Was ist neu

Doppelter Verlust

Seniors
Beitritt
04.08.2001
Beiträge
1.214

Doppelter Verlust

Die Nacht war finster und verschwommen. Der Abend war lang gewesen, voller Alkohol und vergangener Bilder.
Schleiz wusste sofort wo er war und umgehend hasste er sich und seine Umwelt dafür.
Die Digitalanzeige des Weckers stand auf 3.06Uhr und bis auf das nervige Klingeln seines Handys war es totenstill in seinem Schlafzimmer. Er bemerkte, dass er sich nicht umgezogen hatte, bevor er ins Bett gefallen war.
Als er endlich das Telefon ergriffen und sich gemeldet hatte, kam eine höfliche Stimme von der anderen Seite: „Entschuldigen Sie bitte, Herr Schleiz. Sie sind eingetragen als Diensthabender.“
Er knurrte und rollte sich aus dem Bett.
Das übliche Theater, dachte er. Bis auf den Umstand, dass ich stinke wie eine Fußmatte und keine Zeit habe, zu duschen.
„Ein Toter in der S-Bahn, Hauptkommissar“, sagte die Stimme. „Als der Zug im Depot war, wurde er vom Reinigungspersonal entdeckt.“
„Was denn, keine Todesart?“
„Erstochen, offensichtlich. Alle anderen sind informiert, die Spurensicherung trifft eben ein.“
„Geben Sie mir die Adresse durch!“
Er schaltete grußlos das Handy aus und warf es neben sich auf das Bett. Für wenige Sekunden ließ er sich noch einmal nach hinten sinken und schloss die Augen. Das Gesicht seiner Frau erschien ihm und dann das seines Sohnes, doch um sich nicht zu quälen, schob er sie sofort beiseite.

Ranke war schon am Tatort. Diensteifrig wie immer erwartete er seinen Chef vor der großen Fahrzeughalle, um ihn über das Wichtigste in Kenntnis zu setzen.
„Um genau zu sein, hat ihn der Lokführer entdeckt“, schnarrte er von oben herab. Er war mindestens einen Kopf größer als Schleiz. „Er hat seinen Kontrollgang gemacht und von der anderen Seite kam die Reinigung durch. Sie fanden den Fahrer, wie er mit großen Augen vor dem Toten stand.“
„Vernehmungsfähig?“
Ranke schüttelte den Kopf. „Der Arzt sagt, um mit dem Mann sprechen zu können, müssen wir ihn erst mal ausschlafen lassen.“
„Haben Sie dem Arzt gesagt, dass wir einen Mord auf dem Hals haben?“
„Die Reinigungsleute haben dann uns informiert. Sind alle schon drinnen.“
Er wies mit dem Kopf auf einen S-Bahn-Zug, der in der riesigen Halle stand, als warte er auf etwas.
Sie zogen die Schutzanzüge über, Schleiz behielt seine Zigarette im Mund und musste husten. Er warf sie entnervt auf den Boden und trat sie aus. Dabei spürte er sehr wohl den Blick seines Assistenten. Als sie in den Zug stiegen, half ihnen ein Beamter.
Drinnen war es überraschend warm und trotz der Menge Leute, die sich hier aufhielt und arbeitete, leise. Diese Atmosphäre zwang Schleiz selbst gedämpft zu sprechen.
„Der Arzt?“, fragte er, als sie langsam durch den S-Bahn-Wagen gingen.
„Schon wieder weg“, antwortete Ranke. „Er wollte Sie noch anrufen.“
Allein diese Aussage zeigte, dass er spät am Tatort war. Er hatte Bereitschaft, nüchtern, verfügbar und bei Sinnen sollte er sein.
Die Leute von der Spurensicherung waren emsig bei der Arbeit. Dieser und Jener begrüßte ihn mit einem stummen Kopfnicken, als sie beide sich zwischen die Bankreihen nach hinten durcharbeiteten. Dort saß er.
Ein junger Mann, keine 25 Jahre alt, der Kopf nach hinten gefallen und mit einem Taschenmesser direkt an der Stelle, an der das Herz sitzen musste. Auf dem T-Shirt, als Rahmung für das Messer, ein dunkler Blutfleck. Seltsam gleichförmig und eben – wie mit dem Zirkel gezogen.
Schleiz beugte sich langsam über den Toten und sah ihm ins Gesicht. Der Mund des Jungen stand offen, es hatte den Eindruck, als schnappe er nach Luft.
Schleiz wurde schwarz vor Augen, er musste sich am Griff des Sitzes festhalten. Langsam ging er rückwärts, weg von dem Leichnam, ein paar Schritte zurück, bis er gegen Ranke stieß.
„Was ist, was haben Sie?“
Es gelang ihm kaum zu verbergen, wie sehr er die Fassung verloren hatte. Er spürte, wie der Puls ging und sein Herz kaum dem Antrieb des Adrenalin nachkam.
„Wieso konnte er hier solange unentdeckt so sitzen?“, bellte er mit brüchiger Stimme. „Da war’n doch sicher andere Leute, die ihn gesehen haben müssen!“
Wenn Ranke etwas mitbekommen hatte, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
„Die Bahn war die letzte, Chef“, antwortete er, obwohl er genau wusste, dass Schleiz das Wort „Chef“ nicht ausstehen konnte. „Es war nicht mehr viel Publikum unterwegs. Gut möglich, dass er und sein Mörder die einzigen waren, die mit dem Zug um diese Zeit fuhren.“

Nachdem sie ihre Arbeit im Inneren des S-Bahn-Zuges getan hatten, verließen sie den Wagen. Schleiz kam sich elend vor. Der Alkohol verließ den Körper, er hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund und er wollte nicht wissen, wie er roch und welchen Eindruck er auf Ranke machte.
Aus dem Gebäude heraus, in der angenehm kalten Morgenluft, ließ sich Schleiz neben der Tür an die Wand sinken. Er lehnte mit dem Rücken dagegen und schloss die Augen.
„Geht’s?“, fragte Ranke.
Einen Augenblick nur, dachte Schleiz, einen kleinen Augenblick nur.
Als er die Augen öffnete, rollten sie und ihm wurde schwindelig. Er steckte sich eine Zigarette an.
Während er den Rauch ausstieß, folgte er mit dem Blick seiner Bahn in den dunklen Himmel. Man konnte den beginnenden Berufsverkehr als dumpfes Grollen hören. Die Stadt erwachte.
„Ich kenne den Mann da drinnen“, sagte er und es klang, als diktierte er seine Telefonnummer.
„Wie, die Leiche?“
Er nickte, sog noch einmal tief an seiner Zigarette.
Ranke war höchstens halb so alt wie er selbst und er konnte bei Gott nicht sagen, dass er ihn mochte. Mit Sicherheit beruhte diese Tatsache auf einer gewissen Gegenseitigkeit. Doch Ranke war der einzige Mensch, dem er sich anvertrauen konnte. Niemand war da, so einfach war das.
Seine Frau war tot und sein Sohn hatte sich von ihm abgewandt. Eigentlich hatte er sich abgewandt von jedem und sich seinem eigenen Inneren gewidmet. Freunde hatte er keine, noch nie gehabt und die paar Verwandten, die noch am Leben waren, hatte es mit allen Winden verstreut. Er war allein.
„Wer ist es?“, fragte Ranke nicht eben behutsam.
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn nur einmal gesehen. Ein einziges Mal. Doch das hat gereicht, dass ich dieses Gesicht nicht mehr vergesse.“
„Wo...wo haben Sie den Mann schon gesehen?“
Er schloss wieder die Augen. Die Straßen, das Auto und, noch bevor er wusste, was passieren würde, dieses Gesicht, mit dem entsetzten Ausdruck darin.
„Sie wissen, wie meine Frau umgekommen ist.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Vor einem halben Jahr.“
Er warf den runtergerauchten Stummel fort und steckte sich sofort eine neue an. Seine Hände zitterten.
„Meine Frau und ich, wir wollten zusammen mit unserem Sohn etwas essen gehen. Er hatte das Abitur bestanden, mit Ach und Krach zwar, aber immerhin. Wir hatten nicht mehr damit gerechnet.“
Er lächelte. „Wir kamen an und ich parkte gegenüber dem Restaurant. Als wir eben reingehen wollten, fiel ihr ein, dass sie ihre Handtasche im Auto vergessen hatte. Ich meinte, die würde sie nicht brauchen, aber sie war anderer Meinung. Na, Sie wissen ja.“ Er schluckte. „Wir führten beileibe keine sehr gute Ehe. Es krachte ganz ordentlich, manchmal, und am meisten litt unser Sohn dann darunter. Doch glauben Sie mir, Ranke, ich wusste immer, wo ich hingehörte und meine Frau wusste das ebenso.“
Einen Augenblick herrschte Stille vor der Halle, der Verkehr ließ für einen Moment nach und die beiden sahen sich an.
„Wie dem auch sei, meine Frau ging zurück und holte ihre Handtasche, und als sie sich umwandte und zu uns kommen wollte, feuerte ein Honda Civic heran und nahm sie frontal mit. Sie war sofort tot und hielt noch immer die verdammte Tasche in den Händen“
Ranke hatte sicher davon gehört, er musste davon gehört haben. Damals hatte die ganze Dienststelle von nichts anderem gesprochen. Es war der Beginn des Abstieges des Herbert Schleiz.
„Ich habe das Schwein gesehen, kurz vor dem Aufprall“, fuhr er fort. „Ich habe das Entsetzen gesehen in seinen Augen. Doch ich sah auch, dass er im mindesten bremste.“
Ranke schwieg; die ersten Kriminaltechniker verließen die Halle und gingen hinüber zu den Wagen. Die Morgendämmerung hatte eingesetzt und der Berufsverkehr war in vollem Gange.
„Ich kenne den Rest“, sagte Ranke leise. „Der Wagen war geklaut und der Fahrer wurde nie gefunden, trotz allen Aufwands, den man betrieb. Der Fall ging sogar durch die Presse.“
„Ja.“ Schleiz nickte. „Die Polizei hat ihn nicht gefunden. Da liegt er jetzt drinnen und wird immer kälter.“
„Sie können den Fall nicht übernehmen.“
„Was?“
„Sie sind eingebunden in den Fall, Chef. Strenggenommen sind Sie sogar ein Verdächtiger. Sie müssen die Ermittlungen an jemand anderes übergeben.“
Schleiz sah ihn durchdringend an. „Nein.“ Er wusste, auch wenn Ranke in den Polizeidienst verliebt war, er würde ihn verstehen. Er würde ihn nicht verraten.
„Hören Sie.“ Er ging auf Ranke zu und stellte sich ihm direkt gegenüber.
„Vierundzwanzig Stunden, verstehen Sie? Mehr will ich gar nicht. Schweigen Sie solange und das reicht mir dann. Nur einen Tag. Ich will dem Mann danken, der das hier getan hat.“

Die Prozedur lief an. Die Kriminaltechniker legten ihre Ergebnisse vor, der Arzt führte seine Autopsie durch, die Meldeämter wurden durchforstet, Vermisstenmeldungen, Fingerabdruckdateien. Eine Menge Leute machte sich daran, eine Menge Arbeit zu erledigen und die Resultate dieser Arbeit landeten auf Schleiz’ Schreibtisch. Es hatte begonnen.
Schleiz fuhr nach Hause, duschte ausgiebig und versuchte, ein wenig Ordnung in die Wohnung zu bringen. Dann hörte er seinen Anrufbeantworter ab – keine Nachricht.
Er fuhr zur Dienststelle; es konnte dauern, bis er sein Zuhause wiedersehen würde. An einem Kiosk holte er sich zwei belegte Brötchen, einen großen Kaffee und die Morgenzeitung.
In seinem Büro holte ihn die Arbeit ein, der Schreibtisch war schon jetzt voll mit Ermittlungsergebnissen und ein Zettel ließ ihn wissen, dass der Arzt mindestens zwei Millionen Mal versucht hatte, ihn zu erreichen, ob er denn sein verdammtes Handy nicht bei sich hätte!
Er arbeitete die Papiere der Kriminaltechniker durch und stieß auf keine Besonderheiten. Dann rief er vom Hausanschluss den Arzt an.
Doch Neuigkeiten konnte der ihm auch nicht mitteilen. („Denken Sie, Sie sind der einzige Fall?!“)
Der Tod war bei dem Jungen sofort eingetreten. Das Messer hatte das Herz genau erwischt und damit, so der Polizeiarzt, hatte der Täter enormes Glück gehabt, denn in den allermeisten Fällen einer Messerattacke in den Brustbereich, wurde die Klinge von einer Rippe aufgehalten, mindestens jedoch abgelenkt. Dass in diesem Falle das Messer so sauber durch den Brustkorb ins Herz eindringen konnte, musste nach den Worten des Arztes als kleines Wunder angesehen werden.
Darüber hinaus ließ es darauf schließen, dass sich das Opfer gar nicht, zumindest aber nur sehr gering gewehrt haben konnte. Keine Spur von Abwehr, ein Kampf war überhaupt nicht zu nennen.
Ranke kam ins Büro.
„Schon einen Namen?“, fragte Schleiz, ohne von den Akten aufzusehen.
Ranke setzte sich umständlich gegenüber Schleiz. Er sah frisch aus und roch nach Rasierwasser. Seltsamerweise war ihm auch keine Müdigkeit anzusehen. Schleiz beneidete ihn.
„Der Mann dürfte gegen eins umgebracht worden sein“, entgegnete sein Assistent. „Das ist jetzt gerade acht Stunden her. Lassen wir ihn eine Stunde vorher aus dem Haus gegangen sein, so wird es noch ein paar Stunden dauern, bis sich jemand melden wird, um ihn als vermisst anzugeben.“
„Wenn es jemanden gibt, der ihn vermisst.“
„Er dürfte knapp über zwanzig gewesen sein, gut möglich, dass er allein gewohnt hat. Hat sich jemand darum gekümmert, die einzelnen Haltestellen der Bahn abzuklappern?“
Kurz bevor sie sich am frühen Morgen getrennt hatten, waren sie noch einmal stehen geblieben und Schleiz hatte knappe Anweisungen gegeben, die Ranke eifrig mitschrieb und um die er sich kümmern sollte. Schleiz hatte allerdings den Verdacht, dass Ranke sich darum auch gekümmert hätte, wenn er ihn nicht instruiert hätte.
„Alles“, nickte Ranke. „Ohne Ergebnis.“
Es klopfte. Wolf steckte seinen Kopf herein: „Chef.“
Er legte ein Blatt in einer Klarsichtfolie vor ihn auf den Schreibtisch und verließ dann wieder wortlos das Zimmer.
„Das Messer“, murmelte Schleiz, während er den Zettel nahm und ihn überflog. Stille, während er las und dabei den erwartungsvollen Blick Rankes auf sich spürte.
Er legte das Blatt vor sich. „Tja, wie zu erwarten“, sagte er. „Stinknormales Messer, wie es in jedem – in wirklich jedem – Baumarkt rumliegt. Das geht Tausende Male pro Tag über den Ladentisch, da haben wir keine Chance.“
„Fingerabdrücke?“
„Ja, zwei unterschiedliche. Wobei die Mehrzahl der Abdrücke vom Opfer stammen.“
Ranke machte eine Bewegung und sandte dadurch eine neuerliche Wolke Rasierwasserduftes zu ihm herüber.
„Was bedeutet das nun wieder?“, fragte er. „Mordwaffe mit den Fingerabdrücken des Opfers. Hat er sich selbst umgebracht?“
„Natürlich nicht. Vielleicht heißt das, dass das Messer dem Jungen gehört hat. Was für sich genommen schon sehr ungewöhnlich wäre.“

Die Zeit, in denen er keine Akten zu lesen hatte, keine Gespräche zu führen und mit niemandem zu telefonieren hatte, erging er sich in Grübeleien. Magdas Gesicht erschien ihm wieder, seine Frau, in dem Moment, in dem sie über die Straße kommen wollte. Sie lächelte ihm zu, hielt ihre Tasche unter dem Arm und zog sich ihre Jacke, die sich beim Hinunterbeugen verschoben hatte, zurecht.
Im nächsten Augenblick das Geräusch des Motors, der Blick nach rechts. Das Auto, dann das Gesicht des Jungen – sein Blick, der hilflose Blick. Dann – als klatsche jemand in die Hände – der Aufprall, Magda fliegt durch die Luft, der Honda fährt ungebremst weiter.
Als er mit seinem Sohn gemeinsam über die Straße läuft, hinüber zu seiner Frau, die reglos und verdreht am Boden liegt, kann er noch einmal den Motor des Hondas aufheulen hören. Das Schwein macht sich davon, denkt er kühl.

Gegen Mittag holte er sich einen Döner.
Dieser Tage befand er sich in der Döner-Phase. Es hatte ein Pizza-Phase gegeben, einen Pommes-Abschnitt, Hamburger- und Sandwich-Zeitraum. Er spürte, dass die Döner-Periode sich ihrem Ende neigte, er würde etwas anderes finden, um seinen Hunger zu stillen könnte.
Als er in sein Büro zurückkehrte, saß Ranke vor dem Schreibtisch und schien aufgeregt.
„Ich glaube, wir haben seinen Namen“, sagte er ohne abzuwarten, dass Schleiz ihn aufforderte.
Er setzte sich und wischte mit der Papierserviette über seinen Mund.
„Erzählen Sie!“
„Eine Frau hat angerufen und ihren Sohn als vermisst gemeldet.“
„Beschreibung?“
„Passt genau. Alter 22, eins zweiundachtzig groß, schlank, dunkelblond.“
„Seit wann vermisst?“
„Gestern Abend um zehn. Sie ist sicher, dass ihm etwas passiert ist. Sie war ziemlich aufgelöst am Telefon, hat geweint und den Beamten angefleht, etwas zu tun.“
„Warum hat sie jetzt erst angerufen?“
Ranke zuckte mit den Schultern.
„Gut“, sagte Schleiz. „Wenig Zeit. Fahren wir also hin. Haben Sie die Adresse?“

Er drehte das Fenster bis zum Anschlag herunter, weil er den Gute-Laune-Geruch Rankes nicht mehr aushielt.
Es war Mittag, der Verkehr ruhte größtenteils, so kamen sie recht gut durch.
„Die Frau heißt Martina Kroll“, klärte Ranke ihn auf. „Der Junge ist...war ihr Sohn. Sie wohnt zusammen mit ihrem Mann und einem weiteren Sohn.“
„Ich gehe mal davon aus“, begann Schleiz und fuhr aber nicht weiter fort. Er starrte durch die Windschutzscheibe in den Himmel.
„Was?“
„Ich denke, dass noch niemand bei ihnen war und erzählt hat, was passiert ist mit ihrem Sohn. Wenn er es wirklich ist.“
„Nein.“
Schleiz versuchte den Rest der Fahrt eine Antwort auf die Frage zu finden, ob der Junge den Tod verdient hatte. Er horchte lange in sich hinein, er lauschte auf sein Inneres: Freute er sich über den Tod des Mörders seiner Frau?
Der Junge hatte ihm alles genommen, sein Leben hatte durch den Verlust seiner Frau eine absolute Wendung genommen. Er hatte seinen Halt und seinen Sinn verloren durch die Unachtsamkeit eines anderen Menschen.
Wahrscheinlich – hoffentlich – hatte der Junge Magdas Tod nicht gewollt. Ein Unfall durch Fahrlässigkeit. Er wusste, dass derart täglich auf den Straßen des Landes geschah. Doch die Angehörigen, diejenigen, denen ein Vertrauter genommen wurde, waren die einzigen, die dieser Unfall länger als eine Woche interessierte.
Es war ihm gleichgültig, dass der Junge tot war, fast schon ärgerte es ihn. Nächtelang hatte er sich ausgemalt, wie er ihn eigenhändig erwürgte, wie er die verschiedensten Foltermethoden an ihm zelebrieren könnte. Das war jetzt vorbei, vielleicht fand er seine Ruhe.

Die Familie Kroll wohnte in einer Arbeitergegend. Graue Häuser, Vier- und Fünfstöcker, mit kleinen Fenstern und einer Bauweise, die nur auf Funktion ausgerichtet war.
Vor den Häusern standen vereinzelt schäbige Autos, auf den Bürgersteigen war es um diese Zeit fast leer.
Ranke hielt vor der Nummer 36, sie stiegen aus und als sie sich umschauten, hatte Schleiz das sichere Gefühl, dass sie aus gut einem Dutzend Fenstern beobachtet wurden.
Sie gingen ins Haus. Der Flur war dunkel und kalt. Als sie die Treppe hinaufstiegen, klangen ihre Schritte hohl.
Krolls wohnten im dritten Stock. Vor der Tür standen an der Seite aufgereiht mehrere Paar Schuhe – Herrenschuhe, Damenschuhe und zwei Paar Hausschuhe.
Ranke klingelte. Schleiz trat zurück, er machte sich auf alles gefasst.
Die schwere Tür öffnete sich langsam und eine müde Frau mit rotgeränderten Augen erschien im Rahmen. Für einige Sekunden zeigte sich ein fragender Ausdruck in ihrem Gesicht, der von Verstehen und schließlich Erschrecken verdrängt wurde.
Ranke hielt seinen Dienstausweis hin und stellte sich und Schleiz vor. Dann trat Stille ein. Die Frau blickte ihn an, sah auf Schleiz und auf den Ausweis, den Ranke noch immer hochhielt. Doch sie sagte kein Wort zu ihnen.
„Dürfen wir reinkommen, Frau Kroll?“, fragte Ranke leise.
„Es geht um meinen Jungen, nicht?“, erwiderte sie, während sie die Tür freigab. „Bitte.“
Die Wohnung war klein, zu klein auf jeden Fall für eine Familie mit vier erwachsenen Personen. Die Möbel waren alt, aber sauber.
Sie gingen in ein kleines Wohnzimmer, mit Schrankwand, Couchgarnitur und Fernseher. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher mit einer glimmenden Zigarette. Der Qualm stieg steil nach oben, der Fernseher lief.
„Was ist mit Jörg?“, fragte die Frau, noch bevor sie sich setzten.
Im Wandschrank standen mehrere Fotos und Schleiz war sofort aufgefallen, dass einer der Jungen darauf ihrem Toten verteufelt ähnlich sah. Es schien, als wären sie bei der richtigen Familie.
Durch eine andere Türe kam ein Mann herein, groß, ebenso müde wie seine Frau, unrasiert und mit ungepflegten Haaren.
Er sagte: „Tag!“ und setzte sich in den Sessel vor den Fernseher, nahm die Zigarette und beachtete sie nicht weiter.
„Mein Mann“, sagte Frau Kroll und es klang, als müsse sie sich entschuldigen.
Als sie sich gesetzt hatten, fragte sie noch einmal ungeduldig: „Haben Sie Neuigkeiten von meinem Jungen? Haben Sie ihn gefunden, was ist mit ihm? Sagen Sie schon!“
Der Mann nahm die Fernbedienung vom Tisch und stellte den Ton lauter. Seine Frau starrte ihn an und begann zu weinen, leise und ganz für sich allein.
„Wir können nichts mit Bestimmtheit sagen, Frau Kroll“, begann Schleiz – es war das erste, das er hier sagte. In dem Haus des Mörders seiner Frau. „Aber es hat den Anschein, als wäre Ihr Sohn das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.“
Er zog aus seiner Innentasche ein Foto heraus, das die Techniker von dem Toten heute morgen gemacht hatten. Der Junge sah darauf fast natürlich aus, die geschlossenen Augen ließen an einen Schlafenden denken. Wortlos reichte er ihr das Bild.
Sie warf nur einen kurzen Blick darauf, dann legte sie es auf den Tisch und presste sich die Hand vor den Mund.
Der Mann wandte sich zu ihr, dann nahm auch er das Bild und schaute es sich an. Lange starrte er darauf, ohne das Gesicht zu verziehen. Es war keine Regung zu erkennen, als er es zurückwarf auf den Tisch. Er stand auf und verließ wortlos das Zimmer.
„Er hat Nachtschicht“, erklärte seine Frau. Schon wieder eine Entschuldigung, dachte Schleiz.
„Es tut mir Leid“, sagte Ranke. „Sie müssen Ihren Sohn identifizieren. Dazu werden Sie zu uns kommen und ihm noch einmal gegenübertreten müssen. Werden Sie das können, Frau Kroll?“
Sie nickte stumm. Dann und wann wurde ihr Körper von einem Weinkrampf geschüttelt, es sah aus, als bisse sie in ihr Taschentuch, das sie immer noch vor ihren Mund hielt.
Eine starke, gebeutelte Frau, dachte Schleiz. Er versuchte Ähnlichkeiten zu ihrem Sohn festzustellen. Die Augenpartie schien sie dem Jungen vererbt zu haben. Die Augen standen eng zueinander, was ungewöhnlich und nicht oft anzutreffen war.
„Wie alt war Ihr Sohn?“, fragte Schleiz behutsam.
Sie antwortete nicht sofort. Sie saß immer noch stumm weinend da und starrte auf das Bild, das vor ihr auf dem Tisch lag. Sie schien seine Frage nicht gehört zu haben.
„Frau Kroll.“
Ohne den Blick zu heben, sagte sie leise: „Er war 22.“ Und dann noch leiser: „Was ist passiert mit ihm?“
„Er wurde erstochen in einem S-Bahn-Zug. Gestern nacht gegen 1Uhr 30 wurde er gefunden, tot.“
Sie schluchzte laut auf. Schleiz befürchtete, dass sie in einen hysterischen Anfall verfallen würde, doch einige Momente später hatte sie sich wieder im Griff. Sie wimmerte nur ganz leise und behielt dabei das Foto im Auge.
„Ich habe es gewusst“, schien sie vor sich hin zu singen. „Ich habe es gewusst, immer.“
„Frau Kroll.“ Er wartete bis er sich ihrer Aufmerksamkeit sicher sein konnte. Sie unterbrach ihre geflüsterte Litanei und schaute ihn an. Die Augen waren aufgequollen, so dass sie nur halb geöffnet waren. Sie machte den Eindruck einer sehr müden Frau, die einen lange geführten Kampf verloren sieht. Sie tat ihm Leid.
„Frau Kroll, wir müssen Ihnen trotz allem einige Fragen stellen. Ja? Ich verstehe, dass das schwer ist für Sie, aber es muss sein. Haben Sie das verstanden?“
Sie nickte augenblicklich.
Die Personalien abzufragen gelang gut. Schleiz bekam einen kleinen Eindruck von der Familie und Mutter Kroll gab es ein wenig Sicherheit, die bekannten Daten aufzusagen.
„Was arbeitete Jörg“, frage Schleiz.
Sie schaute zunächst auf Ranke, der lächelte sie ermutigend an, dann ging ihr Blick zurück zu Schleiz.
„Er war arbeitslos“, antwortete sie und senkte ihre Lider. Sie schämt sich schon wieder, dachte Schleiz. Sie schämt sich für sich selber, sie schämt sich für ihren Mann, für ihren Sohn.
„Seit zwei Jahren schon“, fuhr sie fort. „Er konnte einfach keine Arbeit finden, was er auch tat. Hat jede Menge Bewerbungen geschickt, ehrlich, überall hin, aber keiner hat ihn gewollt.“
„Was hat er gelernt?“
„Maurer, auf dem Bau. Ist kein leichter Beruf, das. Aber dem Jörg hat er gefallen. War gerne draußen.“
Sie lächelte, ganz zaghaft und auch ganz kurz. Es war kaum erschienen auf ihrem Gesicht, da war es auch wieder verschwunden.
„Bis seine Firma dichtgemacht hat. Über Nacht war’n die pleite und die versammelten Arbeiter arbeitslos. Das hat er nicht verstanden, der Junge. Er war doch so fleißig, war immer der letzte auf der Baustelle.“
„Er war also arbeitslos, hat Bewerbungen geschrieben und versucht, sich Arbeit zu beschaffen. Was hat er sonst so getrieben, den Tag über?“
Sie sah ihn verständnislos an.
„Ich meine, was hat er getan den ganzen Tag? Hat er Freunde getroffen, Fußball gespielt? Was weiß ich.“
„Na, was junge Leute halt machen“, antwortete sie noch immer mit fragendem Blick. „Er hat sich nicht gelangweilt, immer was zu tun gehabt. Er hatte viele Freunde.“
Spritztouren machen, dachte Schleiz. Mit geklauten Autos. Leute über den Haufen fahren und sich nicht mehr drum kümmern.
„Er hat bei Ihnen gelebt?“
„Ja.“
„Da müssen Sie doch mitbekommen haben, was er trieb, den lieben langen Tag.“
Sie setzte sich gerade hin. „Ich bin morgens früh aus dem Haus, und abends muss ich auch wieder los. Wissen Sie, ich geh’ putzen und da fange ich an, wenn andere aufhören zu arbeiten. Außerdem ist Jörg ein erwachsener Mensch und hat...“Sie stockte und sah ihn fast erschrocken an. „...hatte ein eigenes Leben. Was hat das alles mit seinem Tod zu tun? Sie sollen seinen Mörder finden und nicht in seinem Privatleben herumschnüffeln.“
Ein Schweigen breitete sich aus in dem kleinen Wohnzimmer, das trotz des eingeschalteten Fernsehers bedrückend war.
Ranke setzte sich in seinem Sessel zurecht, räusperte sich kurz und fragte: „Frau Kroll, wann haben Sie Ihren Sohn Jörg das letzte Mal gesehen?“
Ihr Blick wanderte von Schleiz zu Ranke.
„Gestern Abend“, sagte sie.
„Wann genau?“
„Um zehn wohl. Ich bin dann ins Bett gegangen und habe...“ Sie fing wieder an zu weinen und war einige Moment nicht in der Lage weiter zu reden. Sie schnäuzte sich, dann atmete sie tief ein.
„Normalerweise gehe ich früher zu Bett, doch gestern war die Apotheke, die ich abends putze, länger offen und ich war ziemlich spät zu Hause.“
„Ihr Mann?“
„Der ist um acht aus dem Haus zur Nachtschicht. Er kommt morgens um sieben zurück.“
Als hätte er auf sein Stichwort gewartet, kam der Mann ins Zimmer, setzte sich stumm zurück vor den Fernsehapparat und steckte sich eine neue Zigarette an. Schleiz konnte sehen, dass er geweint hatte.
„Sie haben also Ihren Sohn nicht fortgehen sehen?“
Schweigendes Kopfschütteln.
„Wissen Sie, was er vorhatte?“
„Er hat mir nichts gesagt.“
Schleiz holte seine Zigarettenschachtel hervor, fingerte sich eine heraus und steckte sie sich an. Stumm und ohne sich umzuwenden, schob Kroll ihm den Aschenbecher herüber.
„Danke.“ Doch es kam keine Reaktion.
„Geschah es öfter, dass Ihr Sohn so spät noch aus dem Haus ging?“, setzte er fort.
Jetzt drehte sich Kroll zu ihm um. Er sah ihn an mit verweinten Augen und schleuderte ihm ins Gesicht: „Was denken Sie? Er ist ein Junge, er hat ein eigenes Leben und da kann er tun, was ihm passt. Nur weil er bei seinen Eltern wohnt und keine Arbeit hat, heißt das nicht, dass er nicht allein entscheiden kann, was gut für ihn ist.“
Schleiz dachte bitter, dass der Junge eben nicht hatte tun können, was ihm passte. Und als er es doch getan hatte, war seine Frau dabei umgekommen.
„Was könnte er denn getan haben? Haben Sie eine Ahnung, wo er hingegangen sein könnte? Hat er sich mit jemandem getroffen, vielleicht? War er mit jemandem zusammen?“
Es klapperte im Flur. Sie fuhren herum.
Ein Junge kam herein, vielleicht 16, 17 Jahre alt, mit einem Shirt, dessen Kapuze er über den Kopf gezogen hatte.
Er stutzte, als er Ranke und Schleiz sitzen sah. Seine Mutter hatte verweinte Augen, der Vater ebenfalls.
„Was is los?“, fragte er ohne zu grüßen.
Seine Mutter sah ihn von unten an und sagte leise: „Jörgie ist tot.“
Der Junge musste sich am Türrahmen festhalten, das war seine einzige Reaktion. Er sah seine Mutter wieder an und sie setzte hinzu: „Ermordet,“ Dann drückte sie ihr Taschentuch wieder vor den Mund.
Der Junge drehte sich um und verließ das Zimmer wieder. Frau Kroll erhob sich und folgte ihm.
Als sie zurückkehrte, waren ihre Augen noch verquollener, wenn das überhaupt möglich war.
Die Geräusche, die sie machte, als sie sich an den Tisch zurücksetzte, waren laut gegenüber der Stille, in die sie eindrang.
„Heiko“, erklärte sie leise. „Jörgs Bruder. Er hing sehr an ihm, sie waren ein gutes Geschwisterpaar. Und in den letzten Tagen...“
Sie brach ab und warf einen seltsamen Seitenblick auf ihren Mann. Der beachtete sie nicht und folgte nur dem Geschehen auf dem Fernsehschirm.
„Was war in den letzten Tagen, Frau Kroll“, schaltete sich Ranke ein. „Erzählen Sie es uns.“
Wieder ein Blick auf ihren Mann.
„Er war...irgendwie...verändert“, sagte sie.
„Inwiefern?“
„Es ging ihm besser, glaube ich.“ Ihr Mann bewegte sich vor dem Fernseher, drehte sich aber nicht um.
„Besser ging’s ihm“, brummte er.
„Wie, besser?“, fragte Schleiz. „Vorher ging’s ihm schlecht, oder was? War er krank?“
„Ja. Nein. Ich weiß nicht.“
„Was denn, Frau Kroll, was war mit Jörg, bevor es ihm besser ging? Seit wann ging es ihm schlecht?“
Sie wischte sich über die Augen. „Weiß nicht.“ Und schaute kurz zu ihrem Mann. „Vielleicht ein halbes Jahr.“
Ranke zog scharf die Luft ein. Schleiz unterdrückte den Drang, zu ihm hinüber zu blicken.
Wie äußerte sich das, dass es Ihrem Sohn schlechter ging?“
Er wurde traurig.“
„Traurig?“
Sie nickte und schaute ihn unglücklich an. „Sehr traurig. Er war arbeitslos, das stimmt. Aber er verlor seine Lebenslust nicht. Er hatte immer Freunde, nicht wahr, Jürgen?“
Der Mann brummte wieder.
„Und das war mit einem Mal vorbei?“
„Vor einem halben Jahr.“
„Wie muss ich mir das vorstellen? Ging das über Nacht, ganz plötzlich, dass Jörg den Lebensmut verlor? Oder zog sich das hin über Tage und Wochen?“
Sie seufzte tief. „Das ging über Nacht, mit einem Mal. Morgens, ich glaube es war ein Sonntag...“ –
Schleiz Frau war an einem Samstag Abend getötet worden. –
„...da war er plötzlich wie ausgewechselt, war ruhig, sagte keinen Mucks. Und als wir ihn fragten, was los sei, da hat er plötzlich rumgeschrieen und ist aus dem Zimmer gerannt.“
„Und dann? Hat sich sein Verhalten gebessert?“
„Im Gegenteil. Es wurde immer schlimmer. Er aß kaum noch etwas, nahm ab. Er magerte immer mehr ab, man sah ihm richtig an, dass es ihm schlecht ging. Er wurde schmal und ganz grau im Gesicht, und wenn er mal aus seinem Zimmer rauskam, dann bewegte er sich ganz langsam, wie ein – Zombie. Tagelang nur in seinem Zimmer, kein Essen, kein Trinken. Nur immer diese furchtbare Musik.“
„Was für Musik?“
„Heavy Metal“, kam es vom Ehemann.
„So hat er in seinem Zimmer gesessen. Hat die Musik bis zum Anschlag aufgedreht und sich nicht gemeldet. Es wurde immer schlimmer.“
Sie stand auf, wischte sich übers Gesicht und fragte im Hinausgehen: „Wollen Sie was trinken?“
Ohne ein Antwort abzuwarten, ging sie und hinterließ eine Leere.
Die Sendung im Fernsehen war zu Ende, quengelnde, nervende Werbespots überliefen den Schirm. Der Mann stellte den Apparat mit der Fernbedienung aus und verließ ebenfalls den Raum, ohne etwas zu sagen. Ranke und Schleiz blieben allein.
„Was meinen Sie?“, fragte Ranke leise; es war trotzdem unnatürlich laut nach dem unnötigen Krawall aus dem Fernseher.
„Ich denke“, antwortete Schleiz, „dass er es ist. Alles passt genau, die Zeiten, das Verhalten. Der Unfall vor einem halben Jahr auf einem Samstag, der ihn aus der Bahn wirft. Am Sonntag geht es ihm mies, er hat ein schlechtes Gewissen und macht sich Vorwürfe. Das ist mehr, als ich die ganze verdammte Zeit erwartet habe.“
„Wie ist dann die plötzliche Besserung zu erklären?“
„Das weiß ich auch noch nicht.“
Die Frau betrat das Zimmer wieder und sie brachen die Unterhaltung ab. Sie balancierte Kaffeegeschirr, eine Kanne, Milch und Zucker auf einem Tablett, stellte es auf dem Tisch ab, peinlich darauf bedacht, nicht die Fotografie zu verdecken, und begann, die Tassen zu verteilen. Sie fragte nicht, sondern schenkte jedem ein und setzte sich dann auf ihren Platz.
„Frau Kroll“, begann Schleiz, nachdem er einen Schluck Kaffee genommen hatte. „Wann nahm es ein Ende, dass es Ihrem Sohn schlecht ging, wann ging es bergauf?“
„Vorgestern.“
Das Wort stand im Raum, Schleiz wartete, dass sie fortfuhr, doch sie schwieg.
„Wie haben Sie das bemerkt?“, fragte Ranke stattdessen.
„Er hat gelächelt, einfach so. Aus heiterem Himmel hat er mich angelächelt. Da hab ich gewusst, jetzt geht’s ihm besser.“
Sie begann wieder zu weinen, hielt sich den Mund und schluchzte.
„Er wusste, dass er sterben musste“, presste sie hervor. „Deshalb war er so glücklich. Er hat gewusst, dass seine Leiden ein Ende haben.“
Ranke und Schleiz blickten sich an. Eine Weile verharrten sie so, einander anstarrend, und von einem zum anderen – von Schleiz zu Ranke – sprang das Verstehen.
„War sonst noch etwas Auffälliges an seinem Verhalten?“, fragte Schleiz und plötzlich klang er aggressiv und hart. Frau Kroll sah ihn verwirrt an bevor sie antwortete.
„Er telefonierte viel, gestern und vorgestern“, sagte sie schließlich.
„Mit wem?“ Schleiz schrie es fast.
„Woher soll ich das wissen?“
„Sagen Sie mir, mit wem Ihr Sohn telefonierte! Wo ist sein Handy?“ Er schaute Ranke fragend an. Der schüttelte den Kopf.
„Jörg hat kein Handy“, antwortete die Kroll.
„Ja, verdammt, womit hat er dann telefoniert?“
Schleiz war aufgesprungen und funkelte die verschüchterte Frau an. Die wagte nicht, sich zu regen und flüsterte: „Mit Heikos Handy.“
„Wo ist sein Zimmer?“, schrie Schleiz und stürzte zur Tür hinaus. Ranke sprang auf und lief ihm hinterher. „Verdammt“, rief er. „Machen Sie bloß keinen Scheiß!“
Schleiz im Flur riss jede Türe auf.
„Ich will das verdammte Handy“, brüllte er. „Ich brauch die Nummer.“
Dann fand er das Zimmer, in dem sich Jörgs Bruder aufhielt. Der Junge lag auf dem Bett und sprang auf, als Schleiz in den Raum stürzte.
„Was soll ’n der Scheiß“, nölte er und riss die Kopfhörer herunter. „Ich hab’ nichts getan.“
„Dein Handy“, stieß Schleiz atemlos hervor. „Ich will dein Handy haben.“
Ranke erschien in der Tür und hielt sich schwer atmend am Rahmen fest.
„Was soll das“, rief er. Hinter ihm tauchte Frau Kroll auf und zu guter Letzt ihr Mann.
Schleiz störte das nicht. Er griff den Jungen mit ungeheurer Kraft und zerrte ihn zu sich heran. Er zog das Gesicht ganz nah und zischte: „Gib mir dein verdammtes Handy!“
Da war Ranke bei ihm, packte wiederum Schleiz und versuchte ihn von dem Jungen wegzuziehen, ihn zur Vernunft zu bringen, aus der Rage heraus.
Schleiz ließ den Jungen los, der zurücksank. Ranke hielt Schleiz einige Sekunden umklammert. „Gut?“, fragte direkt in dessen Ohr.
Schleiz sank erschöpft auf einen Stuhl und sagte statt zu antworten: „Mein Sohn ist nur wenig älter als du, Junge.“
Er blickte zu Ranke auf und der sah in dem Blick nur Trauer.
Ranke sagte zu dem Jungen: „Geben Sie ihm Ihr Handy, bitte. Er will nur etwas nachschauen.“
Heiko Kroll zog aus der Hosentasche ein abgegriffenes Klapp-Handy hervor und reichte es Schleiz. Der kannte sich damit aus – sein Sohn hatte ein ähnliches Modell.
Er öffnete es, suchte im Menu das Anrufprotokoll hervor und öffnete die Liste der gewählten Rufnummern. Er brauchte nicht lange zu blättern, bis ihm die vertraute Telefonnummer ins Auge sprang.
Er gab Ranke das Handy, bedeckte seine Augen mit der rechten Hand und begann zu weinen.
Seine Stimme zitterte und wirkte brüchig, als er sagte: „Sie ist es. Die Telefonnummer gehört meinem Sohn.“

Benjamin Schleiz wurde in seiner Wohnung nicht angetroffen, auch nicht in der seiner Freundin. Ebenso wenig reagierte er auf Anrufe auf sein Handy. Die Fahndung nach ihm wegen dringenden Verdachts auf Mordes wurde ausgeschrieben.
Erst am anderen Morgen gegen drei Uhr konnte er verhaftet werden; er hatte sich selbst gestellt.

 

Hallo Hanniball!

Stilistisch ist die Geschichte wieder sehr schön. Wie jede, die ich von Dir bisher gelesen habe, liest sie sich sehr flüssig.
Sehr spannend wäre sie, wenn Du nicht durch den Titel schon verraten würdest, worauf man beim Lesen achten muß – ich dachte mir jedenfalls schon am Ende des ersten Absatzes, daß es möglicherweise etwas mit seiner Frau oder seinem Sohn zu tun hat; als Du dann erzählst, daß die Mutter tot ist und der Sohn sich von ihm abgewendet hat, war es der zweite Hinweis, und als Du den Unfall schilderst, daß er mit dem Sohn auf der anderen Seite stand und er das Gesicht des Fahrers sah, war mir dann klar: Der Sohn hat ihn auch gesehen.
Ich glaube aber nicht, daß ich so schnell draufgekommen wäre, wenn nicht dieser verräterische Titel wäre, der mich auf die richtige Fährte gebracht hat.

Die einzige Unstimmigkeit habe ich hier gefunden:

bis ihm die vertraute Telefonnummer ins Auge sprang
Die »vertraute« Telefonnummer glaube ich nicht, nachdem Du erst erzählt hast:
sein Sohn hatte sich von ihm abgewandt. […] Er war allein.
Unter »von ihm abgewandt« verstehe ich, daß sie keinen oder kaum Kontakt haben, also wird er die Nummer wohl kaum auswendig wissen, noch dazu in Zeiten des Handys, wo man die Nummern ja eingespeichert hat und sie gar nicht mehr extra wählen muß. – Ich würde ihn sein Handy herausnehmen und die Nummern vergleichen lassen.

Ansonsten aber wirklich eine feine Geschichte!

Nachdem Du sicher schon sehr auf die erste Kritik wartest, poste ich das jetzt mal und meine Anmerkungen kommen dann am Abend nach. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Häferl!

Ein bekannter Name, nicht das erste Mal!:)

Gleich vorweg:

Nachdem Du sicher schon sehr auf die erste Kritik wartest

Nachdem ich in den vergangenen Monaten sehr...inaktiv gewesen bin, kann ich sicher nicht erwarten, dass man sich auf die Story stürzt, als hätte man nur auf sie gewartet. Da ich weiß, dass gerade das Spannungs-Forum nicht das belebteste ist, habe ich mit einem altersweisen (!) na ja Lächeln darauf geschaut.

Wobei ich mich natürlich umso mehr freue, dass du die Story gelesen und kritisiert hast!

Stilistisch ist die Geschichte wieder sehr schön.

Ich freu mich, ich versuche in letzter Zeit sauber zu arbeiten, das Handwerk vernünftig zu benutzen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Ende als Überraschung haben wollte. Es war mir schon klar, dass sich die Auflösung ankündigt und dass man schon lange vorher ahnt, worin die Tragik des Helden besteht.
Dass diese Ahnung allerdings schon nach dem ersten Abschnitt beginnt, damit hätte ich nicht gerechnet.

Ich werde mal abwarten, eventuell Kontakt mit einem Mod aufnehmen, um den Titel zu ändern.

Ich danke dir, war schön von dir zu hören.

Freundliche Grüße von hier!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hanniball,

Die Nacht war finster und verschwommen. Der Abend war lang gewesen, voller Alkohol und vergangener Bilder.
Das Plusquamperfekt ist korrekt, aber wirkt schon sehr unlebendig für einen Anfang, gerade in „war gewesen“ Nummer. Im Prinzip hast du in den ersten beiden Sätzen kein einziges „ordentliches“ Verb, sondern nur war+Adverb.

Schleiz wusste sofort wo er war
wusste sofort,

und bis auf das nervige Klingeln seines Handys war es totenstill in seinem Schlafzimmer.
„Totenstill“ ist ein Elativ und damit eigentlich noch ne Nummer stiller als ein Superlativ, von daher ist da so ein „bis auf“ immer unangebracht. „Still“ war es, wenn schon. Und nichtmal das, denn wenn das Klingeln „nervig“ ist, dann würde es ja ohnehin irgendwelche leiseren Geräusche übertönen. Es ist still außer das leise Summen der Klimanalge – okay. Es ist still außer dem leichten Schnarchen der Ehefrau – auch okay. Aber es ist still, man hört nur den Presslufthammer in voller Lautstärke? Außerhalb eines ironischen Zusammenhangs nicht zu gebrauchen.

„Als der Zug im Depot war, wurde er vom Reinigungspersonal entdeckt.“
Klingt irgendwie schräg, gerade für wörtliche Rede. „ist er … entdeckt worden“ wäre natürlicher, oder?

Allein diese Aussage zeigte, dass er spät am Tatort war
Zu spät?

Doch ich sah auch, dass er im mindesten bremste.“
Nicht im Mindesten bremste er doch.

„Der Wagen war geklaut und der Fahrer wurde nie gefunden, trotz allen Aufwands, den man betrieb. Der Fall ging sogar durch die Presse.“
Schlag mich, aber ich finde das Präteritum passt einfach nicht zur wörtlichen Rede. Wer spricht denn so? Die natürliche Form der Vorzeitigkeit in der wörtlichen Rede ist das Perfekt.

und ein Zettel ließ ihn wissen, dass der Arzt mindestens zwei Millionen Mal versucht hatte, ihn zu erreichen, ob er denn sein verdammtes Handy nicht bei sich hätte!
Holpert ein bisschen, weil der indirekte Fragesatz ohne dieses Frage-Verb auftaucht.

Magdas Gesicht erschien ihm wieder, seine Frau, in dem Moment, in dem sie über die Straße kommen wollte.
Das „seine Frau“ kann ruhig raus. Nicht weil ich mir den Namen gemerkt hätte, sondern weil ich mir gemerkt habe, dass ihn ihr Tod noch sehr beschäftigt hätte.

Dieser Tage befand er sich in der Döner-Phase. Es hatte ein Pizza-Phase gegeben, einen Pommes-Abschnitt, Hamburger- und Sandwich-Zeitraum. Er spürte, dass die Döner-Periode sich ihrem Ende neigte, er würde etwas anderes finden, um seinen Hunger zu stillen könnte.
Das gefällt mir, weil es – ohne dir nahetreten zu wollen – das erste echte „Individuelle“ an dem Kommissar ist. Davon bitte mehr.

Er drehte das Fenster bis zum Anschlag herunter, weil er den Gute-Laune-Geruch Rankes nicht mehr aushielt.
Auch gut.

Die Augen standen eng zueinander, was ungewöhnlich und nicht oft anzutreffen war.
Was ungewöhnlich, aber sehr häufig anzutreffen war – wäre auch ziemlicher Unsinn, oder? ;)

„Was war in den letzten Tagen, Frau Kroll“, schaltete sich Ranke ein.
Ab und an fehlt da ein Fragezeichen. Weiter vorne auch noch mal.

Und als wir ihn fragten, was los sei, da hat er plötzlich rumgeschrieen und ist aus dem Zimmer gerannt.“
Zur Sprachebene der Mutter passt das „sei“ nicht.

Ja, durch den Titel verschenkt die Geschichte ein wenig den Überraschungseffekt. Im Allgemeinen hat mir die Geschichte leider zu wenig Individuelles. Zwei, drei Passagen sind da „anders“, aber sonst ist es mir schon zu sehr glattgebügelt. Die Sprache hat an einigen Stellen auch etwas umständliches, kam da schwer in den Text rein. Die Figuren bleiben alle ein wenig schwach. Frau Kroll und ihr Mann sind da noch am stärksten in dem Kontrast, aber gerade der Kommissar und sein Partner sind schon wandelnde Klischees.
Insgesamt eine ordentliche Geschichte, aber für mich ohne sonderliche Wirkung.

Gruß
Quinn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hanniball!

Wollte ja eigentlich gestern schon zu dieser Liste kommen, war dann aber zu lang mit dem CD-Wichteln beschäftigt, sorry! ;)

Das mit der Telefonnummer nehme ich übrigens zurück. Natürlich kann er sich ein halbes Jahr später noch an die Nummer erinnern, wenn er sie liest, trotzdem sollte er sie aber überprüfen. Er könnte ja Ranke zum Beweis sein Handy zeigen.

Nachdem ich in den vergangenen Monaten sehr...inaktiv gewesen bin, kann ich sicher nicht erwarten, dass man sich auf die Story stürzt, als hätte man nur auf sie gewartet.
Naja, trotzdem ist es hart, so lange auf den ersten Kommentar zu warten, zumindest mir ging es neulich so. Solange ich warte, kann ich auch überhaupt nichts lesen, weil ich mich dann nicht konzentrieren kann, und klicke nur blöd herum. :D

Ich freu mich, ich versuche in letzter Zeit sauber zu arbeiten, das Handwerk vernünftig zu benutzen.
Ich hoffe, die Freude wird jetzt nicht durch die Liste unten gedämpft, die jetzt länger geworden ist, als ich zuerst dachte. Ich fand die Geschichte wirklich schön zu lesen und meine Anmerkungen sind ja eigentlich nur Feinschliff. ;)

Daß die Figuren schwach bleiben und nur Frau Kroll etwas Individuelles hätte, finde ich nicht. Die beiden Kollegen unterscheiden sich zum Beispiel stark in ihrer Korrektheit: Während Schleiz trotz Bereitschaft trinkt und kaum aufkommt, ist Ranke korrekt und pünktlich; fast ein Wunder, daß er sich überreden läßt, die persönliche Betroffenheit von Schleiz nicht sofort zu melden.
Auch diese Stelle zeigt den Unterschied recht gut:

„Mein Sohn ist nur wenig älter als du, Junge.“
Er blickte zu Ranke auf und der sah in dem Blick nur Trauer.
Ranke sagte zu dem Jungen: „Geben Sie ihm Ihr Handy, bitte. Er will nur etwas nachschauen.“
Schleiz vergißt sich, redet den Jungen mit du an, Ranke bleibt korrekt beim Sie, sagt »bitte« und nennt den Grund.

Von schwach will ich aber vor allem bei Schleiz nicht reden, denn wie Du ihn zuerst als rachsüchtigen Witwer zeigst, der sich über den Tod des Mörders seiner Frau freut und sogar ausspricht, daß er dessen Mörder danke sagen will, ihn aber dann langsam verstehen und vergeben läßt, finde ich sogar sehr gelungen und es verleiht der Geschichte einen Tiefgang, der vielen Geschichten fehlt. Sein Leid wird nicht kleiner, dadurch, daß der andere tot ist, es leiden dadurch nur noch mehr Menschen.
Auch, daß es dem Sohn schlecht ging nach dem Unfall, finde ich sehr glaubwürdig. Kein Gefängnis kann jemanden so bestrafen wie das Gewissen.

Dass diese Ahnung allerdings schon nach dem ersten Abschnitt beginnt, damit hätte ich nicht gerechnet.
Wie gesagt, nur dadurch, daß man nach dem Sinn des Titels sucht, und man dann natürlich annimmt, daß Du wohl deshalb von seiner Familie erzählst, weil sie etwas damit zu tun hat.


So, jetzt aber an die Arbeit! ;)

»Die Nacht war finster und verschwommen. Der Abend war lang gewesen, voller Alkohol und vergangener Bilder.
Schleiz wusste sofort wo er war und umgehend hasste er sich und seine Umwelt dafür.«
– würde das Erzählte gleich von Beginn an auf den Protagonisten beziehen, also nicht »Die Nacht war« und »Der Abend war«; evtl. würde ich den Wecker vorziehen: Er sah die Anzeige seines Digitalweckers nur verschwommen …
– den Beistrich nach »sofort« hat inzwischen ja Quinn angemerkt, aber worauf soll sich das »dafür« beziehen? So, wie es da steht, wohl darauf, daß er sofort wußte, wo er war, vermutlich meintest Du aber doch den Alkohol, oder?

»Diese Atmosphäre zwang Schleiz selbst gedämpft zu sprechen.«
– Schleiz, selbst

»Dieser und Jener begrüßte ihn mit einem stummen Kopfnicken,«
– Dieser und jener

»Der Mund des Jungen stand offen, es hatte den Eindruck, als schnappe er nach Luft.«
– entweder »er hatte den Eindruck« oder »Schleiz hatte«, oder ganz umformulieren, z. B. »es sah aus, als …« oder »es machte den Eindruck«

»und sein Herz kaum dem Antrieb des Adrenalin nachkam.«
– des Adrenalins

»„Wieso konnte er hier solange unentdeckt so sitzen?“«
– so lange

»Als er die Augen öffnete, rollten sie und ihm wurde schwindelig.«
– »rollten sie« klingt nach Comic, außerdem wirkt es so, als würde ihm von den rollenden Augen schwindlig, besser: Als er die Augen öffnete, wurde ihm schwindelig.

»Während er den Rauch ausstieß, folgte er mit dem Blick seiner Bahn in den dunklen Himmel.«
– die »Bahn« würde ich hier vermeiden, nachdem wir ja schon die S-Bahn haben; Synonyme wären »sein Aufsteigen« oder »seinen Weg«
– statt »folgte er mit dem Blick« wäre »beobachtete« einfacher
– nicht unbedingt notwendig ist das »Während«: Heftig stieß er den Rauch aus und beobachtete sein Aufsteigen in den dunklen Himmel. (»Heftig«, um keinen Er-Satz zu produzieren.) Oder z. B. auch: Heftig stieß er den Rauch aus und schaute ihm in den dunklen Himmel nach.

»hatte es mit allen Winden verstreut.«
– soviel ich weiß, heißt die Redewendung »in alle Winde/Windrichtungen verstreut«

»„Wo...wo haben Sie den Mann schon gesehen?“«
– Leertasten: Wo … wo

»Er warf den runtergerauchten Stummel fort und steckte sich sofort eine neue an.«
– Ein Zigarettenstummel ist an sich schon heruntergeraucht, und »eine neue« paßt grammatikalisch nicht dazu. Da er sich jedoch sicher keinen neuen Stummel ansteckt, würde ich den auf »die heruntergerauchte Zigarette« ändern.

»Er hatte das Abitur bestanden, mit Ach und Krach zwar, aber immerhin. Wir hatten nicht mehr damit gerechnet.“«
– gefällt mir mit den beiden »hatten« nicht sehr

»„Wir kamen an und ich parkte gegenüber dem Restaurant. Als wir eben reingehen wollten, fiel ihr ein, dass sie ihre Handtasche im Auto vergessen hatte.«
– »kamen an« würde ich rauslassen und das Parken nicht nur auf Schleiz beziehen: Wir parkten gegenüber dem Restaurant.
– »eben reingehen wollten« ließe sich z. B. durch »Als ich die Tür öffnete«, »Als ich ihr die Tür aufhielt« – eher halt etwas Bildliches.

»hielt noch immer die verdammte Tasche in den Händen“«
– Händen.“

»Ranke hatte sicher davon gehört, er musste davon gehört haben. Damals hatte die ganze Dienststelle von nichts anderem gesprochen.«
– das »hatte« im zweiten Satz läßt sich z. B. durch »Es war damals Gesprächsthema Nummer eins in der Dienststelle« vermeiden.

»„Ich habe das Schwein gesehen, kurz vor dem Aufprall“, fuhr er fort. „Ich habe das Entsetzen gesehen in seinen Augen. Doch ich sah auch, dass er im mindesten bremste.“«
– statt »Doch ich sah auch« würde ich einfach ein »Und« schreiben: Und dass er nicht im mindesten bremste.

»und gingen hinüber zu den Wagen.«
– »hinüber« ist überflüssig, würde »und gingen zu ihren Wagen« schreiben.

»„Ich kenne den Rest“, sagte Ranke leise. „Der Wagen war geklaut und der Fahrer wurde nie gefunden, trotz allen Aufwands, den man betrieb.«
– die Zeitform stört mich eigentlich nicht, aber ich würde es stichwortartig natürlicher finden: Der geklaute Wagen, der Fahrer nie gefunden
– nachdem sie selbst zur Kripo gehören, würde ich »den wir betrieben« schreiben.
– daß der Fall durch die Presse ging, würde ich weglassen; er beweist ihm ja nur, daß er sich erinnert, dafür muß er ihm das nicht erzählen.
Ist natürlich klar, daß Du es dem Leser erzählen willst, aber in dem Fall fände ich es besser, das über die Erzählerstimme zu machen.

»„Ja.“ Schleiz nickte. „Die Polizei hat ihn nicht gefunden. Da liegt er jetzt drinnen und wird immer kälter.“«
– auch hier würde ich den Polizei-Satz weglassen, nur schreiben: Ja. […] Und jetzt liegt er da drinnen und …

»ob er denn sein verdammtes Handy nicht bei sich hätte!«
– würde nur einen Punkt statt dem Fragezeichen machen

»Der Tod war bei dem Jungen sofort eingetreten. Das Messer hatte das Herz genau erwischt und damit, so der Polizeiarzt, hatte der Täter enormes Glück gehabt, denn in den allermeisten Fällen einer Messerattacke in den Brustbereich, wurde die Klinge von einer Rippe aufgehalten, mindestens jedoch abgelenkt. Dass in diesem Falle das Messer so sauber durch den Brustkorb ins Herz eindringen konnte, musste nach den Worten des Arztes als kleines Wunder angesehen werden.«
– beim ersten Lesen fiel es mir nicht so auf, aber jetzt doch: Der Arzt spricht von enormem Glück und einem Wunder? Diese Sicht würde doch besser zu Schleiz passen, der Arzt müßte vielmehr vom Pech für das Opfer sprechen.

»Keine Spur von Abwehr, ein Kampf war überhaupt nicht zu nennen.«
– wenn schon keine Spur einer Abwehr war, reicht hinterher eigentlich »kein Kampf«

»Hat sich jemand darum gekümmert, die einzelnen Haltestellen der Bahn abzuklappern?“«
– ich frage mich, wofür das Abklappern der Haltestellen gut sein soll und ob sie das wirklich machen würden.

»Die Zeit, in denen er keine Akten zu lesen hatte,«
– in der

»Es hatte ein Pizza-Phase gegeben, einen Pommes-Abschnitt, Hamburger- und Sandwich-Zeitraum.«
– eine Pizza-Phase
– vor »Hamburger- …« würde ich noch einmal »einen« schreiben

»um seinen Hunger zu stillen könnte.«
– um seinen Hunger stillen zu können.

»sagte er ohne abzuwarten, dass Schleiz ihn aufforderte.«
– ich meine, da gehört ein Beistrich nach »er«, und das »dass« ließe sich durch »ohne Schleiz’ Aufforderung abzuwarten« vermeiden

»„Der Junge ist...war ihr Sohn.«
– Leertasten

»begann Schleiz und fuhr aber nicht weiter fort.«
– würde meiner Meinung nach besser klingen, wenn Du statt dem »und« einen Beistrich machst.

»„Ich denke, dass noch niemand bei ihnen war und erzählt hat, was passiert ist mit ihrem Sohn. Wenn er es wirklich ist.“«
– statt »bei ihnen« fände ich »dort« passender, oder wenn er es auf die Mutter bezieht: bei ihr

»Schleiz versuchte den Rest der Fahrt eine Antwort auf die Frage zu finden,«
– Fahrt, eine

»Er wusste, dass derart täglich auf den Straßen des Landes geschah.«
– »des Landes« könntest Du streichen, da es auch in anderen Ländern so ist

»Doch die Angehörigen, diejenigen, denen ein Vertrauter genommen wurde, waren die einzigen, die dieser Unfall länger als eine Woche interessierte.«
– das »Doch« erscheint mir überflüssig
– die Einzigen

»Graue Häuser, Vier- und Fünfstöcker,«
– sei mir nicht böse, aber die Kreation »Vier- und Fünfstöcker« klingt grauslich. ;) Würde »vier- und fünfstöckig« schreiben.

»Vor den Häusern standen vereinzelt schäbige Autos,«
– das klingt wie frisch aus den Siebzigern. ;)

»dass sie aus gut einem Dutzend Fenstern beobachtet wurden.«
– einem Dutzend Fenster (ohne n)

»Die schwere Tür öffnete sich langsam und eine müde Frau mit rotgeränderten Augen erschien im Rahmen.«
– wenn es so eine billige, auf Funktion ausgerichtete Bauweise ist, hat die schwere Tür da nix verloren. ;-) Auch würde ich über das Erscheinen nachdenken.

»Für einige Sekunden zeigte sich ein fragender Ausdruck in ihrem Gesicht, der von Verstehen und schließlich Erschrecken verdrängt wurde.«
– ich würde eher die Frau so dreinschauen lassen, statt den Ausdruck, das Verstehen und Erschrecken aktiv handeln zu lassen.

»sah auf Schleiz und auf den Ausweis,«
– das zweite »auf« könntest Du Dir sparen

»unrasiert und mit ungepflegten Haaren.«
– ich würde die Haare nicht gleich ungepflegt sein lassen, das finde ich übertrieben. Vielleicht »mit zerzausten« oder »verschwitzten« Haaren?

»Er sagte: „Tag!“ und setzte sich in den Sessel vor den Fernseher,«
– in dem Fall keinen Doppelpunkt

»nahm die Zigarette und beachtete sie nicht weiter.«
– so bezieht sich das »sie« auf die Zigarette

»es war das erste, das er hier sagte.«
– das Erste, was

»„Es tut mir Leid“, sagte Ranke.«
– darf man jetzt wieder klein schreiben: leid

»Dazu werden Sie zu uns kommen und ihm noch einmal gegenübertreten müssen.«
– »zu uns« stimmt in dem Fall wohl nicht, da die Toten nicht auf der Kripo herumliegen, und ihm gegenübertreten klingt, als würde er noch leben.

»was ungewöhnlich und nicht oft anzutreffen war.«
– würde »ungewöhnlich und« streichen, Begründung siehe Quinn

»Sie saß immer noch stumm weinend da und starrte auf das Bild, das vor ihr auf dem Tisch lag.«
– da Du vorher schon beschrieben hast, daß das Bild auf dem Tisch liegt, kannst Du hier den Punkt schon nach »Bild« machen.

»„Er war 22.“«
– fände ich ausgeschrieben schöner: zweiundzwanzig

»„Er wurde erstochen in einem S-Bahn-Zug. Gestern nacht gegen 1Uhr 30 wurde er gefunden, tot.“«
Nacht, Leertaste vor »Uhr« (oder schöner noch: ausschreiben)
– würde entweder den ersten Satz umstellen, »Er wurde in einer S-Bahn erstochen«, oder gleich aus beiden Sätzen einen machen: Man hat ihn gestern Nacht gegen ein Uhr dreißig erstochen in einem S-Bahn-Zug gefunden.

»dass sie in einen hysterischen Anfall verfallen würde,«
– »Anfall verfallen« ist redunant, besser z. B.: »dass sie hysterisch werden könnte« oder »dass sie einen hysterischen Anfall haben könnte/würde«

»Er wartete bis er sich ihrer Aufmerksamkeit sicher sein konnte.«
– wartete, bis

»Sie tat ihm Leid.«
– leid

»Haben Sie das verstanden?“«
– da fände ich ein »Sind Sie bereit?« schöner

»„Was arbeitete Jörg“, frage Schleiz.«
– Jörg?“, fragte

»Sie schämt sich für sich selber,«
– schöner wäre »selbst«

»Hat jede Menge Bewerbungen geschickt,«
– verschickt

»Sie lächelte, ganz zaghaft und auch ganz kurz. Es war kaum erschienen auf ihrem Gesicht, da war es auch wieder verschwunden.«
– damit sich das »Es« auf das Lächeln bezieht, mußt Du es auch vorne hinschreiben: Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, ganz zaghaft und auch (nur) ganz kurz. Es war kaum erschienen/Kaum war es erschienen, da war es auch (schon) wieder verschwunden.

»war immer der letzte auf der Baustelle.“«
Letzte

»Außerdem ist Jörg ein erwachsener Mensch und hat...“Sie stockte und sah ihn fast erschrocken an. „...hatte ein eigenes Leben.«
– Leertasten: hat_…“_Sie […] erschrocken an._„…_hatte

»Ich bin dann ins Bett gegangen und habe...“«
– habe …“

»Sie fing wieder an zu weinen und war einige Moment nicht in der Lage weiter zu reden.«
– einige Momente (oder einen langen Moment?)
– nicht in der Lage, weiterzureden.

»Hat er sich mit jemandem getroffen, vielleicht? War er mit jemandem zusammen?“«
– zweimal »jemandem«, würde entweder im ersten Satz »mit Freunden getroffen« oder im zweiten Satz »War er mit einem Mädchen zusammen?« fragen.

»Es klapperte im Flur. Sie fuhren herum.«
– »fuhren herum« halte ich für Umgangssprache

»vielleicht 16, 17 Jahre alt,«
– schöner ausgeschrieben: sechzehn, siebzehn – aber: Da sie ja schon die Daten ausgehoben hatten und wußten, wer aller in der Wohnung wohnt, wissen sie doch sicher längst, wie alt der Sohn ist. ;-)

»Er stutzte, als er Ranke und Schleiz sitzen sah. Seine Mutter hatte verweinte Augen, der Vater ebenfalls.«
– Da der Leser bereits weiß, daß sie beide verweinte Augen haben, der Erzähler es also nicht mir erzählen wird, ist das wohl ein Perspektivwechsel (Gedanken des Sohnes). Vorschlag: Er stutzte, als er seine verweinten Eltern mit Ranke und Schleiz im Wohnzimmer sitzen sah.

»„Was is los?“, fragte er ohne zu grüßen.«
– er, ohne

»„Ermordet,“ Dann drückte sie ihr Taschentuch wieder vor den Mund.«
– Ermordet.“ Dann

»Der Junge drehte sich um und verließ das Zimmer wieder.«
– »wieder« würde ich streichen

»Und in den letzten Tagen...“«
– Leertaste

»„Was war in den letzten Tagen, Frau Kroll“, schaltete sich Ranke ein.«
– Kroll?“, schaltete

»„Er war...irgendwie...verändert“, sagte sie.«
– Leertasten (4 x)

»Er wurde traurig.“«
Er

»ich glaube es war ein Sonntag...“«
– Leertaste

»Schleiz Frau war an einem Samstag Abend getötet worden.«
– das könntest Du evtl. am Anfang, wo Schleiz davon erzählt, besser unterkriegen, und es ist dem Leser schon zuzumuten, sich hier daran zu erinnern. ;-)

»„...da war er plötzlich wie ausgewechselt,«
– „… da

»Tagelang nur in seinem Zimmer, kein Essen, kein Trinken.«
– äh, nein, das glaub ich nicht. ;-) Ich schlage vor, daß er sich auch Essen und Trinken nur mehr in sein Zimmer geholt hat

»„Was für Musik?“«
– schöner wäre »Welche«, aber gut, es ist ja direkte Rede. ;-)

»Ohne ein Antwort abzuwarten,«
– eine Antwort

»quengelnde, nervende Werbespots überliefen den Schirm.«
– »überliefen« kenne ich nicht, ich denke, Du meinst »liefen über den Schirm«.

»fragte Ranke leise; es war trotzdem unnatürlich laut nach dem unnötigen Krawall aus dem Fernseher.«
– also war es eigentlich gar nicht leise? Warum spricht der Erzähler dann zuerst von »leise«? Würde schreiben: »fragte Ranke etwas zu laut, nach dem unnötigen Krawall aus dem Fernseher«, wobei man »unnötige« auch streichen könnte, Krawall ist ja meistens unnötig.

»Der Unfall vor einem halben Jahr auf einem Samstag,«
– an einem Samstag

»nachdem er einen Schluck Kaffee genommen hatte. „Wann nahm es ein Ende,«
– genommen/nahm – laß ihn den Kaffee erst einmal zuckern und umrühren, so ist er ja auch noch viel zu heiß. ;-)

»„Wie haben Sie das bemerkt?“, fragte Ranke stattdessen.«
– statt »stattdessen« würde ich »weiter« schreiben, oder überhaupt: bohrte Ranke weiter.

»hervor. „Deshalb war er so glücklich. Er hat gewusst, dass seine Leiden ein Ende haben.“«
– hervor._„Deshalb
– wäre da für Einzahl: dass sein Leiden ein Ende hat.

»Frau Kroll sah ihn verwirrt an bevor sie antwortete.«
– an, bevor

»„Sagen Sie mir, mit wem Ihr Sohn telefonierte!«
– fände da besser »telefoniert hat«

»antwortete die Kroll.«
– »die Kroll« ist umgangssprachlich, besser »Frau Kroll« oder »die Mutter«

»Schleiz im Flur riss jede Türe auf.«
– Schleiz riss im Flur jede Tür(e) auf.

»„Was soll ’n der Scheiß“, nölte er«
– Scheiß?“, nölte

»„Was soll das“, rief er.«
– das?, rief

»ihn zur Vernunft zu bringen, aus der Rage heraus.«
– »aus der Rage heraus« würde ich streichen, ist überflüssig.

»Schleiz ließ den Jungen los, der zurücksank.«
– ich würde ich vor »zurücksank« »daraufhin« einfügen, sonst klingt es, als hätte er ihn losgelassen, weil er zurücksank.

»„Gut?“, fragte direkt in dessen Ohr.«
– fragte er direkt

»Ebenso wenig reagierte er auf Anrufe auf sein Handy.«
– »auf sein Handy« könntest Du streichen


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Quinn!

Da will ich mal versuchen, was Kluges zu schreiben:)

Das Plusquamperfekt ist korrekt, natürlich. Mir könnte immer der Hut hochgehen, wenn ich falsche Zeiten lese in einer Geschichte. Vielleicht ist das auch ein Fehler, eventuell sollte man nachsichtiger sein, um den Erzählfluss nicht zu dämmen.
Aber ich weiß schon, was du meinst, und ich kann es nicht verstehen. Ich sehe den ersten Satz (die ersten Sätze) immer als ersten Satz an, als Statement, das im Prinzip für die ganze Erzählung stehen kann. Und das tut es hier.
Immerhin transportiere ich mit diesem Plusquamperfekt doch eine wichtige Information, ohne sie namentlich zu erwähnen: es ist Morgen. Ich weiß nicht, ich bin nicht auf der Seite zu finden, die keine Kritik annehmen, aber ich kann zumindest diese eine, an meinem ersten Satz (!) nicht nachvollziehen.
Zwei Menschen, zwei Meinungen.

Zugegebenermaßen musste ich Elativ nachschlagen (soviel zu klugen Kommentaren), aber ich muss dir natürlich Recht geben. Jetzt, im Nachgang, wirkt der Satz mit dem "totenstill" schon ein wenig grotesk. Danke also schon mal, habe was gelernt.

Wenn ich soweit runterschaue, muss ich dir auch in den anderen Fällen Recht geben, die du ansprichst, meist ist es ja auch recht eindeutig. Beim selber drüberlesen bin ich allerdings nicht drauf gestoßen.

Danke dir für die Mühe.

Die Figuren bleiben alle ein wenig schwach.

Hmmh, das ist natürlich eine Kritik, die ich aufnehme, versuche zu verarbeiten und nichts weiter drauf sagen kann, als dass du als Leser natürlich Recht hast. Du hast den Text so gelesen und da habe ich was falsch gemacht.

Allerdings, was ist der Unterschied zwischen

glattgebügelt
und gut lesbar?

In diesem Sinne

Viele Grüße von meiner Seite!

 

Hallo Häferl!

Wie immer hast du dir sehr viel Arbeit gemacht! Danke dafür - allermeister Respekt! (Wo verdammt ist der "Verbeuge-Smilie"?!)

Die Telefonnummer wäre mir nie aufgefallen, wenn du sie nicht erwähnt hättest, ich fand es eigentlich nicht verwunderlich, wenn er sie noch ein halbes Jahr eingebrannt hat.

Frau Kroll natürlich, die leidet. Und ich schreibe gern über Figuren, die leiden. Sagen wir mal, Herrn A. seine Frau wird erschossen. In den drittklassigen Filmen wirft sich Herr A. auf die Leiche seiner Frau und weint: "Oh nein, Sieglinde. Nein!"
Diese Klischees zu konterkarieren mach besonders Spass, mag sein, dass die Figuren damit besser gelingen.

Allerdings, Schleiz ist mir schon ein wenig ans Herz gewachsen während des Schreibens. Vielleicht hätte ich ihn doch mit mehr Kanten ausstatten sollen?

Auch, daß es dem Sohn schlecht ging nach dem Unfall, finde ich sehr glaubwürdig.

Tragik bei allen Figuren. Deshalb meinte ich auch, dass die "Pointe" mir bei dieser Story nicht im Vordergrund stand.

Ich werde deine Anmerkungen abarbeiten und bedanke mich nochmals bei dir!

Grüße auch an dich von dieser Seite!

 

Hi Hanniball,

schön, dich wieder hier zu sehen! :)

Vorab: Ich habe die Geschichte natürlich schon vorige Woche gelesen, kam aber noch nicht zum Antworten. Jetzt hat Häferl ganz viel Arbeit abgenommen. Wie praktisch! :D

Die Geschichte hat mir gut gefallen. Aufbau und Sprachduktus stimmen. Man kommt gut und schnell in die Geschichte hinein und sie wird an keiner Stelle langweilig. Allerdings habe ich doch mit ein paar Dingen so meine Probleme:

Das Zerwürfnis von Vater und Sohn ist mir zu offen gestaltet. Warum wendet der Sohn sich ab? Es war ja ein Unfall, er kann seinem Vater ja kaum die Schuld am Tod der Mutter geben. Zwar erwähnst du Streitereien zwischen den Elternteilen, aber sollten diese die Ursache sein, dann müsstest du das etwas ausarbeiten. Dann muss der Leser wissen, worum es da generell ging und welche Partei der Sohn ergriff. Wenn es einen anderen Grund fürs Abwenden des Sohnes gibt: Dann muss der auf den Tisch.

Das Telefonat zum Einsatz ist mir zu direkt, zu offen. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung und müsste das auch recherchieren, aber wird sowas nicht eher verschlüsselt durchgegeben? Irgendwelche Codenummern für die Art des Verbrechens? Oder handelt es sich um eine gesicherte Verbindung? Dann muss das erwähnt werden. Aber: Dann dürfte der Anruf nicht auf dem Handy erfolgen.

Du beschreibst den Blutfleck als kreisrund, wie mit einem Zirkel gezogen. Der Junge sitzt aber mehr oder weniger aufrecht. Müsste dann der Fleck nicht doch eher nach unten gezogen sein?

Die Todesursache: Stich ins Herz mit einem Taschenmesser. Auch hier bin ich bei Weitem kein Experte. Ich habe aber ein wenig im Internet rumgesucht (und seeeehr merkwürdige Internetseiten von Messernarren gefunden). Im Grunde starben alle Erstochenen am Blutverlust - entweder müsste das also viel länger gedauert haben (und er kann nicht sofort tot gewesen sein) oder der Täter hätte extrem oft zustechen müssen. Bei den Fällen, von denen ich bei der Recherche gelesen habe, dauerte das immer eine Weile, bis das Opfer starb. Mindestens ins Krankenhaus kamen fast alle noch (auch bei einem Stich ins Herz). In einem Fall war das mittwochs passiert und das Opfer starb am darauffolgenden Montag. Ob es eine Variante gibt (bei der man einen ganz exakten Punkt zu treffen hätte), die zum sofortigen Tod führt, weiß ich nicht. Daher: Das ist keine direkte Kritik, sondern eher als Anregung gedacht oder als Frage, ob du das durchdacht hast.


Das war es aber auch schon. Mir sind ein paar Sachen zu unlogisch und andere zu unklar. Sieht man davon ab, ist die Geschichte gut und durchaus spannend geschrieben.

Viele Grüße
Kerstin

 

Hallo Hanniball!

Ein längeres Krimimachwerk, deine Geschichte. Ich sag's mal gleich vorne weg: Mir hat sie leider nicht wirklich gefallen - trotz einiger guter Ansätze.

Generell zieht sich diese Geschichte einfach zu sehr, v.a. der Besuch bei der Mutter ist schier endlos. Das fand ich schon mühsam zu lesen. Leider ist der Plot an vielen Stellen auch zu 08/15, ganz typisch Vorabendkrimi - und ebenso mit einer großzügigen Auslegung der Realität. ;)

Noch ein paar Anmerkungen:
- Zum Titel wurde ja schon einiges gesagt. An sich finde ich ihn nicht schlecht, aber er verrät vll tatsächlich zu viel.
-

Die Nacht war finster und verschwommen.
Eine verschwommene Nacht?
-
Die Digitalanzeige des Weckers stand auf 3.06Uhr
Wenn es eine Digitalanzeige ist: 3:06.
-
bis auf das nervige Klingeln seines Handys war es totenstill in seinem Schlafzimmer
Das ist aber eine ziemliche Einschränkung von totenstill. :)
-
Sie sind eingetragen als Diensthabender.
Der Diensthabende ist doch auf der Wache, oder? Er hat eher Rufbereitschaft.
- Die Sache mit dem Arzt: Realsitisch wäre, glaube ich, wenn ein Notarzt am Tatort ist, um den Tod festzustellen und en Totenschein auszustellen. Ebenso um den Zeugen ruhig zu stellen. Das ist aber auf keinen Fall der Pathologe, der garantiert nicht am Tatort auftaucht, sondern nur die Obduktion durchführt und seinen Bericht weiterreicht. Und falls der Zeuge ins Krankenhaus kommt, wird dem Kommissar von dort eine Nachricht zur Befragungsfähigkeit erreicht. Bei deiner Geschichte scheint mir das alles nicht besonders klar oder durcheinandergewürfelt.
-
mit einem Taschenmesser direkt an der Stelle, an der das Herz sitzen musste
Sorry, das ist albern. Jemanden mit einem Stoß mit dem Taschenmesser sofort zu töten, geht nicht. Selbst wenn er das Herz erwischen sollte. Ein Stich könnte das Opfer maximal verbluten lassen - und dann auch nur, wenn da jemand wirklich gut treffen kann.
-
„Wie, die Leiche?“
mE besser: den Toten
-
der Arzt führte seine Autopsie durch
Ein Pathologe ist zwar auch Arzt, aber ich würde hier eine genauere Bezeichnung wählen: Pathologe oder Gerichtsmediziner. Außerdem führt er die Autopsie nicht an sich selbst aus. :)
-
Lassen wir ihn eine Stunde vorher aus dem Haus gegangen sein, so wird es noch ein paar Stunden dauern, bis sich jemand melden wird, um ihn als vermisst anzugeben.
Das ist aber sehr spekulativ.
-
Doch Neuigkeiten konnte der ihm auch nicht mitteilen. („Denken Sie, Sie sind der einzige Fall?!“)
Der Pathologe reicht einfach seinen Berich ein und damit hat es sich. Was weiter passiert ist Sache der Ermittler. Wenn der Ermittler es eilig mit irgendwelchen ersten Ergebnissen hat, ist er bei der Obduktion anwesend - die übrigens mindestens zwei Pathologen durchführen.
-
Der Tod war bei dem Jungen sofort eingetreten. Das Messer hatte das Herz genau erwischt und damit, so der Polizeiarzt, hatte der Täter enormes Glück gehabt, denn in den allermeisten Fällen einer Messerattacke in den Brustbereich, wurde die Klinge von einer Rippe aufgehalten, mindestens jedoch abgelenkt. Dass in diesem Falle das Messer so sauber durch den Brustkorb ins Herz eindringen konnte, musste nach den Worten des Arztes als kleines Wunder angesehen werden.
Darüber hinaus ließ es darauf schließen, dass sich das Opfer gar nicht, zumindest aber nur sehr gering gewehrt haben konnte. Keine Spur von Abwehr, ein Kampf war überhaupt nicht zu nennen.
Sofortiger Tod ist ... gewagt. Die anschließenden Erläuterungen sind irgendwie unnötig. mE: Tod durch Verbluten, keine Abwehrspuren. Reicht.
- So, die ganze Szene bei der Mutter finde ich überzogen lang. Das Gespräch geht nur sehr zäh vorwärts, ich hab das Gefühl beim Lesen gehabt, für zwei Schritte vor, geht es einen Schritt zurück, dann wieder zwei Schritte vor usw. Dynamische Ermittlungen sind mE was anderes. Natürlich braucht man keine Action für einen guten Krimi, aber der ganze Gesprächsverlauf erscheint mir nicht spannend genug vorangebracht.
- Die Wendung mit dem Sohn als Täter ist schon einigermaßen vorhersehbar, was hier aber nicht mal weiter schlimm ist. Leider speist du uns mit dem letzten Absatz ein wenig ab. Der hätte wiederum ein wenig ausführlicher sein dürfen.

Klingt alles schlimmer als es in Wahrheit ist. Es gibt auch einige gute Passagen und Dinge, bspw. über einen großen Teil der Geschichte dein Stil, auch die Figur Schleiz finde ich nicht schlecht.

Soweit von mir und

Beste Grüße

Nothlia

 

Hallo Katzano!

Vorab: Ich habe die Geschichte natürlich schon vorige Woche gelesen, kam aber noch nicht zum Antworten.

Das macht doch nichts, ich hab deine Kritik auch schon vorher gelesen und ... na ja, du weißt, was ich sagen will.:D

Ja, Häferl hat ganze Arbeit geleistet!

Du hast sicher Recht, wenn du sagst, dass das Verhältnis Vater - Sohn in der Story zu kurz kommt. Sie ist aber nicht Thema, allerdings sind mir offensichtlich nicht die richtigen Worte gekommen, die nötig sind, so kurz so viel zu sagen, dass das richtig rüberkommt.

Das Telefonat zu Beginn, tja. Meinst du wirklich, dass man diesen Anruf verschlüsselt tätigt? Ich weiß es ehrlich gesagt überhaupt nicht, kann's mir aber auch nicht denken.

Der Blutfleck - da hast du Recht, ohne Einschränkungen! Und das ist natürlich sehr ärgerlich und störend in so einer Story. Danke!

Die Todesursache scheint ein ebensolcher Wackelkandidat zu sein. Da müsste man nachdenken (was heißt man?! ich!!), wie man sie dahingehend ändert (vielleicht wird der Tote erst später gefunden, so dass Zeit genug ist, dass er stirbt oder er wird tatsächlich ins Krankenhaus eingeliefert, erlangt aber das Bewusstsein nicht mehr).

Ich danke dir erstmal für die wertvollen Hinweise und natürlich für die Mühe.
Hat mich gefreut!

Hallo Nothlia!

Ich bin mir nicht sicher, ob mir die Geschichte, würde ich sie als Außenstehender lesen würde, gefallen täte. Sie ist natürlich zu ruhig, zu wenig...Spektakuläres. Um solch eine Geschichte spannend und intensiv zu schreiben, braucht man Zeit (mehr als hier) und - ich bin nicht so dumm, das nicht zu wissen! - Geschick.

Es sollte schon eine ruhige Geschichte werden, dessen Konflikt von innen heraus kommt. Ich hatte im Ganzen vielleicht eine Woche, die Story zu Papier zu bringen und ich hatte gewisse Vorgaben. Keine Entschuldigung, nein. Eher Erklärungen.:)


Wenn ich deine Kritik an dem Dialog mit der Mutter lese, habe ich die Befürchtung gehabt, dass das kommen wird. Offensichtlich ist es so, dass so etwas bei verschiedenen Leuten verschieden ankommt.
Aber du hast Recht, das Timing des Dialogs könnte besser sein.

Aber dein letzter Satz versöhnt wieder einigermaßen, denn gerade die Figur Schleiz hat Prügel einstecken müssen.

Aber natürlich, Logikfehler sind unentschuldbar, leider fallen sie einem selber so schlecht auf.:)

Ich danke dir, bis zum nächsten Mal.

Viele Grüße von meiner Seite!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hanniball. Lange nichts mehr von dir gelesen.

Also ... stilistisch sauber und gekonnt, aber: Das kannst du stellenweise allerdings besser schreiben. Gerade anfangs wirken einige Stellen, bzw. Formulierungen so, als hätte man sie schon tausendmal in anderen Geschichten gelesen.
Ansonsten ist der Text sehr spannend, das Ende allerdings haut alles in die Pfanne. In dem Moment, in dem Schleiz seinen aggressiven Ausbruch bekommt, war mir klar, dass sein eigener Sohn der Mörder ist und die Pointe war verhunzt.
Hier hättest du ruhiger vorgehen müssen, dann wäre der Schluss ein Knaller gewesen. So war er leider vorhersehbar.
Deine Hauptfiguren waren mir zudem einfach viel zu klischeehaft. Der typische abgebrannte Kommissar und sein eifriger, leicht trottelliger Kollege. Ziemlich schablonenhaft, was sich auch teilweise in den Dialogen zeigt.
Um es auf den Punkt zu bringen: Mir hat die Geschichte bis auf den Schluss gefallen, aber von dir erwarte ich einfach mehr.

Textkram:

„Vierundzwanzig Stunden, verstehen Sie? Mehr will ich gar nicht. Schweigen Sie solange und das reicht mir dann. Nur einen Tag. Ich will dem Mann danken, der das hier getan hat.“

Schöne Wendung.

Er spürte, dass die Döner-Periode sich ihrem Ende neigte, er würde etwas anderes finden, um seinen Hunger zu stillen könnte.

Merkst du was? :D

Er drehte das Fenster bis zum Anschlag herunter, weil er den Gute-Laune-Geruch Rankes nicht mehr aushielt.

hehe

Er sagte: „Tag!“ und setzte sich in den Sessel vor den Fernseher, nahm die Zigarette und beachtete sie nicht weiter.
„Mein Mann“, sagte Frau Kroll und es klang, als müsse sie sich entschuldigen.
Als sie sich gesetzt hatten, fragte sie noch einmal ungeduldig: „Haben Sie Neuigkeiten von meinem Jungen? Haben Sie ihn gefunden, was ist mit ihm? Sagen Sie schon!“
Der Mann nahm die Fernbedienung vom Tisch und stellte den Ton lauter. Seine Frau starrte ihn an und begann zu weinen, leise und ganz für sich allein.

Hat mir gefallen. Ist so schön bildhaft.

Als hätte er auf sein Stichwort gewartet, kam der Mann ins Zimmer, setzte sich stumm zurück vor den Fernsehapparat und steckte sich eine neue Zigarette an. Schleiz konnte sehen, dass er geweint hatte.

Dito!

Schleiz im Flur riss jede Türe auf.

Seltsamer Satzbau.

„Was soll ’n der Scheiß“, nölte er und riss die Kopfhörer herunter. „Ich hab’ nichts getan.“

Unglaubwürdig. Er hat gerade erfahren, dass sein Bruder ermordet wurde, zu dem er einen guten Kontakt hatte.

„Gut?“, fragte direkt in dessen Ohr.

Als Teilsatz klingt das ohne "er" komisch.

Ranke sagte zu dem Jungen: „Geben Sie ihm Ihr Handy, bitte. Er will nur etwas nachschauen.“

Er siezt den Jungen?


Viele Grüße

Cerberus

 

Hi Cerb!

Äh, mir war der Stift unter den Schreibtisch gefallen, war kurz abwesend. Aber jetzt bin ich wieder da.:)

Also ... stilistisch sauber und gekonnt

Danke, danke. Selbst bei diesem kurzen Teilsatz spürt man das übermächtige "Aber" dahinter.

Wie schon gesagt, für mich war dies Stück hier keine Pointen-Geschichte; oder zumindest nicht in der Hauptsache. Das muss in dem Text an sich allerdings nicht richtig umgesetzt sein, wenn du tatsächlich auf das Ende lauerst.

Tragische Geschichte, in der keiner gut wegkommt.

Mir hat die Geschichte bis auf den Schluss gefallen, aber von dir erwarte ich einfach mehr.

Tja, ich auch :cool:, aber wie war das noch mit den Schnellschüssen?

Schleiz im Flur riss jede Türe auf.

Seltsamer Satzbau.

Ungewöhnlich, ja. Aber doch nicht falsch, oder?

He-he, ich glaub, im Großen und Ganzen sind wir uns einig.
Ich danke dir fürs Lesen, für die Kritik und...die Geduld.

Viele Grüße von hier!

 

Hallo Hanniball

Vielleicht ist es 08/15, aber dafür gut gemachtes 08/15!
Oder es stand einfach zur rechten Zeit vor mir, jedenfalls wollte ich eigentlich nur eine Geschichte von dir an-lesen, und dann las ich sie doch in einem Rutsch fertig, da sie mich eindeutig gefesselt hat.

Mit diesem wenig konstruktiven Bauchgefühlsfeedback grüsse ich den fast 40er.:D

Gern gelesen,
.dot

 

Hi dotslash!

He he, über 40er, jetzt schon.(Ich weiß wirklich nicht, warum ich da lache!)

Danke dir für die Mühe und die aufmunternden Worte. 08/15 und das aber spannend, gut, damit kann ich sehr gut leben. Ich weiß so, wo ich denn beim nächsten Mal wieder ansetzen muss.

Ich schätze mal, etwa 3/4 der Stories hier sind auf 08/15-Niveau, da bin ich doch in guter Gesellschaft, wenn du es gerne und vor allen Dingen in einem Rutsch gelesen hast.

Grüße von hier und bis zum nächsten Mal!

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom