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- 04.08.2001
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Doppelter Verlust
Die Nacht war finster und verschwommen. Der Abend war lang gewesen, voller Alkohol und vergangener Bilder.
Schleiz wusste sofort wo er war und umgehend hasste er sich und seine Umwelt dafür.
Die Digitalanzeige des Weckers stand auf 3.06Uhr und bis auf das nervige Klingeln seines Handys war es totenstill in seinem Schlafzimmer. Er bemerkte, dass er sich nicht umgezogen hatte, bevor er ins Bett gefallen war.
Als er endlich das Telefon ergriffen und sich gemeldet hatte, kam eine höfliche Stimme von der anderen Seite: „Entschuldigen Sie bitte, Herr Schleiz. Sie sind eingetragen als Diensthabender.“
Er knurrte und rollte sich aus dem Bett.
Das übliche Theater, dachte er. Bis auf den Umstand, dass ich stinke wie eine Fußmatte und keine Zeit habe, zu duschen.
„Ein Toter in der S-Bahn, Hauptkommissar“, sagte die Stimme. „Als der Zug im Depot war, wurde er vom Reinigungspersonal entdeckt.“
„Was denn, keine Todesart?“
„Erstochen, offensichtlich. Alle anderen sind informiert, die Spurensicherung trifft eben ein.“
„Geben Sie mir die Adresse durch!“
Er schaltete grußlos das Handy aus und warf es neben sich auf das Bett. Für wenige Sekunden ließ er sich noch einmal nach hinten sinken und schloss die Augen. Das Gesicht seiner Frau erschien ihm und dann das seines Sohnes, doch um sich nicht zu quälen, schob er sie sofort beiseite.
Ranke war schon am Tatort. Diensteifrig wie immer erwartete er seinen Chef vor der großen Fahrzeughalle, um ihn über das Wichtigste in Kenntnis zu setzen.
„Um genau zu sein, hat ihn der Lokführer entdeckt“, schnarrte er von oben herab. Er war mindestens einen Kopf größer als Schleiz. „Er hat seinen Kontrollgang gemacht und von der anderen Seite kam die Reinigung durch. Sie fanden den Fahrer, wie er mit großen Augen vor dem Toten stand.“
„Vernehmungsfähig?“
Ranke schüttelte den Kopf. „Der Arzt sagt, um mit dem Mann sprechen zu können, müssen wir ihn erst mal ausschlafen lassen.“
„Haben Sie dem Arzt gesagt, dass wir einen Mord auf dem Hals haben?“
„Die Reinigungsleute haben dann uns informiert. Sind alle schon drinnen.“
Er wies mit dem Kopf auf einen S-Bahn-Zug, der in der riesigen Halle stand, als warte er auf etwas.
Sie zogen die Schutzanzüge über, Schleiz behielt seine Zigarette im Mund und musste husten. Er warf sie entnervt auf den Boden und trat sie aus. Dabei spürte er sehr wohl den Blick seines Assistenten. Als sie in den Zug stiegen, half ihnen ein Beamter.
Drinnen war es überraschend warm und trotz der Menge Leute, die sich hier aufhielt und arbeitete, leise. Diese Atmosphäre zwang Schleiz selbst gedämpft zu sprechen.
„Der Arzt?“, fragte er, als sie langsam durch den S-Bahn-Wagen gingen.
„Schon wieder weg“, antwortete Ranke. „Er wollte Sie noch anrufen.“
Allein diese Aussage zeigte, dass er spät am Tatort war. Er hatte Bereitschaft, nüchtern, verfügbar und bei Sinnen sollte er sein.
Die Leute von der Spurensicherung waren emsig bei der Arbeit. Dieser und Jener begrüßte ihn mit einem stummen Kopfnicken, als sie beide sich zwischen die Bankreihen nach hinten durcharbeiteten. Dort saß er.
Ein junger Mann, keine 25 Jahre alt, der Kopf nach hinten gefallen und mit einem Taschenmesser direkt an der Stelle, an der das Herz sitzen musste. Auf dem T-Shirt, als Rahmung für das Messer, ein dunkler Blutfleck. Seltsam gleichförmig und eben – wie mit dem Zirkel gezogen.
Schleiz beugte sich langsam über den Toten und sah ihm ins Gesicht. Der Mund des Jungen stand offen, es hatte den Eindruck, als schnappe er nach Luft.
Schleiz wurde schwarz vor Augen, er musste sich am Griff des Sitzes festhalten. Langsam ging er rückwärts, weg von dem Leichnam, ein paar Schritte zurück, bis er gegen Ranke stieß.
„Was ist, was haben Sie?“
Es gelang ihm kaum zu verbergen, wie sehr er die Fassung verloren hatte. Er spürte, wie der Puls ging und sein Herz kaum dem Antrieb des Adrenalin nachkam.
„Wieso konnte er hier solange unentdeckt so sitzen?“, bellte er mit brüchiger Stimme. „Da war’n doch sicher andere Leute, die ihn gesehen haben müssen!“
Wenn Ranke etwas mitbekommen hatte, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
„Die Bahn war die letzte, Chef“, antwortete er, obwohl er genau wusste, dass Schleiz das Wort „Chef“ nicht ausstehen konnte. „Es war nicht mehr viel Publikum unterwegs. Gut möglich, dass er und sein Mörder die einzigen waren, die mit dem Zug um diese Zeit fuhren.“
Nachdem sie ihre Arbeit im Inneren des S-Bahn-Zuges getan hatten, verließen sie den Wagen. Schleiz kam sich elend vor. Der Alkohol verließ den Körper, er hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund und er wollte nicht wissen, wie er roch und welchen Eindruck er auf Ranke machte.
Aus dem Gebäude heraus, in der angenehm kalten Morgenluft, ließ sich Schleiz neben der Tür an die Wand sinken. Er lehnte mit dem Rücken dagegen und schloss die Augen.
„Geht’s?“, fragte Ranke.
Einen Augenblick nur, dachte Schleiz, einen kleinen Augenblick nur.
Als er die Augen öffnete, rollten sie und ihm wurde schwindelig. Er steckte sich eine Zigarette an.
Während er den Rauch ausstieß, folgte er mit dem Blick seiner Bahn in den dunklen Himmel. Man konnte den beginnenden Berufsverkehr als dumpfes Grollen hören. Die Stadt erwachte.
„Ich kenne den Mann da drinnen“, sagte er und es klang, als diktierte er seine Telefonnummer.
„Wie, die Leiche?“
Er nickte, sog noch einmal tief an seiner Zigarette.
Ranke war höchstens halb so alt wie er selbst und er konnte bei Gott nicht sagen, dass er ihn mochte. Mit Sicherheit beruhte diese Tatsache auf einer gewissen Gegenseitigkeit. Doch Ranke war der einzige Mensch, dem er sich anvertrauen konnte. Niemand war da, so einfach war das.
Seine Frau war tot und sein Sohn hatte sich von ihm abgewandt. Eigentlich hatte er sich abgewandt von jedem und sich seinem eigenen Inneren gewidmet. Freunde hatte er keine, noch nie gehabt und die paar Verwandten, die noch am Leben waren, hatte es mit allen Winden verstreut. Er war allein.
„Wer ist es?“, fragte Ranke nicht eben behutsam.
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn nur einmal gesehen. Ein einziges Mal. Doch das hat gereicht, dass ich dieses Gesicht nicht mehr vergesse.“
„Wo...wo haben Sie den Mann schon gesehen?“
Er schloss wieder die Augen. Die Straßen, das Auto und, noch bevor er wusste, was passieren würde, dieses Gesicht, mit dem entsetzten Ausdruck darin.
„Sie wissen, wie meine Frau umgekommen ist.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Vor einem halben Jahr.“
Er warf den runtergerauchten Stummel fort und steckte sich sofort eine neue an. Seine Hände zitterten.
„Meine Frau und ich, wir wollten zusammen mit unserem Sohn etwas essen gehen. Er hatte das Abitur bestanden, mit Ach und Krach zwar, aber immerhin. Wir hatten nicht mehr damit gerechnet.“
Er lächelte. „Wir kamen an und ich parkte gegenüber dem Restaurant. Als wir eben reingehen wollten, fiel ihr ein, dass sie ihre Handtasche im Auto vergessen hatte. Ich meinte, die würde sie nicht brauchen, aber sie war anderer Meinung. Na, Sie wissen ja.“ Er schluckte. „Wir führten beileibe keine sehr gute Ehe. Es krachte ganz ordentlich, manchmal, und am meisten litt unser Sohn dann darunter. Doch glauben Sie mir, Ranke, ich wusste immer, wo ich hingehörte und meine Frau wusste das ebenso.“
Einen Augenblick herrschte Stille vor der Halle, der Verkehr ließ für einen Moment nach und die beiden sahen sich an.
„Wie dem auch sei, meine Frau ging zurück und holte ihre Handtasche, und als sie sich umwandte und zu uns kommen wollte, feuerte ein Honda Civic heran und nahm sie frontal mit. Sie war sofort tot und hielt noch immer die verdammte Tasche in den Händen“
Ranke hatte sicher davon gehört, er musste davon gehört haben. Damals hatte die ganze Dienststelle von nichts anderem gesprochen. Es war der Beginn des Abstieges des Herbert Schleiz.
„Ich habe das Schwein gesehen, kurz vor dem Aufprall“, fuhr er fort. „Ich habe das Entsetzen gesehen in seinen Augen. Doch ich sah auch, dass er im mindesten bremste.“
Ranke schwieg; die ersten Kriminaltechniker verließen die Halle und gingen hinüber zu den Wagen. Die Morgendämmerung hatte eingesetzt und der Berufsverkehr war in vollem Gange.
„Ich kenne den Rest“, sagte Ranke leise. „Der Wagen war geklaut und der Fahrer wurde nie gefunden, trotz allen Aufwands, den man betrieb. Der Fall ging sogar durch die Presse.“
„Ja.“ Schleiz nickte. „Die Polizei hat ihn nicht gefunden. Da liegt er jetzt drinnen und wird immer kälter.“
„Sie können den Fall nicht übernehmen.“
„Was?“
„Sie sind eingebunden in den Fall, Chef. Strenggenommen sind Sie sogar ein Verdächtiger. Sie müssen die Ermittlungen an jemand anderes übergeben.“
Schleiz sah ihn durchdringend an. „Nein.“ Er wusste, auch wenn Ranke in den Polizeidienst verliebt war, er würde ihn verstehen. Er würde ihn nicht verraten.
„Hören Sie.“ Er ging auf Ranke zu und stellte sich ihm direkt gegenüber.
„Vierundzwanzig Stunden, verstehen Sie? Mehr will ich gar nicht. Schweigen Sie solange und das reicht mir dann. Nur einen Tag. Ich will dem Mann danken, der das hier getan hat.“
Die Prozedur lief an. Die Kriminaltechniker legten ihre Ergebnisse vor, der Arzt führte seine Autopsie durch, die Meldeämter wurden durchforstet, Vermisstenmeldungen, Fingerabdruckdateien. Eine Menge Leute machte sich daran, eine Menge Arbeit zu erledigen und die Resultate dieser Arbeit landeten auf Schleiz’ Schreibtisch. Es hatte begonnen.
Schleiz fuhr nach Hause, duschte ausgiebig und versuchte, ein wenig Ordnung in die Wohnung zu bringen. Dann hörte er seinen Anrufbeantworter ab – keine Nachricht.
Er fuhr zur Dienststelle; es konnte dauern, bis er sein Zuhause wiedersehen würde. An einem Kiosk holte er sich zwei belegte Brötchen, einen großen Kaffee und die Morgenzeitung.
In seinem Büro holte ihn die Arbeit ein, der Schreibtisch war schon jetzt voll mit Ermittlungsergebnissen und ein Zettel ließ ihn wissen, dass der Arzt mindestens zwei Millionen Mal versucht hatte, ihn zu erreichen, ob er denn sein verdammtes Handy nicht bei sich hätte!
Er arbeitete die Papiere der Kriminaltechniker durch und stieß auf keine Besonderheiten. Dann rief er vom Hausanschluss den Arzt an.
Doch Neuigkeiten konnte der ihm auch nicht mitteilen. („Denken Sie, Sie sind der einzige Fall?!“)
Der Tod war bei dem Jungen sofort eingetreten. Das Messer hatte das Herz genau erwischt und damit, so der Polizeiarzt, hatte der Täter enormes Glück gehabt, denn in den allermeisten Fällen einer Messerattacke in den Brustbereich, wurde die Klinge von einer Rippe aufgehalten, mindestens jedoch abgelenkt. Dass in diesem Falle das Messer so sauber durch den Brustkorb ins Herz eindringen konnte, musste nach den Worten des Arztes als kleines Wunder angesehen werden.
Darüber hinaus ließ es darauf schließen, dass sich das Opfer gar nicht, zumindest aber nur sehr gering gewehrt haben konnte. Keine Spur von Abwehr, ein Kampf war überhaupt nicht zu nennen.
Ranke kam ins Büro.
„Schon einen Namen?“, fragte Schleiz, ohne von den Akten aufzusehen.
Ranke setzte sich umständlich gegenüber Schleiz. Er sah frisch aus und roch nach Rasierwasser. Seltsamerweise war ihm auch keine Müdigkeit anzusehen. Schleiz beneidete ihn.
„Der Mann dürfte gegen eins umgebracht worden sein“, entgegnete sein Assistent. „Das ist jetzt gerade acht Stunden her. Lassen wir ihn eine Stunde vorher aus dem Haus gegangen sein, so wird es noch ein paar Stunden dauern, bis sich jemand melden wird, um ihn als vermisst anzugeben.“
„Wenn es jemanden gibt, der ihn vermisst.“
„Er dürfte knapp über zwanzig gewesen sein, gut möglich, dass er allein gewohnt hat. Hat sich jemand darum gekümmert, die einzelnen Haltestellen der Bahn abzuklappern?“
Kurz bevor sie sich am frühen Morgen getrennt hatten, waren sie noch einmal stehen geblieben und Schleiz hatte knappe Anweisungen gegeben, die Ranke eifrig mitschrieb und um die er sich kümmern sollte. Schleiz hatte allerdings den Verdacht, dass Ranke sich darum auch gekümmert hätte, wenn er ihn nicht instruiert hätte.
„Alles“, nickte Ranke. „Ohne Ergebnis.“
Es klopfte. Wolf steckte seinen Kopf herein: „Chef.“
Er legte ein Blatt in einer Klarsichtfolie vor ihn auf den Schreibtisch und verließ dann wieder wortlos das Zimmer.
„Das Messer“, murmelte Schleiz, während er den Zettel nahm und ihn überflog. Stille, während er las und dabei den erwartungsvollen Blick Rankes auf sich spürte.
Er legte das Blatt vor sich. „Tja, wie zu erwarten“, sagte er. „Stinknormales Messer, wie es in jedem – in wirklich jedem – Baumarkt rumliegt. Das geht Tausende Male pro Tag über den Ladentisch, da haben wir keine Chance.“
„Fingerabdrücke?“
„Ja, zwei unterschiedliche. Wobei die Mehrzahl der Abdrücke vom Opfer stammen.“
Ranke machte eine Bewegung und sandte dadurch eine neuerliche Wolke Rasierwasserduftes zu ihm herüber.
„Was bedeutet das nun wieder?“, fragte er. „Mordwaffe mit den Fingerabdrücken des Opfers. Hat er sich selbst umgebracht?“
„Natürlich nicht. Vielleicht heißt das, dass das Messer dem Jungen gehört hat. Was für sich genommen schon sehr ungewöhnlich wäre.“
Die Zeit, in denen er keine Akten zu lesen hatte, keine Gespräche zu führen und mit niemandem zu telefonieren hatte, erging er sich in Grübeleien. Magdas Gesicht erschien ihm wieder, seine Frau, in dem Moment, in dem sie über die Straße kommen wollte. Sie lächelte ihm zu, hielt ihre Tasche unter dem Arm und zog sich ihre Jacke, die sich beim Hinunterbeugen verschoben hatte, zurecht.
Im nächsten Augenblick das Geräusch des Motors, der Blick nach rechts. Das Auto, dann das Gesicht des Jungen – sein Blick, der hilflose Blick. Dann – als klatsche jemand in die Hände – der Aufprall, Magda fliegt durch die Luft, der Honda fährt ungebremst weiter.
Als er mit seinem Sohn gemeinsam über die Straße läuft, hinüber zu seiner Frau, die reglos und verdreht am Boden liegt, kann er noch einmal den Motor des Hondas aufheulen hören. Das Schwein macht sich davon, denkt er kühl.
Gegen Mittag holte er sich einen Döner.
Dieser Tage befand er sich in der Döner-Phase. Es hatte ein Pizza-Phase gegeben, einen Pommes-Abschnitt, Hamburger- und Sandwich-Zeitraum. Er spürte, dass die Döner-Periode sich ihrem Ende neigte, er würde etwas anderes finden, um seinen Hunger zu stillen könnte.
Als er in sein Büro zurückkehrte, saß Ranke vor dem Schreibtisch und schien aufgeregt.
„Ich glaube, wir haben seinen Namen“, sagte er ohne abzuwarten, dass Schleiz ihn aufforderte.
Er setzte sich und wischte mit der Papierserviette über seinen Mund.
„Erzählen Sie!“
„Eine Frau hat angerufen und ihren Sohn als vermisst gemeldet.“
„Beschreibung?“
„Passt genau. Alter 22, eins zweiundachtzig groß, schlank, dunkelblond.“
„Seit wann vermisst?“
„Gestern Abend um zehn. Sie ist sicher, dass ihm etwas passiert ist. Sie war ziemlich aufgelöst am Telefon, hat geweint und den Beamten angefleht, etwas zu tun.“
„Warum hat sie jetzt erst angerufen?“
Ranke zuckte mit den Schultern.
„Gut“, sagte Schleiz. „Wenig Zeit. Fahren wir also hin. Haben Sie die Adresse?“
Er drehte das Fenster bis zum Anschlag herunter, weil er den Gute-Laune-Geruch Rankes nicht mehr aushielt.
Es war Mittag, der Verkehr ruhte größtenteils, so kamen sie recht gut durch.
„Die Frau heißt Martina Kroll“, klärte Ranke ihn auf. „Der Junge ist...war ihr Sohn. Sie wohnt zusammen mit ihrem Mann und einem weiteren Sohn.“
„Ich gehe mal davon aus“, begann Schleiz und fuhr aber nicht weiter fort. Er starrte durch die Windschutzscheibe in den Himmel.
„Was?“
„Ich denke, dass noch niemand bei ihnen war und erzählt hat, was passiert ist mit ihrem Sohn. Wenn er es wirklich ist.“
„Nein.“
Schleiz versuchte den Rest der Fahrt eine Antwort auf die Frage zu finden, ob der Junge den Tod verdient hatte. Er horchte lange in sich hinein, er lauschte auf sein Inneres: Freute er sich über den Tod des Mörders seiner Frau?
Der Junge hatte ihm alles genommen, sein Leben hatte durch den Verlust seiner Frau eine absolute Wendung genommen. Er hatte seinen Halt und seinen Sinn verloren durch die Unachtsamkeit eines anderen Menschen.
Wahrscheinlich – hoffentlich – hatte der Junge Magdas Tod nicht gewollt. Ein Unfall durch Fahrlässigkeit. Er wusste, dass derart täglich auf den Straßen des Landes geschah. Doch die Angehörigen, diejenigen, denen ein Vertrauter genommen wurde, waren die einzigen, die dieser Unfall länger als eine Woche interessierte.
Es war ihm gleichgültig, dass der Junge tot war, fast schon ärgerte es ihn. Nächtelang hatte er sich ausgemalt, wie er ihn eigenhändig erwürgte, wie er die verschiedensten Foltermethoden an ihm zelebrieren könnte. Das war jetzt vorbei, vielleicht fand er seine Ruhe.
Die Familie Kroll wohnte in einer Arbeitergegend. Graue Häuser, Vier- und Fünfstöcker, mit kleinen Fenstern und einer Bauweise, die nur auf Funktion ausgerichtet war.
Vor den Häusern standen vereinzelt schäbige Autos, auf den Bürgersteigen war es um diese Zeit fast leer.
Ranke hielt vor der Nummer 36, sie stiegen aus und als sie sich umschauten, hatte Schleiz das sichere Gefühl, dass sie aus gut einem Dutzend Fenstern beobachtet wurden.
Sie gingen ins Haus. Der Flur war dunkel und kalt. Als sie die Treppe hinaufstiegen, klangen ihre Schritte hohl.
Krolls wohnten im dritten Stock. Vor der Tür standen an der Seite aufgereiht mehrere Paar Schuhe – Herrenschuhe, Damenschuhe und zwei Paar Hausschuhe.
Ranke klingelte. Schleiz trat zurück, er machte sich auf alles gefasst.
Die schwere Tür öffnete sich langsam und eine müde Frau mit rotgeränderten Augen erschien im Rahmen. Für einige Sekunden zeigte sich ein fragender Ausdruck in ihrem Gesicht, der von Verstehen und schließlich Erschrecken verdrängt wurde.
Ranke hielt seinen Dienstausweis hin und stellte sich und Schleiz vor. Dann trat Stille ein. Die Frau blickte ihn an, sah auf Schleiz und auf den Ausweis, den Ranke noch immer hochhielt. Doch sie sagte kein Wort zu ihnen.
„Dürfen wir reinkommen, Frau Kroll?“, fragte Ranke leise.
„Es geht um meinen Jungen, nicht?“, erwiderte sie, während sie die Tür freigab. „Bitte.“
Die Wohnung war klein, zu klein auf jeden Fall für eine Familie mit vier erwachsenen Personen. Die Möbel waren alt, aber sauber.
Sie gingen in ein kleines Wohnzimmer, mit Schrankwand, Couchgarnitur und Fernseher. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher mit einer glimmenden Zigarette. Der Qualm stieg steil nach oben, der Fernseher lief.
„Was ist mit Jörg?“, fragte die Frau, noch bevor sie sich setzten.
Im Wandschrank standen mehrere Fotos und Schleiz war sofort aufgefallen, dass einer der Jungen darauf ihrem Toten verteufelt ähnlich sah. Es schien, als wären sie bei der richtigen Familie.
Durch eine andere Türe kam ein Mann herein, groß, ebenso müde wie seine Frau, unrasiert und mit ungepflegten Haaren.
Er sagte: „Tag!“ und setzte sich in den Sessel vor den Fernseher, nahm die Zigarette und beachtete sie nicht weiter.
„Mein Mann“, sagte Frau Kroll und es klang, als müsse sie sich entschuldigen.
Als sie sich gesetzt hatten, fragte sie noch einmal ungeduldig: „Haben Sie Neuigkeiten von meinem Jungen? Haben Sie ihn gefunden, was ist mit ihm? Sagen Sie schon!“
Der Mann nahm die Fernbedienung vom Tisch und stellte den Ton lauter. Seine Frau starrte ihn an und begann zu weinen, leise und ganz für sich allein.
„Wir können nichts mit Bestimmtheit sagen, Frau Kroll“, begann Schleiz – es war das erste, das er hier sagte. In dem Haus des Mörders seiner Frau. „Aber es hat den Anschein, als wäre Ihr Sohn das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.“
Er zog aus seiner Innentasche ein Foto heraus, das die Techniker von dem Toten heute morgen gemacht hatten. Der Junge sah darauf fast natürlich aus, die geschlossenen Augen ließen an einen Schlafenden denken. Wortlos reichte er ihr das Bild.
Sie warf nur einen kurzen Blick darauf, dann legte sie es auf den Tisch und presste sich die Hand vor den Mund.
Der Mann wandte sich zu ihr, dann nahm auch er das Bild und schaute es sich an. Lange starrte er darauf, ohne das Gesicht zu verziehen. Es war keine Regung zu erkennen, als er es zurückwarf auf den Tisch. Er stand auf und verließ wortlos das Zimmer.
„Er hat Nachtschicht“, erklärte seine Frau. Schon wieder eine Entschuldigung, dachte Schleiz.
„Es tut mir Leid“, sagte Ranke. „Sie müssen Ihren Sohn identifizieren. Dazu werden Sie zu uns kommen und ihm noch einmal gegenübertreten müssen. Werden Sie das können, Frau Kroll?“
Sie nickte stumm. Dann und wann wurde ihr Körper von einem Weinkrampf geschüttelt, es sah aus, als bisse sie in ihr Taschentuch, das sie immer noch vor ihren Mund hielt.
Eine starke, gebeutelte Frau, dachte Schleiz. Er versuchte Ähnlichkeiten zu ihrem Sohn festzustellen. Die Augenpartie schien sie dem Jungen vererbt zu haben. Die Augen standen eng zueinander, was ungewöhnlich und nicht oft anzutreffen war.
„Wie alt war Ihr Sohn?“, fragte Schleiz behutsam.
Sie antwortete nicht sofort. Sie saß immer noch stumm weinend da und starrte auf das Bild, das vor ihr auf dem Tisch lag. Sie schien seine Frage nicht gehört zu haben.
„Frau Kroll.“
Ohne den Blick zu heben, sagte sie leise: „Er war 22.“ Und dann noch leiser: „Was ist passiert mit ihm?“
„Er wurde erstochen in einem S-Bahn-Zug. Gestern nacht gegen 1Uhr 30 wurde er gefunden, tot.“
Sie schluchzte laut auf. Schleiz befürchtete, dass sie in einen hysterischen Anfall verfallen würde, doch einige Momente später hatte sie sich wieder im Griff. Sie wimmerte nur ganz leise und behielt dabei das Foto im Auge.
„Ich habe es gewusst“, schien sie vor sich hin zu singen. „Ich habe es gewusst, immer.“
„Frau Kroll.“ Er wartete bis er sich ihrer Aufmerksamkeit sicher sein konnte. Sie unterbrach ihre geflüsterte Litanei und schaute ihn an. Die Augen waren aufgequollen, so dass sie nur halb geöffnet waren. Sie machte den Eindruck einer sehr müden Frau, die einen lange geführten Kampf verloren sieht. Sie tat ihm Leid.
„Frau Kroll, wir müssen Ihnen trotz allem einige Fragen stellen. Ja? Ich verstehe, dass das schwer ist für Sie, aber es muss sein. Haben Sie das verstanden?“
Sie nickte augenblicklich.
Die Personalien abzufragen gelang gut. Schleiz bekam einen kleinen Eindruck von der Familie und Mutter Kroll gab es ein wenig Sicherheit, die bekannten Daten aufzusagen.
„Was arbeitete Jörg“, frage Schleiz.
Sie schaute zunächst auf Ranke, der lächelte sie ermutigend an, dann ging ihr Blick zurück zu Schleiz.
„Er war arbeitslos“, antwortete sie und senkte ihre Lider. Sie schämt sich schon wieder, dachte Schleiz. Sie schämt sich für sich selber, sie schämt sich für ihren Mann, für ihren Sohn.
„Seit zwei Jahren schon“, fuhr sie fort. „Er konnte einfach keine Arbeit finden, was er auch tat. Hat jede Menge Bewerbungen geschickt, ehrlich, überall hin, aber keiner hat ihn gewollt.“
„Was hat er gelernt?“
„Maurer, auf dem Bau. Ist kein leichter Beruf, das. Aber dem Jörg hat er gefallen. War gerne draußen.“
Sie lächelte, ganz zaghaft und auch ganz kurz. Es war kaum erschienen auf ihrem Gesicht, da war es auch wieder verschwunden.
„Bis seine Firma dichtgemacht hat. Über Nacht war’n die pleite und die versammelten Arbeiter arbeitslos. Das hat er nicht verstanden, der Junge. Er war doch so fleißig, war immer der letzte auf der Baustelle.“
„Er war also arbeitslos, hat Bewerbungen geschrieben und versucht, sich Arbeit zu beschaffen. Was hat er sonst so getrieben, den Tag über?“
Sie sah ihn verständnislos an.
„Ich meine, was hat er getan den ganzen Tag? Hat er Freunde getroffen, Fußball gespielt? Was weiß ich.“
„Na, was junge Leute halt machen“, antwortete sie noch immer mit fragendem Blick. „Er hat sich nicht gelangweilt, immer was zu tun gehabt. Er hatte viele Freunde.“
Spritztouren machen, dachte Schleiz. Mit geklauten Autos. Leute über den Haufen fahren und sich nicht mehr drum kümmern.
„Er hat bei Ihnen gelebt?“
„Ja.“
„Da müssen Sie doch mitbekommen haben, was er trieb, den lieben langen Tag.“
Sie setzte sich gerade hin. „Ich bin morgens früh aus dem Haus, und abends muss ich auch wieder los. Wissen Sie, ich geh’ putzen und da fange ich an, wenn andere aufhören zu arbeiten. Außerdem ist Jörg ein erwachsener Mensch und hat...“Sie stockte und sah ihn fast erschrocken an. „...hatte ein eigenes Leben. Was hat das alles mit seinem Tod zu tun? Sie sollen seinen Mörder finden und nicht in seinem Privatleben herumschnüffeln.“
Ein Schweigen breitete sich aus in dem kleinen Wohnzimmer, das trotz des eingeschalteten Fernsehers bedrückend war.
Ranke setzte sich in seinem Sessel zurecht, räusperte sich kurz und fragte: „Frau Kroll, wann haben Sie Ihren Sohn Jörg das letzte Mal gesehen?“
Ihr Blick wanderte von Schleiz zu Ranke.
„Gestern Abend“, sagte sie.
„Wann genau?“
„Um zehn wohl. Ich bin dann ins Bett gegangen und habe...“ Sie fing wieder an zu weinen und war einige Moment nicht in der Lage weiter zu reden. Sie schnäuzte sich, dann atmete sie tief ein.
„Normalerweise gehe ich früher zu Bett, doch gestern war die Apotheke, die ich abends putze, länger offen und ich war ziemlich spät zu Hause.“
„Ihr Mann?“
„Der ist um acht aus dem Haus zur Nachtschicht. Er kommt morgens um sieben zurück.“
Als hätte er auf sein Stichwort gewartet, kam der Mann ins Zimmer, setzte sich stumm zurück vor den Fernsehapparat und steckte sich eine neue Zigarette an. Schleiz konnte sehen, dass er geweint hatte.
„Sie haben also Ihren Sohn nicht fortgehen sehen?“
Schweigendes Kopfschütteln.
„Wissen Sie, was er vorhatte?“
„Er hat mir nichts gesagt.“
Schleiz holte seine Zigarettenschachtel hervor, fingerte sich eine heraus und steckte sie sich an. Stumm und ohne sich umzuwenden, schob Kroll ihm den Aschenbecher herüber.
„Danke.“ Doch es kam keine Reaktion.
„Geschah es öfter, dass Ihr Sohn so spät noch aus dem Haus ging?“, setzte er fort.
Jetzt drehte sich Kroll zu ihm um. Er sah ihn an mit verweinten Augen und schleuderte ihm ins Gesicht: „Was denken Sie? Er ist ein Junge, er hat ein eigenes Leben und da kann er tun, was ihm passt. Nur weil er bei seinen Eltern wohnt und keine Arbeit hat, heißt das nicht, dass er nicht allein entscheiden kann, was gut für ihn ist.“
Schleiz dachte bitter, dass der Junge eben nicht hatte tun können, was ihm passte. Und als er es doch getan hatte, war seine Frau dabei umgekommen.
„Was könnte er denn getan haben? Haben Sie eine Ahnung, wo er hingegangen sein könnte? Hat er sich mit jemandem getroffen, vielleicht? War er mit jemandem zusammen?“
Es klapperte im Flur. Sie fuhren herum.
Ein Junge kam herein, vielleicht 16, 17 Jahre alt, mit einem Shirt, dessen Kapuze er über den Kopf gezogen hatte.
Er stutzte, als er Ranke und Schleiz sitzen sah. Seine Mutter hatte verweinte Augen, der Vater ebenfalls.
„Was is los?“, fragte er ohne zu grüßen.
Seine Mutter sah ihn von unten an und sagte leise: „Jörgie ist tot.“
Der Junge musste sich am Türrahmen festhalten, das war seine einzige Reaktion. Er sah seine Mutter wieder an und sie setzte hinzu: „Ermordet,“ Dann drückte sie ihr Taschentuch wieder vor den Mund.
Der Junge drehte sich um und verließ das Zimmer wieder. Frau Kroll erhob sich und folgte ihm.
Als sie zurückkehrte, waren ihre Augen noch verquollener, wenn das überhaupt möglich war.
Die Geräusche, die sie machte, als sie sich an den Tisch zurücksetzte, waren laut gegenüber der Stille, in die sie eindrang.
„Heiko“, erklärte sie leise. „Jörgs Bruder. Er hing sehr an ihm, sie waren ein gutes Geschwisterpaar. Und in den letzten Tagen...“
Sie brach ab und warf einen seltsamen Seitenblick auf ihren Mann. Der beachtete sie nicht und folgte nur dem Geschehen auf dem Fernsehschirm.
„Was war in den letzten Tagen, Frau Kroll“, schaltete sich Ranke ein. „Erzählen Sie es uns.“
Wieder ein Blick auf ihren Mann.
„Er war...irgendwie...verändert“, sagte sie.
„Inwiefern?“
„Es ging ihm besser, glaube ich.“ Ihr Mann bewegte sich vor dem Fernseher, drehte sich aber nicht um.
„Besser ging’s ihm“, brummte er.
„Wie, besser?“, fragte Schleiz. „Vorher ging’s ihm schlecht, oder was? War er krank?“
„Ja. Nein. Ich weiß nicht.“
„Was denn, Frau Kroll, was war mit Jörg, bevor es ihm besser ging? Seit wann ging es ihm schlecht?“
Sie wischte sich über die Augen. „Weiß nicht.“ Und schaute kurz zu ihrem Mann. „Vielleicht ein halbes Jahr.“
Ranke zog scharf die Luft ein. Schleiz unterdrückte den Drang, zu ihm hinüber zu blicken.
Wie äußerte sich das, dass es Ihrem Sohn schlechter ging?“
Er wurde traurig.“
„Traurig?“
Sie nickte und schaute ihn unglücklich an. „Sehr traurig. Er war arbeitslos, das stimmt. Aber er verlor seine Lebenslust nicht. Er hatte immer Freunde, nicht wahr, Jürgen?“
Der Mann brummte wieder.
„Und das war mit einem Mal vorbei?“
„Vor einem halben Jahr.“
„Wie muss ich mir das vorstellen? Ging das über Nacht, ganz plötzlich, dass Jörg den Lebensmut verlor? Oder zog sich das hin über Tage und Wochen?“
Sie seufzte tief. „Das ging über Nacht, mit einem Mal. Morgens, ich glaube es war ein Sonntag...“ –
Schleiz Frau war an einem Samstag Abend getötet worden. –
„...da war er plötzlich wie ausgewechselt, war ruhig, sagte keinen Mucks. Und als wir ihn fragten, was los sei, da hat er plötzlich rumgeschrieen und ist aus dem Zimmer gerannt.“
„Und dann? Hat sich sein Verhalten gebessert?“
„Im Gegenteil. Es wurde immer schlimmer. Er aß kaum noch etwas, nahm ab. Er magerte immer mehr ab, man sah ihm richtig an, dass es ihm schlecht ging. Er wurde schmal und ganz grau im Gesicht, und wenn er mal aus seinem Zimmer rauskam, dann bewegte er sich ganz langsam, wie ein – Zombie. Tagelang nur in seinem Zimmer, kein Essen, kein Trinken. Nur immer diese furchtbare Musik.“
„Was für Musik?“
„Heavy Metal“, kam es vom Ehemann.
„So hat er in seinem Zimmer gesessen. Hat die Musik bis zum Anschlag aufgedreht und sich nicht gemeldet. Es wurde immer schlimmer.“
Sie stand auf, wischte sich übers Gesicht und fragte im Hinausgehen: „Wollen Sie was trinken?“
Ohne ein Antwort abzuwarten, ging sie und hinterließ eine Leere.
Die Sendung im Fernsehen war zu Ende, quengelnde, nervende Werbespots überliefen den Schirm. Der Mann stellte den Apparat mit der Fernbedienung aus und verließ ebenfalls den Raum, ohne etwas zu sagen. Ranke und Schleiz blieben allein.
„Was meinen Sie?“, fragte Ranke leise; es war trotzdem unnatürlich laut nach dem unnötigen Krawall aus dem Fernseher.
„Ich denke“, antwortete Schleiz, „dass er es ist. Alles passt genau, die Zeiten, das Verhalten. Der Unfall vor einem halben Jahr auf einem Samstag, der ihn aus der Bahn wirft. Am Sonntag geht es ihm mies, er hat ein schlechtes Gewissen und macht sich Vorwürfe. Das ist mehr, als ich die ganze verdammte Zeit erwartet habe.“
„Wie ist dann die plötzliche Besserung zu erklären?“
„Das weiß ich auch noch nicht.“
Die Frau betrat das Zimmer wieder und sie brachen die Unterhaltung ab. Sie balancierte Kaffeegeschirr, eine Kanne, Milch und Zucker auf einem Tablett, stellte es auf dem Tisch ab, peinlich darauf bedacht, nicht die Fotografie zu verdecken, und begann, die Tassen zu verteilen. Sie fragte nicht, sondern schenkte jedem ein und setzte sich dann auf ihren Platz.
„Frau Kroll“, begann Schleiz, nachdem er einen Schluck Kaffee genommen hatte. „Wann nahm es ein Ende, dass es Ihrem Sohn schlecht ging, wann ging es bergauf?“
„Vorgestern.“
Das Wort stand im Raum, Schleiz wartete, dass sie fortfuhr, doch sie schwieg.
„Wie haben Sie das bemerkt?“, fragte Ranke stattdessen.
„Er hat gelächelt, einfach so. Aus heiterem Himmel hat er mich angelächelt. Da hab ich gewusst, jetzt geht’s ihm besser.“
Sie begann wieder zu weinen, hielt sich den Mund und schluchzte.
„Er wusste, dass er sterben musste“, presste sie hervor. „Deshalb war er so glücklich. Er hat gewusst, dass seine Leiden ein Ende haben.“
Ranke und Schleiz blickten sich an. Eine Weile verharrten sie so, einander anstarrend, und von einem zum anderen – von Schleiz zu Ranke – sprang das Verstehen.
„War sonst noch etwas Auffälliges an seinem Verhalten?“, fragte Schleiz und plötzlich klang er aggressiv und hart. Frau Kroll sah ihn verwirrt an bevor sie antwortete.
„Er telefonierte viel, gestern und vorgestern“, sagte sie schließlich.
„Mit wem?“ Schleiz schrie es fast.
„Woher soll ich das wissen?“
„Sagen Sie mir, mit wem Ihr Sohn telefonierte! Wo ist sein Handy?“ Er schaute Ranke fragend an. Der schüttelte den Kopf.
„Jörg hat kein Handy“, antwortete die Kroll.
„Ja, verdammt, womit hat er dann telefoniert?“
Schleiz war aufgesprungen und funkelte die verschüchterte Frau an. Die wagte nicht, sich zu regen und flüsterte: „Mit Heikos Handy.“
„Wo ist sein Zimmer?“, schrie Schleiz und stürzte zur Tür hinaus. Ranke sprang auf und lief ihm hinterher. „Verdammt“, rief er. „Machen Sie bloß keinen Scheiß!“
Schleiz im Flur riss jede Türe auf.
„Ich will das verdammte Handy“, brüllte er. „Ich brauch die Nummer.“
Dann fand er das Zimmer, in dem sich Jörgs Bruder aufhielt. Der Junge lag auf dem Bett und sprang auf, als Schleiz in den Raum stürzte.
„Was soll ’n der Scheiß“, nölte er und riss die Kopfhörer herunter. „Ich hab’ nichts getan.“
„Dein Handy“, stieß Schleiz atemlos hervor. „Ich will dein Handy haben.“
Ranke erschien in der Tür und hielt sich schwer atmend am Rahmen fest.
„Was soll das“, rief er. Hinter ihm tauchte Frau Kroll auf und zu guter Letzt ihr Mann.
Schleiz störte das nicht. Er griff den Jungen mit ungeheurer Kraft und zerrte ihn zu sich heran. Er zog das Gesicht ganz nah und zischte: „Gib mir dein verdammtes Handy!“
Da war Ranke bei ihm, packte wiederum Schleiz und versuchte ihn von dem Jungen wegzuziehen, ihn zur Vernunft zu bringen, aus der Rage heraus.
Schleiz ließ den Jungen los, der zurücksank. Ranke hielt Schleiz einige Sekunden umklammert. „Gut?“, fragte direkt in dessen Ohr.
Schleiz sank erschöpft auf einen Stuhl und sagte statt zu antworten: „Mein Sohn ist nur wenig älter als du, Junge.“
Er blickte zu Ranke auf und der sah in dem Blick nur Trauer.
Ranke sagte zu dem Jungen: „Geben Sie ihm Ihr Handy, bitte. Er will nur etwas nachschauen.“
Heiko Kroll zog aus der Hosentasche ein abgegriffenes Klapp-Handy hervor und reichte es Schleiz. Der kannte sich damit aus – sein Sohn hatte ein ähnliches Modell.
Er öffnete es, suchte im Menu das Anrufprotokoll hervor und öffnete die Liste der gewählten Rufnummern. Er brauchte nicht lange zu blättern, bis ihm die vertraute Telefonnummer ins Auge sprang.
Er gab Ranke das Handy, bedeckte seine Augen mit der rechten Hand und begann zu weinen.
Seine Stimme zitterte und wirkte brüchig, als er sagte: „Sie ist es. Die Telefonnummer gehört meinem Sohn.“
Benjamin Schleiz wurde in seiner Wohnung nicht angetroffen, auch nicht in der seiner Freundin. Ebenso wenig reagierte er auf Anrufe auf sein Handy. Die Fahndung nach ihm wegen dringenden Verdachts auf Mordes wurde ausgeschrieben.
Erst am anderen Morgen gegen drei Uhr konnte er verhaftet werden; er hatte sich selbst gestellt.