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Doktor Vreest in der Tote-Fische-Welt
Neben dieser existiert noch eine andere Welt, und sie schmeckt nach altem Fisch. Tritt nur einen Schritt zur Seite, und du bist vielleicht schon da. Für den Rückweg brauchst Du nicht viel - nur ein klein wenig ganz spezielle Energie.
Doktor Ristak Adunnumee Vreest verband seinen Computer, der an einer Kette um seinen Hals hing, drahtlos mit dem Zentralrechner der Raumstation und wählte das Kulturprogramm. Sofort erschien vor ihm eine Dreiflügelbuntschnepfe und breitete die rot-gelben Schwingen so weit aus, dass die rechte durch die Wand im Nebenraum verschwand. Das war kein Problem, weil der Avatar nur in Vreests Kopf existierte.
Vreest hatte nichts dagegen einzuwenden, dass er seine Rückreise fast für einen ganzen Tag auf der Suudwic-Raumstation unterbrechen musste. Er war ein zerquilianischer Tentakelarzt und hatte auf Ugana Cerolon an einer Tagung über Rüsselrisse bei Schleimhautaustrocknung teilgenommen. Nach dieser im wahrsten Sinne des Wortes trockenen Veranstaltung konnte er nun der linken Wand in seinem Sprechzimmer ein weiteres wichtig ausschauendes Zertifikat hinzufügen. Außerdem hatte er Vilissa Reenst wieder getroffen, mit der er vor Jahresfrist einen genauso spontanen wie feuchten Kurzurlaub auf einer einsamen Insel namens Zasalulup verbracht hatte. Diesmal hatte sie freilich nicht einmal einen Tentakelstupser für ihn übrig gehabt - ein Grund mehr für Vreest, auf der für ihr grandioses kulturelles Angebot bekannten Raumstation Suudwic mal so richtig abzuschalten.
»Ahdjeda huj, willkommen auf Suudwic Acalaron«, sagte die Buntschnepfe. »Ich bin Kooko, Ihre virtuelle Kunstgeschmackberaterin. Ich empfehle Ihnen heute den Besuch des Absurden Sonnentheaters Pan Solarium. Ibirische Laternenfische setzen die Entstehung der Galaxis auf einzigartige Weise komödiantisch um, unter anderem indem sie sich gegenseitig fressen.« Kooko leuchtete vor Begeisterung hellblau auf.
»Was, hm, wird denn sonst noch geboten?« fragte Vreest die Wand, vor der Kooko zu stehen schien.
Die Begeisterung der Dreiflügelbuntschnepfe ließ kein bisschen nach, als sie auf und ab hüpfte und erklärte: »Immer eine Besichtigung wert sind unsere Monsterfisch-Zuchttanks. Die reifen Exemplare führen in der Schwerelosigkeit einen selbst einstudierten Totentanz auf, kurz bevor sie zur Schlachtung abgeholt werden.«
Doktor Vreest drehte unsicher einen Tentakel zu einer Spirale. »Ich weiß nicht recht«, sagte er, während er ein paar Schritte machte, »gibt es vielleicht auch eine Gesangstheaterdarbietung?«
»Gesang gehört selbstverständlich auch zum Repertoire unserer ibirischen Laternenfische von Pan Solarium. Ein Frequenztranslator wird Ihnen natürlich zur Verfügung gestellt, damit Sie die wundervollen Melodien in der Tonleiter genießen können, die für Ihre Rasse angenehm ist.«
»Na gut, ich werde es mir überlegen.«
»Kartenreservierungen nimmt meine Kollegin Sihana entgegen«, zwitscherte Kooko und verwandelte sich in ein Ei, das langsam rotierte und dabei verblasste.
Doktor Vreest betrat die Rondell-Bar an der nächsten Ecke, setzte sich auf einen dunkelroten Hocker, der einigermaßen zu seinem Körper passte und bestellte einen weißen Multi-Saft ohne Stickstoff. Dann holte er seinen digitalen Theaterkritiker hervor und schaltete ihn an. Vreest wusste nicht, dass das Gerät beim letzten Hyperraum-Sprung einen Meta-Dimensionsschaden abbekommen hatte, sonst hätte er es tunlichst aus gelassen. So aber versetzte es ihn mir nichts dir nichts in das Restaurant der Autobahnraststätte Rhynern an der A1 auf die Erde.
»Dieses Gerät hat einen Meta-Dimensionsschaden und schaltet sich jetzt aus Sicherheitsgründen ab«, sagte der kleine, silberne Theaterkritiker, »bitte suchen Sie die nächstgelegene Vertragswerkstatt auf. Piepspieps.«
Die Luft dieser Welt roch für Doktor Vreest nach lange totem Fisch. Er schaltete seinen Computer ein, um Kontakt zur örtlichen Hyperraum-Überwachungsbehörde aufzunehmen, aber die Antwort lautete nur: »Einer unserer Mitarbeiter wird in Kürze zu Ihrer Verfügung, ... knacks.«
Neben Doktor Vreest saß der Kühltransport-Fernfahrer Hansjörg Kompott, der ihn allerdings noch nicht bemerkt hatte. Ein anderer Mann, dunkelhäutig, ging vorbei. »Siffige Ausländer«, murmelte Kompott gerade so laut, dass nur der vorbei gehende Farbige und Doktor Vreest (beziehungsweise dessen automatischer Übersetzer) es hören konnten. Der blondstopplige Kompott drehte sich zu seiner Cola um, bemerkte Vreest, quiekte und schüttete sich das Brausegetränk über die Jeans.
»Tut mir Leid«, sagte der Arzt, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich komme vom Planeten Zerquil. Mein Name ist Vreest, ich bin Arzt.«
Kompotts Mund ähnelte dem Loch in einer Ecke eines Billardtisches, nur die Farbe seines Gesichts war nicht ganz so intensiv grün. Dann fing er langsam an zu lachen. »Ach was, Sie sind vom Fernsehen. Aber im ersten Moment war ich wirklich überrascht. Welcher Sender? Wo ist die Kamera? Wann wird das hier gesendet? Ich muss doch meinen Kollegen Bescheid sagen.« Er sah sich aufmerksam um und sah dabei von einem fassungslosen Zuschauer zum nächsten. Eine kurzhaarige Frau am Tisch gegenüber flüsterte ihrem Begleiter zu: »Schnell, Schnucki, mach ein Foto!«
»Die Kamera ist im Wagen«, murmelte Schnucki.
»Du bist ein Versager«, erklärte ihm seine Frau mit spitzem Zeigefinger, »das wusste ich schon, bevor ich dich geheiratet habe.«
Unterdessen hatte Kompott bei dem Versuch, seine Hose zu trocknen, eine halbe Packung Taschentücher und zwei Papierservietten verbraucht und sich auf die Suche nach Nachschub begeben.
»Ich kann Ihnen versichern«, redete Doktor Vreest auf ihn ein, »dass ich lediglich aufgrund eines technischen Fehlers hier aufgetaucht bin.« Der fischige Geschmack ekelte inzwischen auch seine hintersten Geschmacksknospen. »Bestellen Sie mir was zu trinken?«
»Wieso sollte ich das tun«, sagte Kompott, »zuerst verschütte ich wegen Ihnen meine Cola, und dann ... wieso unterhalte ich mich eigentlich mit einem rosa Elefanten?« Er stand auf.
»Ich! Ich!« Schnuckis Frau war aufgesprungen und setzte sich auf den freien Platz. »Ich bestelle Ihnen gerne was. Was denn? Vielleicht einen Kaffee?« Sie wendete sich an die Zuschauer. »Er sieht gar nicht aus wie ein Elefant! Oder? Er hat keine Stoßzähne, und außerdem haben Elefanten vier Beine, und nicht äh ... « Sie zählte bedächtig, »acht Tentakel. Ich heiße übrigens Ina.«
»Ristak. Was ist Kaffee?«
»Heiß, dunkelbraun, macht wach.«
»Ich bin aber nicht müde. Außerdem weiß ich nicht, ob die enthaltenen Substanzen giftig für mich sind.«
Ina seufzte. »Also ein Wasser?«
»Einverstanden.«
»Ein Wasser bitte«, schrie Ina doppelt so laut wie nötig. »Wissen Sie schon, wie Sie wieder nach Hause kommen? Rauf, in den Weltraum?« Ina zeigte strahlend mit dem Finger nach oben und hätte dabei fast ihren Schnucki erstochen, der sich unbemerkt hinter sie gestellt hatte. »Ach, vielleicht können Sie meine Frisörin mitnehmen. Die hat meine Haare total abgeschnitten, schauen Sie sich das Schlamassel bloß mal an. Mein Sternzeichen ist übrigens Skorpion. Wohnen Sie da zufällig? Ich meine, Sie wollen doch nach Hause zurück, oder? Obwohl wir auch ein nettes Gästezimmer haben ... nanu?«
Plötzlich stürmte ein Streifenpolizist in den Raum.
»Oh nein«, hauchte Ina und dachte vermutlich an ein Labor, in dem Experimente an Außerirdischen vorgenommen wurden.
»Gibt es hier einen Psychologen? Oder einen Arzt?« Der Polizist machte einen gehetzten Eindruck. Nach seiner Frage blieb sein wild umher schweifender Blick an Doktor Vreest hängen.
»Hier«, zeigte Ina auf den Außerirdischen, »er ist Arzt.«
Vreest schaute zuerst Ina an, dann schenkte er dem Polizisten ein schüchternes Lächeln.
»Sonst keiner?« Der Polizist wurde ein paar Zentimeter kleiner, als er ein kollektives Kopfschütteln erntete.
»Wer ist denn verletzt?« Ina ignorierte ihren Schnucki, der hartnäckig versuchte, ihr Einhalt zu gebieten. Aber sie lief gerade zu Hochform auf. »Unser Doktor Vreest hier kann sogar Todkranke heilen. Er kommt nämlich aus dem Weltraum.«
Der Polizist schüttelte leicht den Kopf. »Genaugenommen sind Sie genau das, was ich brauche. Draußen ist nämlich ein Verrückter, der behauptet, er sei ein Außerirdischer. Er hat einen ganzen Kegelclub als Geiseln. In einem Bus.«
Der Tentakelarzt erhob sich und folgte dem Polizisten hinaus. Nun endlich war auch den anderen Gästen aufgefallen, dass hier seltsame Dinge vor sich gingen. Die meisten reagierten darauf, indem sie ihre Handys hervor holten und Bekannte unterrichteten. Ina und ihr Schnucki begleiteten Vreest und den Polizisten hinaus und auf den Parkplatz, wo ein Bus der Gesellschaft »WahnsinnTours« etwas abseits stand. Gerade trafen eine ganze Reihe blau blinkender Streifenwagen ein, die in respektabler Entfernung Aufstellung bezogen.
Vreest trat an die offene vordere Tür des Busses. »Hallo?«
»Ich bestehe darauf, zur Toilette ... aaaaaah!« Ein weibliches Mitglied des Kegelclubs hatte Doktor Vreest entdeckt. Daraufhin steckte ein grünhäutiges Schlangenwesen mit fünf roten Hörnern den Kopf aus der Tür – ein Zugure. »Ja bitte«, brummte er drohend.
»Oh«, sagte Doktor Vreest, dann räusperte er sich und sprach: »Ich muss darauf bestehen, dass diese Geiselnahme umgehend beendet wird.«
»Dies stellt keine primitive Geiselnahme dar, vielmehr bringt es eine epische Performance zur Anschau«, intonierte der Zugure in der galaktischen Künstlersprache, »mein Name ist Waan Gaar Doodal, Träger des Leuchtenden Knotens von Suubil.« Damit wusste Vreest Bescheid. Suubil nannte sich eine Künstlerkommune, deren Preisträger in der ganzen Galaxis gefürchtet waren. Wo sie auftauchten, nahm man besser Reißaus, wenn man nicht als Teil eines besonders innovativen Kunstwerks enden wollte. Und sein defekter Theaterkritiker hatte ihn scheinbar ungefragt zu einer grandiosen Performance transportiert.
»Dann ... lassen Sie wenigstens die Frau hier auf die Toilette.«
»Dieses Erfordernis hat ihre Existenz vorübergehend eingestellt«, schmalzte Waan und verwies auf die gedauerwellte Frau, die offenbar in Ohnmacht gefallen war.
Der zerquilianische Arzt schaute sich um. Die Polizei und die anderen Zuschauer hielten respektvoll Abstand und verfolgten das Geschehen wie gebannt. »Worin«, überlegte Vreest laut, »mag wohl die kreative Gewalt dieser Performance bestehen?«
Waan warf sich in die Brust. »Die Surrealität wird real. Ich habe meine Realität hinter mir gelassen. Kunst bricht mit Normen, und womit könnte man mehr brechen, als mit der Realität selbst?«
Doktor Vreest war ehrlich beeindruckt. Er vermisste ein wenig das leise Schimpfen seines digitalen Theaterkritikers, der ihm jetzt sicher ein paar wirkliche kunsthistorische Höhepunkte zum Vergleich genannt hätte.
»He! Wie läufts«, zischte die Polizei von hinten und erinnerte Vreest daran, warum er hier war. »Was ... was hat denn der Bus damit zu tun?«
»Bus? Oh.« Waan schien zu überlegen. »Nun, diese Wesen hatten die Ehre, einem ausführlichen, erhellenden Vortrag über meine wegweisende Performance beiwohnen zu dürfen.«
»Knallt den Verrückten doch einfach ab«, schrie der Kegelclub.
»Nicht über meine Leiche«, sagte der Künstler, holte ein kleines Gerät hervor und drückte einen Schalter. Sofort verschwand er, als hätte es ihn nie gegeben.
Der Kegelclub stürmte umgehend die Toilette der Raststätte. Ein junger Mann mit Oberlippenbart sagte, als er an dem verdutzten Vreest vorbei wankte: »Mann, haste zuviel getrunken?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er weiter.
Ina stolzierte auf den Zerquilianer zu. »Das war einfach großartig! Das werden mir meine Freundinnen nie glauben! Nicht wahr, Schnucki?«
»Äh. Nö«, schüttelte der überzeugt den Kopf.
»Können wir Sie nach Hause bringen«, fragte der Polizist den Doktor. Ina mischte sich ein: »Ja, wie können wir Ihnen dabei behilflich sein?«
Seufzend sagte der zerquilianische Arzt: »Ich brauche nur etwas Energie, dann kann ich in meine Welt zurückkehren.«
»Energie? Was für Energie?«
»Nicht viel, aber eine spezielle Form. Ein ... Kuss dürfte schon reichen«, sagte der Tentakelarzt.
»Ein ... Kuss?« Ina staunte.
»Ja, Küsse übertragen Unmengen von Energie.«
»Tatsächlich? Hey, Sie da!« Damit meinte sie einen älteren Herrn - Bart, Gesicht und Anzug grau -, der versuchte, ein Foto von der Szene zu machen, ohne dabei bemerkt zu werden. Dabei hatte er völlig den automatischen Blitz seiner Kompaktkamera vergessen.
»Ja, Sie«, rief Ina, »machen Sie mal ein hübsches Foto von uns beiden. Ich gebe Ihnen gleich meine Adresse, dann können Sie es mir zuschicken. Am besten gleich mehrere Abzüge und das Negativ. Ich kann Ihnen einen Fünfer geben, das dürfte genügen.« Sie stellte sich direkt neben Doktor Vreest und legte ihre Arme um ihn. Dann grinste sie in die Kamera. Ihr Schnucki versuchte, einen Einwand zu erheben, aber »hör auf, mit einem Außerirdischen zu flirten« kam ihm blöd vor und was anderes fiel ihm gerade nicht ein.
Und bevor Schnucki einen Einwand formulieren konnte, klebte Inas Mund an Doktor Vreests Rüssel. Kurz darauf war der Zerquilianer verschwunden, als wäre er nie da gewesen.
Nach einer schweigsamen Sekunde, in der alle die Stelle betrachteten, an der gerade ein rosa Alien mit acht Tentakeln und einem Rüssel gestanden hatte, fixierte Ina den älteren Herrn mit dem Fotoapparat. »Und, haben Sie ein Foto gemacht?«
Die Äuglein des Mannes zuckten nervös. Schließlich sagte er: »Der ... Film war gerade voll.«
Neben ihm winkte eine dicke Frau mit ihrer bunten Handtasche. »Hättest du dir mal so eine neumodische Digitalkamera gekauft, Walter! Ich habs dir ja gesagt. Aber nein, du meintest, du bist zu alt für sowas.«
»So ein Ding ist ziemlich cool«, sagte Schnucki. »Ich habe auch so eine.«
»Ja«, keifte Ina, »im Auto.«
Neben dieser existiert noch eine andere Welt, und sie schmeckt nach altem Fisch. Tritt nur einen Schritt zur Seite, und du bist vielleicht schon da. Für den Rückweg brauchst Du nicht viel - nur ein klein wenig ganz spezielle Energie.