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Dolores
Dolores blickte den langen Flur hinunter. Die vierundzwanzig Zimmer hier waren ihr Stockwerk. Sie schob den Wagen mit der frischen Wäsche und den Reinigungsmitteln vorwärts über den blaugemusterten Teppichboden; eine Tür sah aus wie die andere, aber sie hatte ihren Plan ausgedruckt vor sich und wusste genau, in welche Zimmer sie musste.
Vor ihr, aus Nummer 418, kam eine Frau in beigem Mantel und mit verwuscheltem dunklen Haar geeilt, sie schloss die Tür und lief den Gang entlang in Richtung der Fahrstühle, ohne Dolores zu beachten. Das war nicht ungewöhnlich: Die meisten Gäste ignorierten sie oder ihre Kolleginnen. So hatte man es Dolores und ihren Kolleginnen eingetrichtert: Das Reinigungspersonal hatte erst dann zu grüßen, wenn die Gäste bewussten Augenkontakt hielten. Für den Rest sollten sie als unsichtbare Geister gelten.
Dolores warf einen Blick auf ihren Plan. Für Nummer 418 war ein einzelner Gast vermerkt, P. Dickinson, Abreise heute. Auto-Check-out, das hieß, sie konnte jetzt ins Zimmer. Sie griff sich den Staubsauger, öffnete die Tür mit ihrer Universalkarte und betrat das Zimmer.
„What are you doing?“ Im Bett lag ein Mann.
Dolores schreckte kurz zurück, hatte aber schnell die Fassung wiedergefunden. So etwas passierte immer wieder, warum konnten die Gäste auch nicht die „Nicht stören!“-Karten an die Türklinke hängen, wenn sie ihre Ruhe wollten? Aber egal, sie wusste, wie sie reagieren musste.
„I am very sorry, sir, to disturb you. I will come back later.“ Der Satz kam automatisch, sie hatten ihn eingeübt beim Training und danach oft genug gebraucht. Sonst sprach sie kaum Englisch, sie hatte schon mit Deutsch zu kämpfen, auch nach fünfzehn Jahren in Köln immer noch. Sie hob den Staubsauger und wollte wieder hinausgehen.
„No, no, it’s alright, you might as well stay and clean up this mess“, sagte der Mann vom Bett aus. Sie verstand nur einen Teil der Worte, aber mit der einladenden Geste des Mannes war ihr klar, dass er wollte, dass sie bliebe und saubermachte. Sie mochte das eigentlich nicht, wenn man ihr bei der Arbeit zusah, aber der Gast war König, wenn sie jetzt gehen würde, wäre er womöglich beleidigt, und um ihm zu erklären, dass sie ihn lieber in Ruhe lassen wollte, reichte ihr Englisch nicht aus.
„Make noise“, sagte sie nur und deutete erklärend auf den Staubsauger.
„Well, okay, I guess, it’ll help me getting sober“, knurrte der Mann. Davon verstand sie jetzt kein Wort, aber offenbar hatte er seine Meinung nicht geändert.
Sie betrachtete ihn genauer. Er sah europäisch aus, hatte eine Glatze, der Kranz dunkler Haare am Rand seines Kopfes stand wuschelig nach allen Seiten weg. Er war etwas älter als sie, vielleicht Anfang, Mitte vierzig. Unrasiert.
Der Couchtisch sah wüst aus. Eine offene Champagnerflasche stand auf der dunklen Glasfläche, keine von den kleinen Portionen aus der Minibar, sondern eine von den großen, die man sich für hundertfünfzig Euro vom Zimmerservice bringen lassen konnte. Zwei Gläser, in einem befand sich noch ein Rest Flüssigkeit. Daneben sah sie eine Chipstüte, deren Inhalt halb über den Tisch, halb auf dem Boden verstreut war. Es gab was zu saugen, aber zuvor musste sie aufräumen.
Sie begann mit dem Sessel, auf dem ein Paar schwarze Socken lagen.
„This yours?“, fragte sie.
Er saß jetzt aufrecht im Bett, mit nacktem Oberkörper, die bleiche Brust voller dunkler Haare, fast wie bei Alvaro. Alvaro, der damals allein nach Deutschland gegangen war, während sie zurückblieb und mit dem Baby auf den Inseln wartete. Der sie dann beide nachholte, und kaum dass sie in Köln angekommen war, hatte er eine andere und wollte nichts mehr von ihr wissen. Auf und davon. Überließ es ihr, sich den Lebensunterhalt für sich und Ricardo zu verdienen. Wenigstens hielt der Mann seinen Körper vom Bauch abwärts bedeckt.
„Oh, yes, just put it in my suitcase, will you?“
Sie begriff nicht.
Er deutete auf den offenen Koffer an der Wand, und sie warf die Socken hinein. Ein wenig ekelte es sie, aber sie hoffte, dass er nichts davon merkte.
Die Frau, die kurz zuvor gegangen war, konnte nur eine Professionelle gewesen sein, dachte sie, als sie die Gläser und die Flasche hinaustrug zu ihrem Wagen. Oder hatte er sie am Vorabend in der Bar aufgegabelt? Warum nur fielen immer wieder Frauen auf diese geilen alten Säcke herein? Sie kam zurück und schielte kurz zu ihm. Besonders attraktiv war er wirklich nicht.
Sie bemerkte, dass er sie anstarrte. Ja, schau du nur, dachte sie, ich weiß, es wird dir nicht gefallen, aber das soll es auch gar nicht. Sie wusste selbst zu gut, dass sie auseinandergegangen war, dass sie älter aussah, als es die reichen deutschen Frauen mit achtunddreißig taten. Sie hatte keine Zeit oder Geld für Fitness oder Kosmetik oder diese Joghurts, von denen man schlank wurde. Im Fernsehen machten sie immer Werbung dafür.
Auch um ihn für seinen ungenierten Blick zu strafen, steckte sie das Staubsaugerkabel ein und trat schwungvoll auf den Schalter. Das Gerät machte sofort einen Höllenlärm, der jede weitere Konversation verbot. Sie begann die Chipskrümel aufzusaugen. Vermutlich starrte er immer noch, Männer waren in dieser Hinsicht völlig schmerzfrei.
Sie war froh um ihren dunkelbraunen Arbeitskittel mit den goldfarbenen Rändern an Ärmeln und Kragen. Er reichte weit genug über ihre Knie und sah so hässlich aus, dass dem Kerl irgendwelche unanständige Gedanken schnell vergehen würden. Sie wusste nicht, ob die Leute vom Hotel das Design mit Absicht gewählt hatten, um die Zimmermädchen zu schützen. Trotz des unkleidsamen Kittels kam es immer wieder vor, dass ein Gast sie angrabschte, und die anderen Mädchen, gerade die jüngeren, hübscheren, hatten sogar von schlimmeren Dingen berichtet.
Ihr Blick fiel auf seine Brieftasche, die offen auf der Kommode neben dem Fernseher lag. In einem Sichtfenster war das Foto einer blonden schönen Frau zu sehen. Definitiv nicht die, die eben gegangen war. Sie schaltete den Staubsauger aus.
„Wife?“, fragte sie und deutete auf die Brieftasche.
Der Mann machte jetzt Anstalten aufzustehen. Er hielt die Bettdecke um den Körper gewickelt und angelte sich ein paar Wäschestücke aus seinem Koffer. „Oh, yeah, right, that’s my wife. Why are you asking?“
Er verschwand im Badezimmer, und sie begann, den Glastisch und die anderen Oberflächen zu wischen. Das Bett konnte sie ohnehin erst abziehen, wenn er weg wäre. Hoffentlich war Ricardo zur Schule gegangen und hing nicht wieder mit seinen Freunden rum. Letzte Woche hatte sie ihn mit einem Joint erwischt; nun machte sie sich Sorgen, dass er aufs falsche Gleis geraten könnte. Er sollte es doch mal besser haben, die Mittlere Reife machen und einen anständigen, gutbezahlten Job bekommen. Nicht so armselig wie ihrer. Sie wünschte sich, dass Ricardo mal ein Mädchen finden würde, mit der er eine Familie gründen würde, richtig mit Mann und Frau und Kindern, so wie es eigentlich gehörte.
Nach ein paar Minuten kam der Mann angezogen aus dem Bad. Die Bettdecke warf er zurück aufs Bett.
Sie deutete zur Tür, aus der die andere vorhin verschwunden war. „Not your wife”, stellte sie fest.
Er zog sich eilig die Schuhe an: „Yes, you are right, she’s not my wife, but I don’t think that this is any of your business. Anyway, I am going to get some breakfast now …“ Er deutete ins Zimmer „… and you can continue your job here.“
Sie verstand kein Wort und sah ihn nur an. Er stand da, wedelte mit den Armen und sah auf eine fast bemitleidenswerte Weise komisch aus.
„Okay, listen, miss, I know that this was wrong, I know I am less than a perfect husband … and I … I shouldn’t have … but please - stop staring at me like that! I really need to leave now. … Oh, yeah, and this is for you.“
Er hatte die Brieftasche gegriffen, einen Fünfzig-Euro-Schein auf die Kommode gelegt und ging zur Tür. Grußlos verließ er das Zimmer.
Dolores stand da. Der Fünfziger war offensichtlich für sie gedacht. Sie hätte ihn sehr gut gebrauchen können, aber sie wollte sein Geld nicht. Nachher auf dem Nachhauseweg würde sie den Schein beim Kaufhof in die Spendenbox für die notleidenden Kinder stecken. Sie trat zum Bett, atmete tief durch und begann dann energisch den Bezug von der Bettdecke zu ziehen.