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Doktor Feelgood
Er musste schon lange im Bett gelegen haben. Sein Rücken tat ihm vom Liegen weh. Die Zeit schien sich auf eine merkwürdige Art verändert zu haben. Die Momente dehnten sich aus und vergingen in unregelmäßigen Abständen, aber irgendwie doch wieder linear.
Sein Körper fühlte sich auch so anders an. Er erinnerte sich daran, wie er mit seinen Freunden durch den Wald gelaufen war und einen Damm aus Ästen und Steinen gebaut hatte, der einen kleinen Bach gestaut hatte. Er erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Da hatte sich sein Körper anders angefühlt ... irgendwie lebendiger.
Etwas stimmte nicht.
Wenn er sich erinnerte, sah er gewisse Ereignisse glasklar vor seinem inneren Auge. Er sah sich auf seinem morgendlichen Weg zur Schule, oder er erinnerte sich an den Ärger im Gesicht seines Vaters, wenn er wieder etwas Dummes angestellt hatte.
Und dann waren da diese winzigen Erinnerungsfragmente. Situationen mit Personen, die er nicht kannte. Begriffe und Worte, die er mit keinerlei Bedeutung verknüpfen konnte. Wie Nachrichten aus einer fremden Welt.
Wie diese Erinnerung mit dem Saal. Sie musste irgendetwas zu bedeuten haben, denn er träumte häufig davon. Da war dieser Saal mit lauter jungen Menschen. An einer Tafel stand ein Mann im fortgeschrittenen Alter.
Der Mann hatte etwas vom lieben Gott, so wie er sich den lieben Gott vorstellte. Alt, weißes Haar ... und langer Bart. Der liebe Gott sagte auch etwas, das er allerdings nur zum Teil verstand. „In der Gehirnchirurgie ... Entscheidungen treffen .... als Chirurg werden sie ... “
Er konnte das nicht verstehen. Was bedeutete „Gehirnchirurgie“? Den Begriff hatte er noch nie gehört. Oder doch? Da war etwas, aber er kam nicht darauf, was es war.
Was eine Entscheidung war, wusste er. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, er solle sich entscheiden. Er solle entweder ein guter Schüler sein und fleißig lernen oder bei Onkel Franz auf dem Feld helfen. Musik wäre nur Unfug, hatte sein Vater gesagt.
Manchmal waren da diese furchtbaren Albträume. Er sah einen kahlen menschlichen Kopf vor sich. Hände in Handschuhen (seine Hände?), die mit geübten Handgriffen etwas auf den Kopf malten. Oft fragte er sich, ob der Mensch, dem der Kopf gehört, wohl Haarausfall hat. Noch während er sich das fragte, geschah das Grausame. Die Hände hielten eine Bohrmaschine und der Bohrer fraß sich in die Schädeldecke des Kopfes.
Manchmal weinte er dann. Wann wohl endlich Mutter wieder zu ihm kommen würde? Ob sie ihm dann wieder liebevoll über den Kopf streicheln würde? Das würde ihm gefallen.
Das Licht ging an. Entsetzen flammte in ihm auf. Wie war er in dieses Zimmer gekommen? Hier war er noch nie gewesen. Er lag in einem großen Bett und war ... gefangen. Rund um ihn herum waren Gitter. Ob er böse gewesen war und Mama ihn ins Internat geschickt hatte?
„Guten Morgen, Herr Doktor!“
Wer hatte das gesagt? Woher war die Stimme gekommen? War Doktor Straßmann hier? War er krank? Hatte Mama den Kinderarzt gerufen? Wo war der Arzt dann? Wem gehörte die Stimme?
Ein fahles, mondförmiges Gesicht tauchte über ihm auf. Er sah einen Mund, der zu einem Grinsen verzogen war. Gelbe Zähne, unrasiertes Gesicht. Pickel.
„Na mein kleiner Doktor Feelgood! Haben wir uns wieder in die Windeln geschissen und gepisst?“
Angst durchströmte ihn. Diese Stimme war böse ... der Mann war auch böse ... es war ganz sicher nicht Dr. Straßmann. Was wollte der böse Mann nur von ihm? Wo war Mutter?
„Keine Antwort ist auch eine Antwort! Dann schauen wir mal nach!“
Hände mit langen, gelben Fingernägeln rissen die Bettdecke weg und machten sich an ihm zu schaffen. Augenblicklich wurde ihm kalt. Warum konnte er sich nur nicht bewegen?
Die Hände des Fremden machten etwas an seinen Hüften, das ein knisterndes Geräusch erzeugte. Auch an seinem Bauch wurde es jetzt kalt. Und es roch so komisch.
„Das riecht jetzt mal ganz schön nach Oberarztkaka, was?“
Wer war der Kerl und was wollte er? Mama hatte ihm beigebracht, dass er immer freundlich zu Erwachsenen sein musste, also lächelte er.
„Ja, das ist mein Doktor Feelgood ... Liegt in seiner eigenen Scheiße und lässt es sich gut gehen. Tja ... was etwas Sauerstoffmangel und eine Prise Demenz aus einem super Arzt machen können ... Schade schade ...!“
Der Unbekannte machte weiter mit seiner für ihn nicht nachvollziehbaren Tätigkeit. Er lächelte. Es fühlte sich gut an.
„Du hältst dich immer noch für etwas ganz Besonders, oder? Warte nur ab.“
DAS hatte ihm Mami immer gesagt – dass er etwas ganz Besonderes sei.
„Ich werde dir jetzt mal etwas zeigen!“
Der Unbekannte verschränkte die Arme vor der Brust. Er trug weiße Handschuhe wie in seinem Traum. Ob er auch Köpfe anbohrte?
„Menschen wie du widern mich an! Ihr denkt, ihr wärt etwas ganz Besonderes. Aber das stimmt nicht! Du bist genau wie ich, nur ein langsam vor sich hinfaulender Haufen Biomasse. Und momentan faulst du schneller dahin als ich ... trotz deiner begnadeten Fähigkeiten als Chirurg!“
Der Unbekannte machte etwas an seinen Beinen und zog ein blaues Bündel hervor.
„Und jetzt zeige ich dir mal, was ich hier habe!“
Der böse Fremde wickelte das Bündel auf. Er schaute hinein. Es war Kaka. Er hatte anscheinend ins Bett gemacht. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Wenn Mama das erfuhr ... Gestank schlug ihm ins Gesicht.
„Ja ... das ist deine Scheiße und du bist von mir abhängig ... Von MIR, der nie eine Uni von innen gesehen hat!“
Plötzlich wurde er müde und schlief ein.
Das Licht ging an. Entsetzen flammte in ihm auf. Wie war er in dieses Zimmer gekommen? Hier war er noch nie gewesen. Er lag in einem großen Bett und war ... gefangen. Rund um ihn herum waren Gitter. Ob er böse gewesen war und Mama ihn ins Internat geschickt hatte?
„Wie sehen Sie nur aus, Herr Doktor Henseler?“
Eine weiche Frauenstimme ertönte dicht neben seinem Ohr.
„Sie haben ja einen richtigen Bart!“
Sein Vater war doch gar kein Onkel Doktor. Warum nannte ihn jemand Doktor Henseler? Sein Papa war Metzger.
Weiche Hände strichen ihm durchs Gesicht. Fast wie Mama es auch manchmal getan hatte. Das Gesicht einer jungen Frau lächelte ihn an. Er mochte diese Frau. Sie war lieb zu ihm, obwohl er nichts von dem verstand, was sie ihm sagte.
Sie redete mit ihrer schönen Stimme auf ihn ein und verteilte etwas in seinem Gesicht. Dann kratzte sie mit einem Plastikding durch sein Gesicht und kämmte ihn.
„Jetzt sehen Sie wieder hübsch aus. Das müssen Sie sehen!“
Die junge Frau verschwand aus seinem Blickfeld, kam aber schnell mit etwas in den Händen wieder. Einem Spiegel.
Die junge Frau hielt ihm den Spiegel vor sein Gesicht. „Sehen Sie, wie toll Sie aussehen!“
Er sah in den Spiegel und etwas in seiner Brust verkrampfte sich. Er sah ein altes Gesicht im Spiegel. Er kannte dieses Gesicht nicht.
Graue Haare, eingefallene Wangen und Pergamenthaut. All das erkannte er nicht.
Was er jedoch kannte, waren die Augen. Es waren seine Augen ... es waren seine Augen, die ihm aus dem Spiegel entgegenblickten! Jetzt verstand er.
Dann drehte die Praktikantin den Spiegel wieder weg und redete mit ihrer engelsgleichen Stimme und ihren, für ihn bedeutungslosen Worten auf ihn ein.
Wann es wohl Mittagessen gab? Ob Mama ihre Spezialgötterspeise gemacht hat? Seine Gedanken verloren sich im Nichts und er schlief ein.
Das Licht ging an. Entsetzen flammte in ihm auf. Wie war er in dieses Zimmer gekommen? Hier war er noch nie gewesen. Er lag in einem großen Bett und war ... gefangen. Rund um ihn herum waren Gitter. Ob er böse gewesen war und Mama ihn ins Internat geschickt hatte?
„Hallo, mein alter Freund!“
Eine kraftvolle Stimme füllte den Raum aus. Das Gesicht eines alten Mannes erschien. Aber das war nicht sein Großvater. Der Alte rückte sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich, legte die Hand auf seine Hand und schwieg. Dort blieb er lange sitzen, ohne etwas zu sagen. Er genoss die Anwesenheit des Unbekannten.
Dann erhob sich der Fremde und strich ihm über die Schulter.
„Du hast nie vergessen, Mensch zu bleiben ... während all dem, was du als Chirurg erlebt hast. Und deshalb will ich dir diesen letzten Dienst erweisen.“
Der alte Mann griff in seine Jackentasche und zog etwas hervor. Es war aus Glas und hatte vorne eine Spitze.
„Eine Überdosis Morphium, mein Freund. Die Qual hat jetzt ein Ende.“
Er spürte kurz einen spitzen Schmerz in seiner Armbeuge.
„Aua!“
Der Alte lächelte ihn an. Eine Träne lief an seiner rechten Wange herunter.
„Ich habe niemals vergessen, was ich dir vor langer Zeit versprochen habe.“