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Dogs in the Cradle
„Like a true nature's child,
We were born, born to be wild,
We can climb so high,
I never wanna die“
Steppenwolf, „Born to be wild“
Immer noch hörte er die Menge in seinen Ohren kreischen, sah die Lichter der Bühnenshow über seine Netzhaut flackern und spürte seinen Körper die wilden Posen vollführen, während er mit E-Gitarre und Gesang das ganze Stadion in einen ihm bedingungslos hörigen Hexenkessel verwandelte. Nur am Rande war Will bewusst, dass sie sich wieder backstage befanden.
Er saß auf einem der abgenutzten Ledersessel, und der kniehohe Tisch inmitten der Sitzgruppe war vollgestellt mit Bierflaschen und Schnapsgläsern. Der Raum roch nach Zigarettenqualm und Männerschweiß.
Eddy, der Drummer, verteilte eine neue Runde Wodka, natürlich veredelt mit einer speziellen Wunderdroge aus Mexiko, wie er sagte. Nebenbei zog sich jeder aus der Band genüsslich eine Line in die Nase, und die nächste folgte bald. Hinter ihnen hing das große Tourplakat, das in aggressiven Buchstaben jedem kundtat, wer das neue Flaggschiff der Jugendrebellion war: CERBERUS!
Will hatte wieder dieses Feeling, und er würde alles tun, um es für den Rest seines Lebens beizubehalten. Er fühlte sich wie der Gott des Rock'n'Roll, die Bühne war sein Olymp, und seine Jungs waren die Titanen.
Er hatte es endlich geschafft.
„Das war die geilste Across-the-US-Tour, die wir je gebracht haben!“ hörte er Slizzy, den Rhythmusgitarristen, sagen.
„Und unsere erste!“, gab Muff, der Bassist, zurück.
„Bin fast traurig, dass wir wieder heimgehen, obwohl ich diese scheiß Fliegerei ums Verrecken hasse. Hey, Will, du warst mal wieder der Hammer, du alte Frontsau!“
Will entfleuchte ein selbstzufriedenes Lachen. Eddy reichte ihm das nächste Glas Wodka. „Jetzt werden wir uns erstmal die nächsten drei Wochen lang zusaufen. Prost!“
Als Will den Inhalt des Glases in seine Gurgel stürzte, war er sich sicher, dass der Rock'n'Roll in seinem Leben niemals enden werde. Um diese Sicherheit nicht abgleiten zu lassen, legte er sich sofort eine neue Koksline und beförderte sie mit einem kräftigen Sog in sich hinein.
Er legte den Kopf zurück, schob sich mit den Händen das rote Stirntuch nach hinten in seine blonde Langhaarmähne und streckte die Beine nach vorn.
Clark zupfte langsam eines der Lieder aus ihrer Anfangszeit auf seiner E-Gitarre. Er hatte die Gitarre nicht angeschlossen. Das lag entweder daran, dass er jetzt entspannen wollte, oder an seinem schon fortgeschrittenen Rauschzustand.
Egal, so ließ es sich auf jeden Fall gut im Geiste durch alte Zeiten schwadronieren. Das Lied gehörte zu ihrem Repertoire, als sie vor mehr als fünf Jahren ihren ersten eigenen Proberaum in Frisco hatten und den ganzen Tag damit zubrachten, einen eigenen Sound zu kreieren. Dabei kamen Erinnerungen zurück an die ersten Demoaufnahmen und an Auftritte in stickigen Kellerbars.
Und natürlich an „Dogs in the Cradle“.
Wo wäre er heute nur ohne diesen fantastischen Song? Sicher wäre alles ganz anders gekommen.
Will schloss die Augen und ließ Koks, Wunderdroge und Melodie auf sich wirken. Ihm war, als würde er durch seinen Kopf hindurch nach unten in einen unendlichen, schwerelosen Raum fallen, doch es war kein Sturz wie in einem Alptraum, nein, es war wie auf einer Achterbahnfahrt. Er liebte Achterbahn. Er sah sich in einem Jahrmarktswagen einen Buckel hochrattern. Der Wagen drosselte kurz die Geschwindigkeit, und raste dann hinab in ein buntes Meer aus Neonlicht. Will saß nun nicht mehr im Wagen, sondern glitt frei durch den Raum. Im Meer aus Licht stiegen Schwaden aus hellblauem Dunst auf, und er hielt ungebremst darauf zu. Aus dem Nebel brach eine erleuchtete Bühne hervor, umgeben von einer wallenden, homogenen Masse. Die Masse warf tausend Arme zugleich im hypnotischen Rhythmus eines Schlagzeugs in die Luft, um den Götzen auf der Bühne zu huldigen, und das waren Cerberus, seine Jungs.
Dann sah er ein Ebenbild seiner selbst vorne auf der Bühne stehen, im Zentrum des Lichts und der gewaltigen Gitarrenriffs, gleich der Gestalt eines singenden Superhelden, dessen Stimme das Firmament zum erbeben brachte.
Und die Jünger vor der Bühne riefen alle einen Namen im Chor, und es war sein Name: Will Rosebud!
Als er sich selbst immer näher kam, und gerade in sein eigenes Ebenbild hineingleiten wollte, riss ihn ein Klaps zurück in die Realität. Er machte die Augen auf.
Frank, der Tourmanager und zudem sein engster Freund, hatte den Raum betreten und Will kumpelhaft auf den Oberarm geklopft.
Vom Rest der Band wurde er mit erhobenen Bierflaschen und übermütigem Gegröle begrüßt.
Und Frank war nicht allein. Hinter ihm standen mehrere junge Damen, aufreizend gekleidet und von Frank zuvor sicher großzügig bezahlt, damit sie mit ihm hierher kommen würden. Franks loderndschwarze Augen blickten sichtlich stolz in die Runde, und das breite Grinsen unter seinem schwarzen Zottelhaar ließ wortlos verlauten: Gut gemacht Jungs! Ich habe euch wirklich zu einem grandiosen Act erzogen! Der dunkle Anzug, den er sich seit ihrem Durchbruch stets über seinen von oben bis unten tätowierten Rockerkörper stülpte, verlieh seinem sonst eher verwegenen Aussehen eine fast schon elegante Seriosität.
Schließlich sagte er: „Leute, ihr habt gerockt ohne Ende, nicht nur heute, sondern auf der ganzen Tour! Und da ihr schon am Feiern seid, habe ich euch eine kleine Belohnung mitgebracht!“
Er bedeutete den Damen, vorzutreten.
Die Jungs krakeelten Beifall. Zwinkernd erklärte er: „Hier, um den Abend abzurunden! Habt ihr euch ja mehr als verdient! Aber hey, tut mir bitte einen Gefallen: Nehmt euren Alkohol und die Drogen, und verdrückt euch mit den Mädels in den Bus, wo euch keiner sehen kann. Ich will nicht schon wieder für die halbe Band Kaution zahlen müssen!“
Noch bevor sich alle seine Kumpels aus dem Zimmer geschleppt hatten, zog Will seinen alten Buddy am Anzugärmel. Seine beschwipste Zunge zeigte schon erste Anzeichen von Trägheit:
„U-und für mich?! Hast du keine für mich?“
Tatsächlich hatte Frank nur vier Frauen auf fünf Bandmitglieder verteilt, und Will war dabei leer ausgegangen. Frank beugte sich zu seinem Spezi hinab und sagte in leisem Ton:
„Hör mal, Will, ich habe etwas anderes für dich. Etwas viel besseres. Ich wollte es den andern bloß nicht auf die Nase binden, denn es ist nur für dich gedacht.“
„Hmm??“
Will verstand nicht. Es war normalerweise nicht Franks Art, in solchen Rätseln zu sprechen.
Außer, er führte etwas im Schilde...
Er sah Frank fragend an.
„Nur für mich? Was denn?“
Frank zwinkerte verschwörerisch. Er drehte sich kurz zur Seite, da wurde Wills sowieso schon verringerte Aufmerksamkeit von einem Reiz auf seiner Hand abgelenkt. Er sah eine Fliege auf seinem Handrücken sitzen, eine dicke schwarze. Und kaum, dass er sie mit einem beiläufigen Schütteln verscheucht hatte und er wieder hoch blickte, hielt Frank mit einem Mal ein silbernes Tablett in der Hand, abgedeckt mit einer ebenfalls silbernen Glocke.
Will stutzte.
Es kam ihm vor, als hätte Frank das Ding einfach aus der leeren Luft gegriffen. Mannomann, er musste wirklich schon ganz gut beieinander sein, dachte er. Auch gut. Er inspizierte die Glocke.
„Das ist dein Geschenk, Will. Ich hab' schon lange darauf gewartet, es dir überreichen zu können!“
„Ja, dann gib her!“, verlangte Will ungeduldig.
Frank lüftete die Glocke, und hielt ihm das offene Tablett unter die Nase. Darauf befand sich ein Heroinbesteck mit Spritze, Löffel und allem, was sonst noch für einen guten Schuss vonnöten ist, und daneben lag ein Plastikbeutelchen mit Stoff. Eigentlich ein gewohnter Anblick für Will, doch dieser wich von der üblichen Konstellation ab. Und nicht nur, weil alles auf einem Silbertablett serviert wurde. Spritze und Löffel waren blitzblank und versilbert, und die Heroinportion war wohl die prallste und üppigste, die er in seiner bisherigen Drogenkarriere je zu Gesicht bekommen hatte. Es machte irgendwie den Eindruck, als sei alles für einen besonderen Festakt hergerichtet worden.
„Wow“, staunte Will nach einer kurzen Pause, „Wo hast du... wo hast du das denn her?“
„Das habe ich schon länger für dich reserviert. Los, greif zu, das ist der reinste Stoff, den du in dieser Welt überhaupt kriegen kannst!“
Kaum, dass Frank das gesagt hatte, hatte Will sich auch schon so gut er konnte aus dem Lederpolster gehievt und ihm das Tablett aus den Händen genommen. Er ließ sich zurückplumsen und rührte freudig die erste Dosis an.
Als er sich mit schon leicht zittrigen Händen den Arm abband, spürte er auf einmal ein penetrantes Kitzeln in seinem rechten Nasenloch, so als hätte sich etwas in seinen Nasenhaaren verfangen.
Reflexartig schüttelte er den Kopf. Die Fliege, die diesmal mitten in seinem Gesicht gelandet war, summte wieder davon. Oder vielleicht war es eine andere als vorhin, das Vieh kam ihm diesmal nämlich noch fetter und hässlicher vor.
Wen stört's. Jetzt drückte er sich erst einmal voller Genuss die Kanüle in die Vene und schloss langsam die Augen.
Die Wirkung trat unmittelbar ein. Der Stoff war wirklich ein Spitzenzeug. Gleich musste es wieder kommen, das einmalige Feeling, er spürte es schon heranrollen. Aber nicht als Achterbahnwagen, nein, dieses Mal war es schon ein ganzer Güterzug. Und dieser Zug transportierte Fracht in Form der göttlichsten Musik, die je von Menschenhand gespielt wurde: Und zwar den Veitstanz von rasenden Fingern über Stahlsaiten, deren elektrisch verstärktes Aufbäumen sich bis zum Himmelszelt empor schwang.
Nur war ihm der Zug noch nicht schwer genug beladen.
Es war doch so viel Stoff da, wieso also nicht gleich noch einen zweiten Schuss hinterherschieben? Er tat es, und er fühlte wieder die Erde beben. Gleich, gleich würde er wieder diesen sagenhaften Höhepunkt erreichen, wie bei einem übermenschlichen Orgasmus.
„Weißt du, womit du dir das verdient hast, mein alter Freund?“
Will öffnete ein Auge zu einem dünnen Schlitz.
„J... jetz' nix sagen, Frank, kl- klar?“
In Franks Stimme lag ein merkwürdiger Unterton, der diesen großartigen Moment irgendwie ins Straucheln zu bringen drohte. In jeder anderen Lage hätte Will sofort nachgehakt, aber nicht jetzt.
„Verzeih mir. Natürlich sollst du erst mal auf deine Kosten kommen...“
Hör nicht hin, dachte Will, konzentrier' dich auf das Lichtermeer und die Gitarrenriffs!
„...bevor ich auf meine Komme!“
Wie bitte? Was hatte Frank da gerade geflüstert?
Der Zugführer trat unvermittelt in die Bremsen, und der Gitarrist auf dem Waggon wurde nach vorne geschleudert..
So redete Frank doch normal nicht!
„Samma, Frank, is' was los mit dir?“
Frank beugte sich zu ihm herab. „Jetzt entspann dich, Billy-Boy! Genieß den Stoff!“
„Du... du hast grad was von K-Kosten gesagt... Was für Kosten?!“
„Nun ja, wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe etwas Geschäftliches mit dir zu regeln.“
Der Güterzug stand jetzt endgültig auf Nothalt. Will glotzte Frank aus hohlen Augen an.
„Ja, erinnerst du denn dich nicht mehr an unsere kleine Abmachung, Willy?“
„Hä??“ Will verstand nicht.
Frank richtete sich auf und machte eine ausholende Geste.
„Damals, vor einigen Jahren, als du mich zum ersten mal trafst, weißt du noch, wie es da um dich gestanden hat?“
Will schwieg verständnislos.
Damals...
„Der Mensch, der du warst, wohnte mit Ende zwanzig noch immer bei Mutti und Vati im christilich-puritanischen Elternhaus, trank keinen Alkohol, rauchte nicht, fluchte nicht, und hatte nicht die geringste Ahnung von Frauen. Er wischte einmal täglich den Staub vom Rahmen der Sonnenblumenbilder, die in seinem kleinen Dachzimmer hingen. Seine einzigen Hobbys waren Kronkorkensammeln, mit der Familie Fernsehshows anschauen und mit seinen einzigen beiden Freunden einmal die Woche den Sonnenuntergang von der Veranda aus zu beobachten.“
In Will keimten lang totgeglaubte Eindrücke auf.
Doch musste er sich zunächst heftig am Hemdärmel kratzen, denn darunter kitzelte ihn irgendetwas.
Frank trat wieder näher an Wills Sessel und fixierte dessen dumpfen Blick mit seinem funkelnden.
Will empfand die Szene als immer unwirklicher. War das eine Rauschhallu? Wenn ja, dann garantiert die derbste, die er bis dato gehabt hatte...
„Du hast es verdrängt, dein altes Leben... So, wie du damals deine wahre Natur verdrängt hast, als du noch dieser Langweiler warst... Wie ein Steppenwolf, den man zu einem kleinen, zahmen Pudel umerzogen hatte. Erinnerst du dich, Will?“
Er erinnerte sich.
Und musste sich wieder kratzen. Diesmal am Bauch.
Er legte das Tablett beiseite und zog das T-Shirt nach oben. Er erschauerte: Um seinen Nabel krabbelte eine Schar kleiner, aber äußerst agiler Ameisen!
Während er die ekligen Viecher hastig runterzufegen versuchte, sagte Frank:
„Du hattest es schon dein ganzes Leben lang vermisst, dieses Gefühl. Obwohl du es noch nie erlebt hattest. Tief in deiner Seele wusstest du aber, dass es irgendwo da draußen war. Dieses Gefühl, keine Grenzen außer dem Horizont zu kennen. Du hast es stark herbeigesehnt, und noch stärker unterdrückt. Bis ich kam.“
Will hatte seinen Nabel von den Krabbeltieren befreit und fühlte seine Erregung und die immer stärker werdende Gleichgültigkeit des Rausches gegeneinander ankämpfen. Der Stoff entfaltete allmählich seine volle Wirkung, und langsam begann es, in seinem Kopf zu schwirren. Er war im Moment nicht fähig zu antworten.
Wieder brummte eine Fliege vor seiner Nase.
Sie landete dicht unter seinem linken Auge. Im selben Moment kroch etwas aus seinem rechten Ohr. Ungelenk fuchtelte er um sich.
„Ich weiß noch genau, wie du an jenem Abend einmal mehr mit deiner Soda in der Hand auf dem Verandastuhl gesessen hast, deine schweigsamen Kumpels neben dir, und dich der Sonnenuntergang zum ersten mal bewusst anwiderte. In diesem einen Augenblick machte sich ein Hilfeschrei aus deinem Innern frei. Er kämpfte sich seinen Weg von deinem Bauch nach oben, aber als er endlich aus deinem Mund ins Freie drang, war er nur noch ein erstickter Seufzer. Doch ich habe ihn gehört, diesen Schrei. Und ich kam und half dir.“
Das Schwirren in Wills Kopf wurde immer stärker, aber vernahm er da nicht noch ein anderes Schwirren von außerhalb?
Er sah mehrere große Fliegen um sein Gesicht kreisen. Wo kamen diese Mistviecher nur plötzlich alle her? Verströmte er etwa Leichengeruch oder was??
Da spürte er ein Kribbeln unter seinem Hosenbund. Er sah zwei hektisch wackelnde Fühler unter dem Jeansrand herumwackeln. Eine Ameise lugte hervor. Dann noch eine. Und eine weitere.
Als Will sich hochwuchtete, um seine Tallie abzuklopfen, wurde ihm schwarz vor Augen, und er ließ sich sofort wieder in seine Ausgangslage zurückfallen. Ein drückender Kopfschmerz bahnte sich einen Weg durch seinen hinteren Schädelbereich.
Wie eine Fiebervision sah er Franks Silhouette vor sich auf und ab gehen. Dessen Stimme hallte jetzt wie gedämpftes Gurgeln:
„Erst habe ich mich mit deinen beiden etwas zugänglicheren Kumpels angefreundet und dann mit dir, bis wir schließlich immer zu viert ins Abendrot starrten. Und als ich dich mit meinen Geschichten aus meinem vermeintlichen früheren Leben- du weißt schon, meine Motorradtouren durch den Mittleren Westen, meine Abenteuer entlang der Panamericana und der ganze Kram- ein bisschen hellhörig gemacht hatte, da hattest du den ersten Schwips deines Lebens. Weißt du noch? Das war kein Zufall, denn ich hatte deine Soda heimlich mit einem äußerst delikaten Wässerchen präpariert. An diesem Tag waren wir nur zu zweit, und da begannst du endlich, mir dein Herz auszuschütten.“
Bei dem Wort „schütten“ überkam Will schlagartig Übelkeit, weil es ihn an Erbrechen erinnerte.
Er rang mit sich, ob er sich gleich hier übergeben sollte, da kam erneut eine Ablenkung: Wieder ein Kitzeln, diesmal noch stärker und in der rechten Achselhöhle, und gleich darauf in der linken. Und immer noch das aufdringliche Brummen der Fliegen. Er zog einen Hemdärmel hoch, um unter seinen Arm zu blicken, als sich ihm schlagartig die Nackenhaare aufstellten: Vier oder fünf Ameisenstraßen bohrten sich unter seiner Haut hervor, und genauso auf der anderen Seite! In Panik wollte er sich hochreißen, doch der Raum begann eine rabiate Karrusselfahrt. Der Boden drehte sich zur Decke und umgekehrt, dann alles wieder zurück und wieder von vorn. Ein mattes „Aaaah...“ war der einzige Laut, den Will gerade noch artikulieren konnte. Alles flimmerte, und noch während er zu stehen glaubte, schlug er hart der Länge nach über den niedrigen Tisch.
Bierflaschen klirrten, Gläser fielen herunter und zersprangen. Ihm schmerzte es irgendwo, er konnte aber nicht sagen, ob es eine Scherbe war, die vielleicht in seinem Bauch steckte. Etwas Brummendes landete in seiner linken Ohrmuschel. Flüssigkeit troff ihm aus dem offenen Mund.
„Sagte ich doch, dass der Stoff einsame Klasse ist, nicht wahr, Billy-Boy“, kam ein neckischer Kommentar aus Franks Richtung.
„Vielleicht fällt dir dann auch gleich wieder unsere Abmachung ein, jetzt, da du einen höheren Bewusstseinszustand erreicht hast. So wie damals, an diesem Frühsommerabend, in deinem Dachzimmer. Nur mit dir, mir, und deinem Schwips. Und du sagtest plötzlich, es würde alles keinen Sinn mehr machen. Und wie leer und ausgehöhlt du dich fühlen würdest. Und dass dich alles ankotzen würde.“
Kotzen! Jetzt konnte es Will nicht mehr zurückhalten.
Eine unappetitliche Lache überflutete den Tisch. Sofort wurde der Mageninhalt von einigen Fliegen angesteuert. Und das Wuseln unter seinen Armen wurde noch stärker. Auch begann sich jetzt etwas in seinen Haaren zu winden...
„...Und das war der Tag, an dem du mit mir diese Vereinbarung eingegangen bist: Du wolltest ein neues Leben, und ich erklärte mich bereit, dich mitzunehmen, in die große, richtige Welt, mit all ihren Abenteuern, ihrer Leidenschaft und ihrem Schmutz. Ich brachte dir bei, auf die Musik in deinem Inneren zu hören und sie auf der Gitarre nach außen zu locken!“
Will fühlte, wie ihn jemand von hinten ergriff und wieder aufrichtete.
„Hier, erfrisch dich mal.“
Er sah Franks Hand vor seinem Gesicht schweben, ein Wodkaglas haltend. Die Hand führte es an seinen Mund, er nahm drei kräftige Schlucke. Dann wurde er wieder in den Sessel gelegt. Es ging ihm nun ein klein wenig besser, sein Herz schlug wieder ruhiger.
Nach einigen tiefen Atemzügen kam auch Wills Sprache zurück:
„Ich... du... du spinnst ja total... ich... hab nie mit dir was abgemacht... nie, Frank... echt...“
Franks Hand tätschelte seine Schulter.
„Du hast vielleicht nie etwas unterschrieben, aber was habe ich dich in all den Jahren gelehrt? Die einzigen Regeln, nach denen man spielen sollte, sind die eigenen. Nun ja, und nach meinen Regeln braucht man keine Unterschrift, um einen Vertrag abzuschließen. Ein ehrlicher, leidenschaftlich verspürter Wunsch genügt. Sei froh, dass ich nicht mehr wie früher schriftliche Dokumente aufsetze und meine Partner mit dem eigenen Blut unterzeichnen lasse!“
Will hustete als Zeichen des Protestes.
Frank winkte ab: „Erzähl mir nicht, du wüsstest von nichts mehr. Dir war deine Situation bewusster denn je. Und komm mir jetzt bloß nicht mit Sachen wie dass ich dich vorher nicht über meine Entlohnung aufgeklärt habe! Wir haben doch dutzendweise Leute übers Ohr gehauen, als wir in den Folgejahren darauf durch Land getingelt sind. Da hast du es nicht anders gemacht mit diesen ganzen Trotteln!“
„Was... willst... du... zum... Teufel?“
Frank lachte amüsiert.
„Du bist schon auf der richtigen Fährte, mein Junge!“
Das Kribbeln wurde unerträglich.
Es wuselte und kitzelte unter seinen Armen, auf seinem Kopf, auf seinem Rücken und in seinem Intimbereich. Immer mehr Fliegen setzten auf seiner Haut zur Landung an. Ihm war schwindelig.
Wieder fühlte er sich, als würde er durch seinen eigenen Kopf nach hinten stürzen, doch diesmal war es keine Achterbahnfahrt. Diesmal wartete unter ihm ein großes, gähnendes Nichts, das ihn verschlingen wollte. Es war, als würde ihm die Seele ausgesaugt und nichts außer seiner leere Hülle zurücklassen werden.
Und dann wurde ihm auch klar, woran das lag: Das Feeling war weg.
Er musste neues nachtanken, alles andere trat in den Hintergrund.
Er entdeckte das Glas mit Wodka neben seinem Sessel stehen, und es war noch halb voll. Eine Fliege lief ihm über die Augenbraue. Aber im Augenblick gab es nur noch den Wodka für ihn.
Er nahm das Glas mit schwächlicher Hand, setzte es an die Lippen, schluckte alles auf einmal-
Da begann mit einem Mal an jeder Stelle seines Körpers ein unbändiges Brodeln, unter seiner Kleidung und unter seiner Haut, immer stärker, immer heftiger- mit schlierigem Blick sah er voller Entsetzten eine Flut von Ameisen aus den Ärmeln und den Hosenbeinen hervorquellen, abermillionen von winzigen, zappelnden Insektenbeinchen marschierten in rastloser Hast an ihm hoch! Sie marschierten über seinen Hals, in seine Nasenlöcher, in seine Ohren und Augen.
Wie ein Besessener begann er mit den Armen seinen Körper abzuschrubben, er formte den Mund zu einem entsetzten Schrei, doch sogleich spürte er, wie sich raue Fliegenbeine auf seine Lippen setzten, und surrende Ungetüme drangen in seine Mundhöhle ein. Glucksend und Schreiend wirbelte er herum. Es war ihm, als verwandle er sich in einen einzigen Haufen aus winzigen zuckenden Leibern. Zu allen Körperöffnung kamen sie heraus und hinein, immer mehr, immer bösartiger. Die Insekten in seinem Gesicht bissen sich Wege unter das Fleisch seiner Wangen und arbeiteten sich in Richtung Hals vor.
„Tja Willy, heute ist Zahltag! Du hast was von mir gekriegt und jetzt kriege ich was von dir! Hier, nimm doch noch einen kleinen Schuss aus der Spritze!“
Die Spritze!
Das zarte Gefühl, wenn sie auf dem Armgelenk lag! Die wohltuende Wärme, wenn sich der Stoff langsam, aber kraftvoll in den Adern verteilte! Das würde ihn retten!
Er brauchte noch einen weiteren Schuss, dann würde wieder Ruhe einkehren!
Bei diesen heilenden Gedanken verlangsamten die Insekten ihr Vordringen.
Eingehüllt in einen flimmernden animalischen Teppich tastete Will sich vorwärts auf der Suche nach dem Silbertablett. Frank hielt es ihm hin.
Obwohl Will nichts sah, merkte er auf unerklärliche Weise, dass Frank dämonisch grinste.
„Aber ich muss schon sagen, Billy-Boy, du hast dich wirklich gemacht! Du warst nichts weiter als eine Null, als ich mit dir angefangen habe,“ sagte er, „und zum Schluss warst du ein Götze für Millionen. Ich bin ehrlich stolz auf dich. Du bist mein bestgelungenstes Werk seit langem!“
Er gab Will das Spritzbesteck in die zittrigen Hände. Mit großer Mühe und halb zusammengekniffenen Augenlidern versuchte Will, die Ameisen von seinen Händen zu wischen, damit er beim Umrühren des Stoffs nichts verschüttete.
Dann zog er die Spritze voll.
Nur ein Schuss, dann würde das unbeschreibliche Gefühl wieder zurückkehren.
Mit nachlassender Kraft band er sich den linken Arm ab und stocherte mit der Fingerspitze in dem wuseligen Teppich auf der Innenseite seines Armgelenks herum. Das Verlangen nach Stoff war größer als der Ekel. Die Tiere wichen folgsam zur Seite und gaben ein Fleckchen weißer Haut frei. Er legte die Kanüle mit erstaunlicher Treffsicherheit auf eine Vene, und seine Daumenkuppe berührte das Endstück der Spritze. Gleich würden er und die Nadel zu einer Einheit verschmelzen...
Mit einem Schlag begann die Luft zu vibrieren.
Es ertönte ein lautes Dröhnen. Die Eingangstür wurde durch eine unsichtbare Wucht aufgestoßen, und herein drang ein gleißend heller Lichtschein, den Will sogar in seinem halbblinden Zustand als zu grell empfand.
Frank stieß einen zornigen Fluch aus.
Will versuchte, hinzuschauen und erkannte die undeutlichen Umrisse einer hochgewachsenen Gestalt, bedeckt von einem wallenden weißen Gewand. Hinter der Gestalt prangten zwei mächtige Flügelschwingen hervor.
„William! Lass ab von deinem Tun, sonst wird dich das Himmelreich verstoßen!
Die sonore, weibliche Stimme klang durchdringend wie eine Kirchenorgel.
Es war eine wohlvertraute Stimme.
„Tante Abigail...?“ Will ließ die Spritze sinken.
„Sieh an, sieh an! Die gute alte Abigail. Wer hätte das gedacht?“, erklang Franks Stimme. Er war wieder vollkommen gefasst.
„Du hast ja schon immer alles getan, um deinem guten Will den Spaß zu verderben. Aber dass du tatsächlich für die Konkurrenz arbeitest, hatte ich nicht bemerkt. Kompliment!“
Will war so perplex, dass er für den Moment nicht einmal mehr an den Ungezieferbefall dachte. Mit viel Mühe konzentrierte er sich auf die Gesichtszüge dieser skurrilen Erscheinung.
Und tatsächlich: Er glaubte die seiner alten Patentante zu erkennen, die ihn seit frühster Kindheit wie eine Mutter gehütet hatte, wenn seine Eltern wie so oft keine Zeit für ihn hatten.
„Jawohl, ich bin es. Ich habe dich, seit der Herr dir das Leben schenkte, beschützt und aufgezogen, auf dass du ein ganz besonderer Menschensohn wirst“, sprach die Erscheinung ruhig.
Diese verwirrende Mischung aus Altvertrautem und Fremdartigem mischte sich in Wills Gehirn zu einem schmutzig-süßen Gefühlscocktail.
Er hielt sich den Kopf und schnaufte schwer durch die verstopften Nasenlöcher. Das musste ein Horrortrip sein, den der Rausch ausgelöst hatte, hoffte er.
„Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen,“ begann Frank in spitzem Tonfall, „aber deine Sorte ist im Moment das Letzte, was hier willkommen wäre. Wenn du nicht sofort das Weite suchst, werde ich dafür sorgen, dass es hier gleich ziemlich ungemütlich wird.“
Die Erscheinung blieb zunächst stumm. Sie schien sich vor Frank bedrohlich aufzubauen, doch Frank ging ebenfalls herausfordernd auf sie zu. Frank und die Gestalt bewegten sich nun in einem Kreis misstrauisch umeinander herum, langsam wie zwei zähnefletschende Raubtiere, die gleichzeitig dasselbe Stück Aas gewittert hatten.
Dann sagte die Erscheinung streng: „Du hast dich an unserem auserwählten Kind vergriffen. Wir wollten ihn zu einem Musterexemplar unserer Schöpfung formen, fromm und demütig und ohne weltliche Bedürfnisse. Doch du hast ihn auf den Weg der Sünde geführt, auf den Weg des Fleisches und der Begierde, Leviathan!“
„Auserwählt? Verdammt, Hätt' ich mir eigentlich gleich denken können.“ Frank lachte perplex.
„Bei so viel Scheinheiligkeit und Enthaltsamkeit, die du und seine Eltern ihm aufgedrückt habt! Da hätte ich schon längst Verdacht schöpfen können, dass ihr eure Finger im Spiel hattet! Aber weißt du, ich hätt' das auch mit ihm gemacht, wenn ich's gewusst hätte. So einer Herausforderung kann ich einfach nicht widerstehen. So ein Musterbüblein, so ein dumm-frommes Lämmchen zu einem richtigen Menschen aufzubauen, das hat mal wieder sein müssen. So, und jetzt mach, dass du wegkommst, er gehört sowieso schon mir!“
Verzweifelt Röchelnd versuchte Will, sich diesem furchtbaren Delirium zu widersetzen. Doch im Augenblick war sein Körper wie versteinert und sein Hirn bestand aus Knetmasse.
Frank sprach weiter: „Aber eines versteh ich nicht: Du warst von Anfang an dabei, als ich Will immer zu Hause besuchen kam. Du hast auch keinen Hehl daraus gemacht, dass du mich loshaben wolltest, als ich heimlich Alkohol mitbrachte und Will immer öfter mit auf die Piste nahm. Und hast einen riesen Terz gemacht, als ich ihn endlich mit der ersten Frau in seinem Leben verkuppelt hatte, die was taugt! Du hättest mich fast aus dem Haus geprügelt! Also sag mir eins...“
Zu Franks Ärger hatte sich hörbares Erstaunen gemischt. „...Wieso hast du so plötzlich aufgegeben, als ich ihn endlich rumgekriegt hatte und ich mit ihm ausgerissen bin? Wir waren Säufer und Kleinkriminelle! Ihr seht und wisst doch sonst immer alles! Also warum hast du dann bei alledem zugeschaut und nichts mehr unternommen, alte Schnarchnase?“
Mit marmorner Würde entgegnete die Gestalt: „Weil in Will der Keim des Guten eingepflanzt wurde. Und sogar Deinesgleichen vermag das Gute nicht auszutreiben, es wird auf lang immer siegen. Darum vertrauten wir in ihm. Wir glauben an das Gute, und wir glauben an William.“
Wieder schien Franks hämisches Grinsen bis in die letzte Ecke des Raums spürbar zu sein.
„So? Na, dann bist du jetzt bestimmt nur zum Hallo-Sagen vorbeigekommen! Oder tauchst du ausgerechnet jetzt auf, weil ihr da oben im letzten Moment doch Muffensausen gekriegt habt, hä?“
„Das Gute ist Liebe. Und die Liebe wird immer stärker sein als das Böse,“ kamen die Worte der Erscheinung. Aber Wills geschundener Verstand glaubte in ihnen einen leisen Anflug von Unsicherheit zu bemerken...
Frank spuckte abschätzig auf den Boden.
Er näherte sich Will rückwärtsgehend mit vorsichtigen Schritten.
„So alt wie die Zeit, aber immer noch so unglaublich dämlich! Habt ihr wirklich gedacht, er würde mir nichts, dir nichts, wieder zu euch Spießern zurückgehen?! Will hat in den paar kurzen Jahren mit mir mehr bekommen als bei euch in einer ganzen Ewigkeit! Und deswegen wird auch bei mir bleiben! Nicht wahr, Willy?“
Will sah aus den Winkeln seiner brennenden Augen Franks schwarzen Anzug neben sich aufragen.
„Ich habe ihm alles gegeben, wonach er sich all die Jahre so dringend gesehnt hatte! Ich habe ihm eine Identität gegeben, ein eigenes Leben! Durch mich ist er sogar zu einem Halbgott geworden!“
„Alles Trug! Du hast ihn verführt, nur für deine Zwecke! Deine Gaben waren nichts als bloße Köder, nur um dir eine unglückliche Seele mehr einverleiben zu können! “
Frank schnaubte aufgebracht.
„Okay, vielleicht habe ich auch aus Eigennutz gehandelt. Aber schaut euch doch selbst mal an: Ihr erschafft die Welt, ihr erschafft die Natur, die psychotropen Substanzen, aber eure Geschöpfe dürfen nur gucken und nichts anfassen! Was ist denn das für verklemmter Mist?! Ich will diesem Laden doch nur etwas Leben einhauchen, Herrgott nochmal!“
Will sah- oder täuschte er sich?- wie die Erscheinung immer größer wurde. Oder kam sie auf ihn zu? Beides war irgendwie beunruhigend, und in seinem Magen kribbelte es dabei genau wie auf unter seiner Haut...
Erneut kotzte er eine widerliche Ladung Halbverdautes aus seinem verkrampften Mund, diesmal über seinen eigenen Bauch und die Beine. Die stinkende Flüssigkeit gebar wie aus dem Nichts noch mehr Insekten, laufende und fliegende.
„Bitte... hört auf damit!“ stöhnte Will verzweifelt.
„Ihr kriegt ihn nicht!“, fauchte Frank.
Doch das Licht war jetzt ganz nah. Frank wich zurück. Tante Abigails Stimme schwang direkt über Wills Haupt:
„William, tue Buße und gelobe Besserung, hier und jetzt! Das ist der einzige Weg, deine Seele vor der ewigen Verdammnis zu retten!“
Will war kurz davor loszuheulen wie ein kleines Baby.
Ihm war, als würde sich zwischen Frank und seiner Tante ein Gewitter zusammenbrauen, unmittelbar über ihm.
Da sagte Frank schnell:
„Pass auf, Tante Abigail, wir machen einen Deal, okay? Will ist doch ein Mensch, also darf er selber entscheiden, ist es nicht so?“
Die Spannung in der Luft unterbrach ihr Anschwellen für die Dauer eines Wimpernschlags.
„Warum lassen wir nicht ihn machen, was er für richtig hält? Das ist schließlich sein gutes Recht!“
Abigail gab ein drohendes Raunen von sich.
Das Gewitter schwoll wieder ein Stück an- und verpuffte dann so schnell, wie es aufgekommen war.
„Wir tragen einfach nur unsere Standpunkte vor, und Will schlägt sich dann auf die Seite, die ihm am meisten zusagt. Das ist doch recht und fair, oder irre ich mich?“
Wills rechte Hand umklammerte immer noch die Spritze, obwohl er den Arm schon einige Zeit schlaff herabhängen ließ.
Frank ging in die Hocke, ergriff den Arm sachte und führte ihn hoch auf die Sessellehne.
Will wusste nicht, ob er wirklich noch existierte. Das alptraumhafte Bild, das er sah, war der letzte Rest, aus dem er noch bestand- alles andere von ihm hatte sich in ein Vakuum aufgelöst. Und nicht mal von diesem Bild war er sich sicher, dass es sich dabei nicht um eine böswillige Täuschung handelte.
Das Bild zeigte nun das lange Gewand der Gestalt, wie es sich direkt vor ihm herabsenkte, bis das Gesicht seiner Patentante vor dem seinen waberte, und das Gesicht sprach:
„William, erkennst du mein Antlitz noch? Weißt du noch, was du einst damit verbunden hast?“
Er war unfähig zu reden, aber bei diesen Worten glimmte ein Funke auf in seinem Vakuum.
„Habe keine Furcht! Denn siehe, ich war für dich da, in jeder hilflosen und kalten Stunde und habe dich gewärmt.“
Obwohl Will von seiner Seite her ein verächtliches Stöhnen hörte, das er unterbewusst Frank zuordnete, entfachte der Funke eine schwache Glut. Eine angenehme, mütterliche Glut.
Der Engel sprach weiter:
„Und auch in Momenten der Wonne habe ich dein Glück mit dir geteilt. Besinne dich zurück- an ein Leben voller Liebe, Sanftmut und Geborgenheit!“
Aus der Glut stieg einige hauchdünne Flämmchen hervor. Sie erhellten Bilder in dem vermeintlichen Nichts seiner Seele, Bilder von seinem Elternhaus, von gemeinsamen Abenden vor dem Fernseher und bei Brettspielen mit Abigail.
Er sah sich selbst in seinem Kinderbett, wie seine Patentante ihm die Hände zum abendlichen Gebet faltete und ihn auf die Stirn küsste.
„Ich und der Herr stehen immer noch auf deiner Seite, William. Du bist unser Kind. Du warst es immer, und du brauchst nichts weiter zu tun, als in den Schoß unseres Herren zurückzukehren. Dann wird alles Leid und jede Anstrengung von dir genommen sein.“
Kein Leid mehr- und keine Anstrengung! Worte, die wie Klänge einer Aeolsharfe in seinen Ohren schwangen!
Er ließ ein abermals die Augenlider fallen, aber diesmal wie zu einem erleichternden Schlaf.
Das Gesicht seiner lieben Tante sah er aber immer noch vor sich schweben, und jetzt lächelte es ihm sogar zu.
Ja, zurückkehren zu seiner alten Unschuld, das war alles, was er jetzt wollte.
Die Glut in seinem Innern war zwar klein, aber sie reichte aus zum Wärmen. Überall außenherum war nur tiefes Dunkel.
Er sah, wie Abigail ihm schützend die weißgewandeten Arme um den Kopf legte und vor diesem Nichts abschirmte. Er war niemand Großes mehr, nur noch ein kleines, verängstigtes Kind. Er würde wieder aufgehen in der Gemeinschaft seines Heimes. Er würde wieder nur ein kleiner Teil eines kleinen Ganzen sein, ohne Aufbegehren, ohne Stimme, aber dafür auch ohne Verantwortung, und das allein war ihm wichitg.
Keine Anstrengung mehr.
Da hörte er von weit, weit her das gedämpfte Geräusch von Schuhtritten, wie wenn sie gerade zu einem hastigen Schritt ansetzten.
Sie bewegten sich weg, von ihm und von dem Feuerchen, neben dem er mit Abigail kauerte. Dann stoppten die Schritte, und Will vernahm ein klapperndes Geräusch, doch es störte ihn nicht, denn es kam von draußen, aus einer Welt, die ihn nichts anging.
Nur seine Tante fuhr auf einmal mit dem Kopf herum.
„Wage es nicht, du niederträchtiger Unhold!“, rief sie über ihre Schulter.
Will begriff nicht, was vor sich ging, aber der Ton, der dann kam, ließ plötzlich auch ihn aufhorchen.
Es war das Geräusch, wenn eine E-Gitarre an einen Verstärker angeschlossen wird.
„Jetzt bin ich dran, Engelchen!“
Ein verzerrter Akkord zerschnitt den Äther, der Will umgab.
Das Kind vor dem Feuer schnitt eine Grimasse der Abscheu, als sich die Musik in seine Ohren bohrte.
Schnell versuchte es sich in die Wärme und in die Erinnerungen zu flüchten- als ein zweiter Akkord einschlug und dann ein dritter. Und auf den Akkorden ritten auch Erinnerungen, aber diese Erinnerungen waren nicht warm und auch nicht heimelig, doch dafür waren sie mächtig.
Groß und mächtig.
„Das war unser erstes Lied, Will!“, echote Franks Stimme aus der Ferne, „Das war unser allererstes Lied! Das ist Dogs in the Cradle!“
Die zerrissene Musik zerriss auch das Kind in zwei Stücke; das eine Stück umschlang ängstlich die warme Glut, aber das andere war von einer neuen Glut entfacht, die sich zu einem ganzen Feuersturm ausweitete.
Der Engel schrie: „William! Widerstehe ihm!“, aber Frank lachte nur und rief, während er zum nächsten Riff ansetzte:
„Das habe ich damals für ihn geschrieben, als ich ihm das Gitarrenspiel beibrachte! Das ist seine ureigene Melodie! Dabei hat er seine Seele an den Rock'n'Roll verloren!“
Der Verstärker röhrte und wummerte so hinreißend schön und lustvoll, sang vom weiten Himmel und den Straßen, die sich darunter bis ins Unendliche erstreckten.
Der Teil von Will, der nie zur Ruhe kommen konnte, sammelte seine letzten Reserven und hangelte sich mit einem Kraftakt zurück in das abgenutzte und dreckige Stück Fleisch, das immer noch im Backstageraum in dem Ledersessel hing.
Er hob seine bleischweren Lider, aber sofort zog es seinen Kopf wieder vornüber nach unten.
Und wieder das Kribbeln überall und diese Übelkeit!
Doch Franks Spiel war so virtuos und kraftvoll, dass die Klänge zu fliegen schienen.
Will wollte genauso fliegen wie die Musik, und sich nicht noch einmal übergeben. Er musste aus seinem Körper heraus, er fühlte sich darin eingeengt wie in einem Zwinger. Er wollte dieses Gefühl zurückhaben, dieses unbeschreibliche Feeling.
„Halt ein!“, rief Tante Abigail entsetzt.
Träge hob er den Kopf, um mit glasigen Pupillen in das Licht der Erscheinung zu stieren.
Seine Tante... sein zu Hause... dort gab es Liebe, und Wärme... aber sie hatten dort nicht das Feeling, und auch keinen Stoff. Und ohne Stoff, das spürte er in seinen Knochen, würde er nicht weiterleben können. Und außerdem: Die Spritze würde ihm ja auch Wärme spenden...
Er führte die Nadel abermals an seinen linken Arm.
Frank rief höhnisch durch den Raum: „Siehst du? Er ist nicht mehr euer kleines, braves Schoßhündchen! Er ist ein Straßenköter! Aber jetzt ist es leider an der Zeit, den Hund einzuschläfern...“
Der Stoff ergoss sich labend in Wills Venen, kühlte erst, dann wärmte er.
Er wurde immer wärmer, immer heißer- da sah Will mit Grauen, wie das Aderngeflecht rotglühend wie Lava unter seiner Haut hindurchleuchtete.
Die Hitze wurde unerträglich, sie schmolz das Getier auf ihm zu einer dicken Masse, schwarz und klebrig wie Teer. Die Fliegen in der Luft explodierten laut krachend zu Feuerbällen, und ihre Einzelteile bohrten sich wie heißer Schrot in sein Gesicht.
Flammen schossen aus seinen Armen und Beinen.
Sie verbrannten alles zu Asche, seinen Körper, den Sessel, den Raum. Das Feuer um ihm begann zu rotieren und wurde zu einem infernalischen Tornado, der ihn aus den verkohlten Überresten seiner leiblichen Existens hinfortriss.
Der Feuerwirbel formte einen gähnenden Tunnel, hinab in die Tiefe. Mit brachialer Gewalt wurde er hindurch geschleudert. Dann fiel er, und fiel, und fiel.
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DAILY HEADLINES
Schock für Fans-
Rocksänger Will Rosebud tot aufgefunden
St. Petersburg, Florida- Gestern Abend wurde Will Rosebud, der Sänger, Gitarrist und Frontmann der Rockband „Cerberus“, nach dem Konzert in Saint Petersburg von Bühenarbeitern leblos aufgefunden. Rosebud, der mit bürgerlichem Namen William Hall hieß, war keine Stunde zuvor noch auf der Bühne gestanden und hatte sich von tausenden Fans feiern lassen. Rosebud befand sich zum Zeitpunkt seines Ablebens allein in einem Raum hinter der Bühne, wo er offenbar größere Mengen an Alkohol, Heroin und anderen Rauschmitteln konsumiert hatte. Unmittelbar neben seinem Leichnam fand man Spritzutensilien, so dass momentan stark davon ausgegangen wird, dass er einer Überdosis erlag. Die anderen Mitglieder der Band sowie die Tourbegleiter werden derzeit verhört. Aussagen zufolge hatte sich der Manager der Band kurz zuvor noch mit Rosebud allein in dem Bühnenraum aufgehalten. Von dem Manager fehlt bislang jedoch jede Spur. Rosebud war einer der vielversprechendsten Newcomer des Musikbuisiness. Er wurde 36 Jahre alt und soll kommende Woche im Kreis seiner Familie in LaFayette, Georgia, beigesetzt werden.
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