zu dieser Zeit stand die Sonne hoch über ihren Köpfen und erhitzte ungefiltert die dunkel getönten Helme, sodass Felix schon nach wenigen Minuten entschied, den Knopf an seinem Handgelenk zu betätigen, welcher die Kühlung seines Anzugs aktivierte. Bei diesem eingebauten Mechanismus wurde kaltes Wasser durch Schläuche gepumpt, welche sich enganliegend über den kompletten Körper erstreckten.
Er und Tobias wurden zu dem etwas weiter entfernten Fuhrpark geleitet, in welchem die Mondfahrzeuge untergebracht waren.
Sie studierten über vier Stunden lang die komplexen Handbücher des Fahrzeugs, dann nahm Felix als Erster am rechten Sitz Platz. Man fühlte sich eingesperrt, obwohl das Vehikel kein Dach, nicht einmal Überrollbügel besaß, denn man wurde in den Sitz gepresst und anschließend mit einem Gurt festgezurrt. So hatte man nur die Freiheit, die sich unmittelbar vor der eigenen Nase befindenden Einstellungsmöglichkeiten zu bedienen. Diese beschränkten sich jedoch auf die Steuerung des Greifarmes, welcher sich an der Vorderseite des Fahrzeugs befand und bei dieser Mission keiner Verwendung bedurfte. Die Steuerung des Mondfahrzeuges oblag einem Computer, welcher GPS-Daten von mehreren selenostationären Satelliten, das ist das Pendant zum Konzept der geostationären Satellitensysteme der Erde, auswertete und die Route zum Zielort berechnete.
Nun nahm auch Tobias seinen Platz ein, wurde ebenfalls fest angeschnallt und erinnerte Felix daran, die Funkeinrichtung in den Astronautenhelmen per Knopfdruck mit den Antennen des Fahrzeugs zu koppeln, um während des Einsatzes auch mit dem Canopy in Kontakt bleiben zu können.
Kurze Zeit später setzte sich das Fahrgestell mit einem Ruck in Bewegung und fuhr Richtung Westen, bis sie schließlich eine der sich durch das Verkehrsaufkommen gebildete Reifenspur erreichten, welche geradewegs in Richtung West-Nord-West führte. Diesem Pfad folgten sie etwa zwanzig Kilometer, bis sie an eine Gabelung kamen. Der Computer lotste das Gefährt auf den nach links ausgerichteten Pfad, der sich als wesentlich holpriger erwies.
In jenem Moment, als Felix über Funk scherzhaft kommunizierte, dass die Zentrale dem Computer doch bitte sagen solle, er wolle sich bei der nächsten Ausfahrt erleichtern, richtete Tobias, mit einer beunruhigenden Gelassenheit in seiner Stimme, das Wort an Felix und sagte, er solle sich konzentrieren und den Blick nach vorne richten. Als Felix seinen Anweisungen Folge leistete, überkam ihn ein Gefühl der Hilflosigkeit. Sie fuhren mit konstanten fünfzig Kilometern pro Stunde, gefesselt und fast bewegungsunfähig, auf einen etwa hundert Meter entfernten Kraterwall zu und wussten beide, dass ihr Handeln in den folgenden Sekunden essentiell sein würde, denn für einen Zusammenstoß mit dem groben Geröll am Rand des massiven Walls waren die Astronautenanzüge nicht gerüstet. Zur Koordination diverser Notsituationen wurde vor Beginn der Fahrt die Arbeitsaufteilung zwischen den beiden Astronauten festgelegt und so kam es, dass sich Tobias im nächsten Augenblick mit dem Canopy in Verbindung setzte, während Felix mit routiniert wirkenden Handgriffen die manuelle Steuerung des Fahrzeugs aktivierte. Er riss den Steuerknüppel mit aller Kraft nach rechts. Die Vorderreifen gruben sich durch die abrupte Änderung ihrer Ausrichtung in den Sand. Zum Bremsen blieb keine Zeit. Sie kippten nach links über. Die Zeit des Unfalls, in der das Fahrzeug keinen Kontakt zum Boden hatte, war deutlich länger als bei vergleichbaren Unfällen im Schwere-Feld der Erde. Felix sah in dem Moment nach links, als der Helm seines Freundes durch die Wucht des Aufpralls barst.

-Auszug aus Tobias ́ Tagebuch:
-Eintrag vom 13.10.2070 -22:00 UTC
-0° 40 ́ 26 ́ ́N, 23° 28 ́ 22 ́ ́O

Das Universum und meine Sicht auf jenes, welchem es egal ist, ob wir hier sind oder nicht:

So manch einem beliebt es nicht, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, welch unvorstellbare Geheimnisse wohl hinter den Gestirnen, denen, welche man sähe, wenn man sein Haupt nach oben richte, vorzugsweise nachts, stecken.
Manch einer kümmert sich nicht im Geringsten um solch unbeeinflussbare Materie. Sieht doch jede Nacht präzise gleich aus. Nur hie und da mal eine örtliche Änderung von ein oder zwei Lichtpunkten.
Dem Mond hingegen wird schon das ein oder andere Mal Aufmerksamkeit geschenkt. Er kann jedoch froh sein, wenn ihm diese Aufmerksamkeit zuteil wird - seiner Schönheit - und nicht seiner zu hohen Emission des Sonnenlichtes wegen. Darauf hat er genauso viel Einfluss wie dieser „So manch einer“, welcher mit gesenktem Kopf durch die Nacht spaziert, auf die Gestirne. Dies rührt wahrscheinlich daher, dass jede Dimension, welche in Zusammenhang mit dem nicht Irdischen genannt wird, so fern von jeder Vorstellung ist und dahingehend auch nicht heruntergebrochen werden kann auf Dimensionen, welche uns im Alltag berühren.
Wieso hat man keine Höhenangst nach oben? Es ist doch sonderlich erschreckend, wenn man bedenkt, dass da weit und breit nichts ist, was einen auffinge, flöge man ungebremst gen Himmel. So betrachte man die Berge in der Ferne des sich auf die Erde begrenzenden Sichtfeldes. Sie sind unsagbar massiv, undenkbar majestätisch. Dennoch sind sie geradezu nichts, stelle man den Vergleich zwischen ihnen und den nahegelegenen Himmelskörpen an.
Man könnte dreihundertsiebzehn Erden gegen den Jupiter aufwiegen, es würde erst eine mehr die Waage zum Kippen bringen. Zudem sind wir Gefangene im Potentialtopf unserer Sonne. Wir sind die rollende Münze, welche das Kind in den Münztrichter wirft, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass unsere Münz-Erde wohl nur auf einem gedachten Untergrund rollt, wären wir doch sonst schon längst verglüht.
Der blasse Nebel, welcher unseren Nachthimmel schmückt, vom Skorpion bis zum Sohn des Zeus, ist unsere Galaxie, die Milchstraße. Wir sehen sie dabei wie eine Schattenprojektion in Seitenansicht. Das galaktische Höhlengleichnis nach Platon, wenn man so möchte. Wer würde
denn darauf kommen, dass es sich tatsächlich um eine spiralförmige Ansammlung von Kernfusionsreaktoren verschiedenster Art handle?
Bemühe man sein Haupt gen „Schütze“, so sähe man dessen Baryzentrum, ein noch viel seltsameres Gebilde massereicher Materie: Sagittarius A*. Man bräuchte mehr als 4 Millionen Sonnen, müsste diese dann kollidieren lassen und sollte möglichst nicht in der Nähe sein, um etwas zu erzeugen, das diesem Koloss gleicht. So flitzt diese eigenartige Sternenansammlung durch den Raum, doch wer der Meinung ist, die geschätzten zweihundert Milliarden Sterne der Milchstraße mit ihren vielfältigen Systemen gashaltiger und aus Gestein bestehender Trabanten wäre das, was wir im Volksmund Universum nennen, hat noch zu verstehen, dass es, Schätzungen zufolge zweihundert Billionen Galaxien gibt. Im Mittel sogar größer als unsere Milchstraße. Man muss dem Rechnen mit Zehnerpotenzen schon Herr sein, um auf die gigantische Zahl der Sterne zu kommen, welche unsere schlauesten Köpfe als Anhaltspunkt erahnen.
Als letzte Anmerkung sei darauf hingewiesen, zumal man noch keine bessere Erklärung für die Expansion des Universums gefunden hat, dass das Universum einst nur einen winzigen Punkt ausmachte.
Blicke man hundert Jahre in die Vergangenheit, könne man die Menschen dabei betrachten, wie sie bei ihren ersten Reisen ans Meer ein Lächeln im Gesicht hatten, welches man heute versucht zu erreichen, indem man die Grenzen des Möglichen immer weiter in den endlos wirkenden Raum des Unmöglichen drängt. Doch zu welchem Preis?

 

Hi @gepingerhauns

Und willkommen im Wortkriegerland! :herz:

Ich sage einmal voraus, und sorry, dass ich da so mit der Tür ins Haus falle, dass Du mit diesem Text nicht viele LeserInnen finden wirst. Mich zumindest hast Du nicht gewonnen. Das beginnt (und endet auch schon) mit dem ersten Satz:

Der Auslöser für die abrupte Abfolge von jenen Handlungen, welche im weitesten Sinne als normale Morgenroutine gedeutet werden könnten, wenngleich sie sich doch, angesichts der signifikanten Einschränkung des Lebensraumes, wesentlich von selbigen Handlungen auf der Erde unterschieden, war, wie schon so viele Male zuvor, jener gelbe Rasselwecker, welchen Felix schon vor Monaten geschenkt bekommen hatte.

Der ist natürlich krass lang. Und stilistisch ein ... schwieriger erster Satz. Er beginnt mit einer Nominalklammer:

Der Auslöser für die abrupte Abfolge von jenen Handlungen

Generell scheinst Du einen sehr starken Nominalstil zu pflegen. Außerhalb vom literarischen Schreiben ist dieser auch häufig verbreitet. Ich komme aus der Wissenschaft, da nutzen wir den (einzigen) Vorteil des Nominalstils: Er ist verdammt passiv. Und da in der Wissenschaft niemand aktiv handelnd im Vordergrund stehen soll, schleicht sich Nominalstil häufig unweigerlich ein.

Im literarischen Schreiben aber ist die Passivität nicht von Vorteil: Ich habe hier die ersten neun Wörter Deines Textes gelesen, und es hat sich noch kein Bild vor meinem inneren Auge entfaltet. Dabei lese ich doch Literatur, gerade Science Fiction, um in fremde Welten abzutauchen, sie zu sehen, zu erleben.

Der erste Satz, die ersten Wörter, müssen die Lesenden in die Handlung ziehen. Noch ist die Geschichte für mich eine Blackbox, ich weiß nicht, welche Welt sich hier verbirgt. Und Du hast viel Konkurrenz - gerade im Internet. Du musst jetzt sofort den Haken ausfahren und mich in Deine Welt ziehen. Mit neun Wörtern Nominalstil wird Dir das nicht gelingen. Du musst Deine Welt sofort vor meinem inneren Auge entfalten, und das erreichst Du mit Handlung. Stell mir Deinen Prot vor und lass ihn etwas tun, benutze kräftige Verben wie "aufspringen" statt blutleerer Nomen wie "Auslöser" und "Abfolge". Schließlich geht's hier eigentlich nur darum, dass jemand aufwacht.

welche im weitesten Sinne als normale Morgenroutine gedeutet werden könnten

Ich verstehe die Verwendung von "welche" hier nicht. Es ist länger und ungebräuchlicher als "das". Warum ziehst Du es vor? Damit der Satz noch umständlicher klingt? So, und nun entfaltet sich immer noch kein Bild vor meinem inneren Auge. Nur Routine. Gähn. Das catcht mich nicht, sorry.

wenngleich sie sich doch, angesichts der signifikanten Einschränkung des Lebensraumes

Du deutest jetzt an, dass es einen Raum gibt, aha, fast ein Bild. Ein signifikant eingeschränkter Lebensraum. Aber ohne dass ich Deinen Prot kenne, was soll ich mir da vorstellen? Ein Terrarium? Ist Dein Prot ein Frosch? Vielleicht. Ich weiß es nicht. Und so entsteht immer noch kein Bild vor meinem inneren Auge. Dabei bin ich doch dafür hier. Langsam werde ich als Leserin ungeduldig.

Ich höre mal hier auf: You get the idea. Du verbrauchst extrem viel Energie darauf, völlig bild- und fleischlos zu erklären, dass ein Wecker klingelt.

Ich habe eine Freundin, die etwas Verblüffendes (aber sehr Hilfreiches) über das literarische Schreiben sagt: Unsere Aufgabe ist nicht, uns besonders besonders auszudrücken. Unsere Aufgabe ist, mit Wörtern Bilder zu erzeugen. Das ist das, was die LeserInnen wollen. Sie wollen sich nicht durch Bandwurmsätze quälen, sondern in fremde Welten abtauchen, mit Charakteren mitfiebern, etwas erleben. Und ich hoffe, dass das auch Dein Ziel ist.

Ich hoffe, meine Worte erschlagen Dich nicht einfach, sondern Du kannst daraus auch etwas mitnehmen. Ich bin gespannt, was Du draus machen kannst. Make it work!

Cheers,
Teddy

PS: Vielleicht hilft es Dir, Dich im Forum ein wenig umzuschauen und auch Kommentare zu anderen Geschichten zu schreiben. Dein Lese-Auge zu stärken, kann Dir helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie andere Deine Geschichten lesen werden.

 

Hallo @gepingerhauns

und willkommen bei den Wortkriegern.

Science Fiction mag ich.
Bei Netflix schaue ich mir diese Filme immer als erstes an.
Das nur als Hintergrund für meine Erwartungen an SF-Storys. ;)

Deine SF-Story startet so:

Der Auslöser für die abrupte Abfolge von jenen Handlungen, welche im weitesten Sinne als normale Morgenroutine gedeutet werden könnten, wenngleich sie sich doch, angesichts der signifikanten Einschränkung des Lebensraumes, wesentlich von selbigen Handlungen auf der Erde unterschieden, war, wie schon so viele Male zuvor, jener gelbe Rasselwecker, welchen Felix schon vor Monaten geschenkt bekommen hatte.
Kennst du hier bei uns Wortkriegern schon den Thread über die "schönsten/besten ersten Sätze" einer Geschichte?
Also ich würde diesen Satz oben nicht dafür nominieren. :Pfeif:

Mein Kommentar geht in die gleiche/ähnliche Richtung wie der von @TeddyMaria, so dass ich gar nicht so viel wiederholen möchte.
Wissenschaftlicher Stil wurde erwähnt - sehe ich genauso.

Hier ein paar Beispiel-Formulierungen ("Beamtendeutsch"), die m.E. doch stark überarbeitungswürdig sind, die in einer mit Spannung gekennzeichneten Story nichts zu suchen haben.

deren Zweck wegen der Tatsache, dass sich im Canopy kein einziges frisches Lebensmittel, sondern nur vakuumverpackte Astronautennahrung befand,
nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass
Auf Grund dessen konnte man

Apollo-11- Landeplatzes
Kein Leerzeichen vor Landeplatzes.
Richtiger wäre zudem: Apollo 11-Landeplatzes.

Felix befand sich in keiner der drei Raketen. Er kam erst ein Jahr später in den Genuss, sich Astronaut nennen zu dürfen. Am 22. September 2068 landete er mit neun Kollegen im Meer der Ruhe, welches zu dieser Zeit schon von etlichen Mondfahrzeugen und einem an einen Rohbau erinnernden Gebilde, das in spezieller Weise, nämlich in der generellen Form, der Wiener Hofburg ähnelte, besetzt war.
Dieser Teil ist reines Tell. Keine Szenen, kein Hineintauchen in die Story, keine Identifikation, kein Mitfiebern.

Ich empfehle dir auch, dich hier umzuschauen, mitzulesen, mitzukommentieren.

Viel Spaß hier und
gute Grüße, GoMusic

 

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