Was ist neu

Dorian Hobbs

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24.01.2004
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Dorian Hobbs

„Guten Tag, mein Name ist Howard Douglas. Unser Thema heute: Alles muss raus – jetzt sag’ ich dir die Wahrheit.“
Das Publikum jubelte, trampelte, applaudierte und johlte.
Howard schielte auf seine Karten.
„Mein erster Gast ...“
Dröhne Begeisterung unterbrach ihn.
„Danke. Vielen Dank.“
Er verbeugte sich grinsend und hob die Hände. Das Publikum verstummte langsam, fast widerwillig.
„Unser erster Gast ist Sarah. Sie ist fünfundzwanzig und will ihrem Mann ein Geständnis machen. Willkommen Sarah.“
Eine dickliche Frau betrat das Studio und watete zögernd durch den brandenden Applaus, schlurfte zu einem der aufgereihten Stühle, setzte sich und presste ein leises „Hallo“ heraus.
„Sarah, du bist hier, weil du deinem Mann ein Geständnis machen willst.“
Sie nickte ihren Schuhen zu.
„Dann leg’ los. Dein Mann sitzt hinter der Bühne und kann dich hören.“
„Ich ...“ Sarah räusperte sich. „Ich ... bin schwanger.“
„Aber nicht von deinem Mann, oder?“
Sie kniff die Augen zusammen, schob die Mundwinkel auseinander, begrub das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf, während Tränen zwischen ihren Fingern hindurch sickerten. Das Publikum buhte und pfiff.
„Wie lange weißt du es schon?“ Howard reichte ihr ein Taschentuch.
„Seit einem ... nein, zwei Monaten.“
Howard setzte sich neben sie, legte seine Stirn in Falten und seinen Arm um ihre Schulter.
„Warum hast du es ihm nicht schon früher gesagt?“
Sarah verschmierte mit dem Taschentuch Tränen, Wimperntusche und Make-Up auf ihrer bleichen Haut.
„Ich ... ich konnte es nicht. Ich konnte es ihm einfach nicht sagen.“
„Man kann über alles reden.“ Howard hob seinen Zeigefinger. „Man muss sogar über alles reden.“
Das Publikum applaudierte stürmisch.
„Ich ... ich weiß“, schluchzte Sarah. „Deswegen bin ich ja hier.“
„Dann wollen wir mal sehen, was dein Mann dazu sagt.“ Er stand auf, stellte sich mit dem Rücken zum Publikum und zeigte auf die Tür. „Hier ist Paul ...“

„Kannst du den Mist nicht ausschalten, Terry. Ich kann mich dabei nicht konzentrieren.“ Dorian Hobbs klopfte mit der Spitze des Queues auf den abgenutzten Parkettfußboden und schaute hinüber zur Theke.
„Ist eh `ne Wiederholung“, sagte der Barkeeper, ging zum Fernseher, der über dem Tresen hing und ließ den Applaus verstummen.
„Und kauf’ dir endlich neue Kugeln“.
Terry warf ein Glas in die Spüle, stützte sich am Zapfhahn ab und starrte auf die Theke, während er Fusseln von seiner schwarzen Wollmütze pflückte.
„Fehlen doch kaum welche.“
„Nur die Eins, die Fünf, die Sieben und die Weiße“, sagte Dorian, setzte den Queue an und berührte mit der Pomeranze die schwarze Kugel. Ralph, der an einem der Tische saß, die an der Fensterfront aufgestellt waren, trommelte mit den Handflächen auf der Tischplatte und grummelte Anfeuerungen. Dorian sah sich zu ihm um.
„Hey, lass’ das. Muss mich konzentrieren.“
Ralph legte die runzlige Stirn in Falten, beobachtete eine Fliege, die am Fenster entlang schwirrte und trommelte weiter.
Dorian schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf seinen Stoß. Er kniff die Augen zusammen, holte aus und führte den Queue mit einem Ruck nach vorne. Die schwarze Kugel schlingerte über den Tisch, kullerte gegen eine Bande und blieb dort liegen.
„Scheiße.“
Ralph seufzte, stellte sein Getrommel ein und steckte den Zeigefinger in sein Bier, zerstach das blinkende Spiegelbild einer Neonreklame, die über seinem Tisch hing.
„Du sagst es“, murmelte er und leckte die Tropfen von seiner Fingerkuppe.
Dorian warf den Queue auf den Billardtisch, schlenderte zur Theke und setzte sich auf einen Barhocker.
„Ich war auch schon mal besser.“
Terry zuckte mit den Schultern.
„Bier“, fragte er.
„Ja.“
„Und er?“
Terry deutete auf den hageren Mann, der neben Dorian auf seinem Hocker hing, die Nase über einem leeren Glas, den buschigen Bart in einer Bierlache. Er pfiff leise vor sich hin und schreckte hoch, als Dorian ihn mit seinem Ellenbogen anstieß.
„Was willst du trinken, Dave?“
„Ich ... ich weiß nicht. Was willst du denn trinken?“
„Bestell’ ihm doch ein Fläschchen mit warmer Milch“, sagte Terry, während er Gläser abtrocknete und unter der Spüle verstaute.
„Lass’ die Sprüche. Du weißt, dass er nichts dafür kann.“ Er tippte sich gegen die Stirn.
„Kann ich etwa was dafür?“
„Halt’ die Klappe und bring ihm ein Bier.“
Terry krempelte die Ärmel seines Wollpullovers hoch, füllte zwei Gläser und stellte sie auf den Tresen.
Dorian trank einen Schluck und wischte sich den Schaum vom Mund.
„Eigentlich schon mal Billard gespielt, Dave?“
„Ich ... nein, hab ich noch nicht. Hab’ nur das Ding, den Stock, genommen und angesehen. Aber Terry hat gesagt, dass ich ihn nicht ...“
„Queue.“
„Was?“
„Der Stock heißt Queue.“
Dave nickte, nahm sein Glas und trank, trank und nickte, kippte Bier auf die Theke und sein T-Shirt. Terry verdrehte die Augen und wischte mit einem nassen Lappen über die zerkratzte Holzplatte, während Ralph ächzend aufstand und zur Jukebox schlurfte. Er beugte sich nach vorne, presste seine dicken Brillengläser gegen das Fenster, hinter dem die Songliste angebracht war, drückte auf den Knöpfen herum und stampfte zu den Klängen von Comfortably Numb zurück zu seinem Tisch.
„Nichts los hier, was“, sagte Dorian und wippte im Takt der Musik mit seinen Füßen.
„Es soll Menschen geben, die vormittags arbeiten müssen.“
„Durchaus möglich.“
Dorian leerte sein Glas.
„Ich muss los“, sagte er und rutschte von seinem Hocker.
Terry zog die Mütze tiefer ins Gesicht, Dave schob ein Glas von einer Hand in die andere, Roger Waters sang und Ralph versuchte es.
„Muss noch einkaufen.“
„Schön für dich.“
Dorian klopfte Dave auf die Schulter.
„Wir sehen uns heute Abend.“
„Heute Abend“, wiederholte Dave und grinste in sein Glas.
Dorian bezahlte und verließ die Bar.

*

Er blinzelte, als er ins Freie trat, schirmte seinen Augen gegen das Sonnenlicht ab. Die Luft war warm und feucht, ein sanfter Wind trieb Schönwetterwolken über den Himmel.
Dorian sah sich flüchtig nach Autos um und schlenderte über die Straße zum gegenüberliegenden Supermarkt. Er zog die Tür ein Stück auf und bemerkte einen Zettel, der in Augenhöhe am Glas hing und für eine Stelle als Kassierer in der Nachtschicht warb. Dorian riss einen der Schnipsel ab, auf denen die Telefonnummer stand, die bei Interesse anzurufen war, steckte ihn in die Hosentasche und betrat den Laden.
Er nahm einen Einkaufskorb, ging durch die neonbeleuchteten Gänge, vorbei an Regalen, vollgestopft mit Dosen, Schachteln, Tüten und Flaschen, während sein Plastikkorb sich füllte, vorbei an summenden Kühltruhen, aus denen eisige Luft schwappte, als er ihre Glastüren öffnete und Fertigmahlzeiten unter seinen Arm klemmte.
Dorian bog in den letzten Gang ein - kürzlich abgelaufene Lebensmittel zum halben Preis – und schlenderte an den Regalen entlang, studierte große Preisschilder und kleine Verfallsdaten, legte zwei Tüten Kartoffelchips in seinen Korb und bückte sich nach einer Tiefkühlpizza, die unter seinem Arm herausgerutscht war und auf dem Boden lag. Er hob sie auf, ging weiter und erstarrte. Am anderen Ende des Ganges quietschte ein Rollstuhl um die Ecke. Sein Fahrer stoppte, als er Dorian erblickte, sah ihn kurz mit dem starren Gesicht einer Wachsfigur an, senkte den rundlichen Kopf und strich mit beiden Händen über seine Jeans, die unterhalb der Knie schlaff bis auf den Boden hing. Dann griff er an die Räder, fuhr weiter. Dorian zog wahllos eine Crackerschachtel aus dem Regal und starrte auf die Zutatenliste. Der Rollstuhlfahrer kam näher, ächzte und schnaufte, passierte ihn quietschend und stoppte hinter seinem Rücken abermals.
„Guten Tag, Doktor.“ Das letzte Wort würgte der Man fast hervor, spuckte es aus wie einen Knorpel. Dann rollte er weiter, verschwand in der Gemüseabteilung. Sein stechender Geruch, eine Mischung aus Schweiß, Alkohol und dem Versuch, ihn mit billigem Rasierwasser zu überdecken, hing noch eine Weile in der kühlen Luft.
Dorian stellte die Schachtel zurück ins Regal, eilte zur Kasse, warf die Waren auf das Rollband und stopfte sie im Takt des piepsenden Scanners in Plastiktüten.
„Einen schönen Tag noch.“ Die Kassiererin lächelte ihn mit aufeinander gepressten Lippen an.
„Danke. Ach ja, ich hab’ gelesen, dass Sie `nen Kassierer suchen und ...“
Ein Quietschen näherte sich, ein Ächzen und Schnaufen - irgendwo hinter ihm.
„Vergessen Sie’s.“ Dorian packte die Tüten und stürmte aus dem Supermarkt.

*

Die Straße verlief schnurgerade, trennte die Häuserreihen auf beiden Seiten voneinander wie eine Symmetrieachse. Weiße Zäune, weiße Fassaden, Gras, Blumenbeete und Kies – Kies, Blumenbeete und Gras, weiße Fassaden, weiße Zäune.
Rentner und Hausfrauen beobachteten Dorian, während er an ihren Häusern vorbei ging, stützten sich auf Rasenmäher und Schaufeln, lugten über Zeitungen und Verandageländer, öffneten Vorhänge und schlossen sie wieder, lasen weiter oder widmeten sich ihrer Gartenarbeit, wenn er ihre Blicke erwiderte, nickten ihm zu, wenn sie ihnen nicht rechtzeitig ausweichen konnten.
Harold Jenkins kniete an seinem Zaun und beschnitt eine Rosenhecke, die sich dicht gegen die weißen Latten presste und zwischen ihnen hindurch wucherte, einzelne Zweige auf den Gehweg streckte. Dorian blieb stehen und setzte die Einkaufstüten ab.
„Tag Harold.“
Mr. Jenkins sah hoch und schob sich den Sonnenhut aus dem Gesicht.
„Tag Mr. Hobbs.“ Harold stand auf, zog die Arbeitshandschuhe aus und stopfte sie in seine Hosentaschen.
„Herrliches Wetter für Gartenarbeit.“
„Ja ... stimmt. Ich ... ich würde ja gerne mit Ihnen plaudern, aber meine Frau wird das Essen schon fertig haben und ...“
„Schöne Rosen.“
„Ja ... ja, danke.“ Er sah sich zum Haus um.
„Benutzen sie Dünger?“
„Was? Äh ... nein, keinen Dünger. Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich rein.“
„In Ordnung. Will dich nicht aufhalten. Man sieht sich.“
„Ja, bestimmt“, sagte Harold, drehte sich um und verschwand im Haus.
Dorian hob die Tüten auf, schleppte sie die letzten paar Meter zu seinem Grundstück, ging über den Kies, nahm die beiden Stufen zur Eingangstür mit einem Schritt, stellte unter dem Baldachin seine Einkäufe ab und steckte den Schlüssel ins Schloss.
„Bin wieder da“, rief er und trat in den Flur. „Ruth?“
„In der Küche.“
Dorians Spiegelbild huschte über gerahmte Fotos, sein Schatten über gestreifte Tapete, als er durch den schmalen Gang ging, an seinem Ende in die Küche abbog.
Ruth stand am Herd und rührte in einem Kochtopf.
„Was gibt’s?“
„Suppe“, sagte sie, schüttelte den Löffel ab und legte ihn auf den Rand des Topfes.
Dorian stellte die Tüten auf die Arbeitsfläche und verstaute die Vorräte im Kühlschrank.
„Ich hab’ Adam getroffen“, nuschelte er ins geöffnete Eisfach, während er eine Pizza hinein schob.
„Was?“
Dorian schloss den Kühlschrank und warf die Plastiktüten in den Mülleimer.
„Ich hab’ Adam getroffen.“
„Sind ihm schon neue Beine gewachsen?“ Ruth pustete braungelockte Harrsträhnen aus ihrem Gesicht.
Dorian setzte sich an den Küchentisch und betrachtete eine Obstschale, die, von gestickten Blumen umwuchert, wie in der Mitte eines Textilbeetes stand. Er nahm einen Apfel heraus, ließ ihn von Hand zu Hand kullern und starrte dabei aus dem Fenster.
„Leg den Apfel zurück.“ Ruth hatte sich umgedreht, stand mit verschränkten Armen vor dem Herd. Dampfschwaden zogen über ihrem Kopf in die Dunstabzugshaube.
Dorian zuckte zusammen und sah sie mit gerunzelter Stirn an.
„Der Apfel. Leg’ ihn zurück in die Schale.“
„Vielleicht will ich ihn ja essen.“
Ruth deutete mit dem Daumen über ihre Schulter.
„Gibt doch gleich was.“
Dorian nickte und legte den Apfel zurück zu den anderen.
„Im Supermarkt suchen sie `nen Kassierer“, sagte er.
„Und?“
„Naja, ich ... ich hab’ mir überlegt, mich vielleicht zu bewerben.“
Ruth rümpfte ihre spitze, leicht gebogene Nase.
„Nachtschicht“, fuhr er fort. „Für sieben Dollar die Stunde.“
„Kommt nicht in Frage.“
„Warum nicht?“
„Mein Mann arbeitet nicht als Kassierer. Das habe ich ...“ Sie stockte kurz. „Das haben wir nicht nötig.“
„Aber ...“
„Ich verdien’ doch wohl genug für uns beide.“
„Schon, aber ...“ Dorian blickte zu Boden, schob mit seiner Schuhspitze einen Kronkorken über die Fliesen.
„Was aber?“
„Ich ... ich hab’ dich schon länger nicht mehr schreiben sehen und ...“ Er bückte sich und hob den Korken auf.
„Solange genug Geld da ist, brauchst du dich nicht dafür zu interessieren, wie ich mit meinem Buch voran komme. Um die Anderen hast du dich ja auch nicht gekümmert. Nur um das Geld, das sie gebracht haben.“ Ruths schmales Gesicht rötete sich, ihr linkes Augenlid zuckte.
„Vergiss’ nicht, wer sich früher nur um mein Geld gekümmert hat. Wem verdankst du denn das Haus? Wer hat für dich geschuftet? Wer? “ Dorians Knöchel blichen aus, als er seine rechte Hand zu einer Faust ballte.
„Das war früher“, sagte Ruth und zuckte mit den Schultern. „Früher.“
„Was ist jetzt mit dem Job?“
„Vergiss es.“ Ruth drehte sich zum Herd um schaltete die Platten aus.
Dorian betrachtete ihren Rücken, öffnete seine Faust und schüttelte den Kronkorken, der sich tief in die Haut gegraben hatte, von seiner Handfläche.
„Riecht lecker“, sagte er.

Während Teller und Löffel in der Spüle klapperten, ging Dorian ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein.
Abendlicht fiel durch das Fenster in den Raum, als er ihn wieder abschaltete. Plüschkissen, Teppiche und Papierblumen, Glasvitrinen, Porzellanteller und Sammeltassen, gestickte Bilder und Kunstdrucke schimmerten rötlich im Schein der untergehenden Sonne.
Dorian stand auf und streckte sich.
„Willst du wieder los“, fragte Ruth, die am Esstisch saß und ihre Fingernägel lackierte.
„Ja.“
„Hab’ dir Geld auf den Küchentisch gelegt.“
„Danke.“
Dorian stopfte die Scheine, die unter der Obstschale gesteckt hatten, in seine Hosentasche und ging zur Haustür.
„Bis nachher“, rief er und verließ das Haus, ohne auf eine Antwort zu warten.

*

Stimmen und Gelächter drangen gedämpft aus der Bar, schwappten Dorian entgegen, als er die Tür öffnete und den stickigen Raum betrat. Jack Corona, der am Fenster saß, leerte sein Glas, stand auf, ging am Billardtisch vorbei zur Theke, reichte es Terry, der das Glas abspülte, füllte und vor Dorian auf den Tresen stellte, als dieser sich auf seinen Hocker setzte und Dave begrüßte. Er trank einen Schluck und nickte Ralph zu, der am anderen Ende der Theke saß, Arm und Schulter gegen die Wand gepresst, Bierdeckel zeriss und die Stücke zu kleinen Kugeln rollte, die er vor sich aufreihte.
„Holzwürmer, Terry, Holzwürmer. Kannst du dir das vorstellen“, murmelte er.
Terry drehte ihm den Rücken zu, betrachtete sich im großen Spiegel, der an der Wand hing und die Theke verdoppelte.
„Würmer aus Holz?“ Dave sah Dorian an.
„Nein, Würmer im Holz. Nagekäfer. Anobium punctatum.“ Er grinste breit.
„Im Kreuz. Da wimmelt es von den Viechern.“ Ralph schnipste ein Pappkügelchen in die Richtung des Barkeepers und traf ihn an der Hüfte.
„Es ist kein Geld da. Sie sagen, sie wollen im Winter vielleicht Handwerker schicken.“ Eine Kugel blieb in Terrys Mütze hängen.
„Im Winter. Bis dahin ist doch alles zerfallen. Sogar die Bänke sind morsch. In den Gesangsbüchern fehlen Seiten. Und Ratten, Terry. Überall Ratten.“ Ralph lockerte den Kragen seines Talars. „Noch ein Bier, Terry.“
Der Barkeeper drehte sich um und füllte ein Glas.
„Ihr auch noch was“, fragte er.
Dorian schüttelte den Kopf, Dave malte mit seinem Zeigefinger Bierkreise auf die Theke.
Ralph trank aus, warf Terry einen Geldschein hin und stand auf. Er ging zu Dorian, legte ihm seine Hand auf die Schulter und beugte sich leicht zu ihm herunter.
„Grüß’ deine Frau von mir, ja?“ Ralph zwinkerte ihm zu, sein faltiges, bebrilltes Gesicht zerknitterte wie ein Bettlaken.
„Ja, werd’ ich machen.“
Ralph klopfte ihm drei Mal kurz mit den Fingerspitzen auf die Schulter und schlurfte zur Tür. Ein Luftzug trug die Geräusche der Straße herein - vorbeifahrende Autos, das Rauschen der Bäume - bevor er sich im Zigarettenqualm auflöste, nur Stimmen, Gelächter und den Folsom Prison Blues zurück ließ, der aus der Jukebox schepperte.
„Alles klar“, fragte Dorian.
Dave nickte.
„Schönes Wetter momentan.“
„Schön, ja.“
„Aber viel zu warm für diese Jahreszeit.“
„Zu Warm.“ Dave drehte seinen Bart um den Zeigefinger.
„Könnte auch mal wieder regnen. Der Rasen vertrocknet langsam.“
„Regen wär’ gut, ja.“
Dorian betrachtete seine Fingernägel. Hinter ihm schlugen Billardkugeln aneinander, irgendjemand redete lautstark über Abführmittel.
„Morgen schon was vor?“
„Nein, morgen noch nicht.“
„Willst du vielleicht zum Essen vorbeikommen? Samstags gibt’s immer Braten.“
„Ja.“
„Gut. Um zwölf dann.“
„Zwölf.“ Dave betrachtete seine Handgelenke. „Wie spät?“
„Noch früh.“
„Wie spät?“
Dorian seufzte und sah auf seine Uhr.
„Fünf nach neun“, sagte er.
Dave rutschte auf seinem Hocker hin und her, stellte ein Bein auf den Boden, stand halb auf und setzte sich wieder.
„Ich ... ich ... muss los. Meine ... meine ... Mutter will nicht, dass ich so lange weg bleibe. Meine Mutter hat gesagt, um neun, spätestens neun. Fünf nach. Schon zu spät.“
Er sprang auf und blieb hinter Dorian stehen.
„Schon in Ordnung. Komm morgen pünktlich.“
Terry sah Dave grinsend nach, salutierte, als er die Tür aufriss und ins Freie stolperte, machte dann einen Schritt nach vorne und trat an die Theke..
„An deiner Stelle würde ich nicht zu oft mit dem Kerl rum hängen. Wer weiß“, sagte er beugte sich nach vorne und presste seinen Zeigefinger gegen Dorians Stirn, „vielleicht ist er ja ansteckend.“
Terry kicherte. Dorian packte seinen Finger mit der rechten Hand und bog ihn nach hinten. Terry schrie.
„Du sollst deine verdammte Klappe halten.“ Der Finger knackte, Terry wimmerte. „Halt einfach deine beschissene Klappe.“
Dorian öffnete die Faust, Terry taumelte zurück und klemmte seine Hand zwischen Arm und Oberkörper.
„Du dämliches Arschloch. Hast mir fast den Finger gebrochen“, fluchte er.
Dorian stützte seine Ellenbogen auf die Theke, senkte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
„Es ... es tut mir leid. Weiß auch nicht, was mit mir los ist.“ Er starrte an Terry vorbei in den Spiegel. „Wie viel schulde ich dir?“
„Zweifünfzig für das Bier und fünf für den Finger.“
Dorian legte zehn Dollar auf den Tresen und stand auf.
„Stimmt so“, sagte er und ging durch den Raum, schritt durch starrendes Schweigen zur Tür.

*

Dorian schloss die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und starrte einige tiefe Atemzüge lang in die Dunkelheit des Flurs, bevor er nach dem Lichtschalter tastete.
„Hallo“, rief er, stieß sich ab und ging ins Wohnzimmer.
Schritte eilten die Treppe hinunter und durch den Flur, während Dorian sich in den Sessel fallen ließ.
„Was ... was machst du denn schon hier?“ Ruth erschien im Morgenmantel in der Wohnzimmertür und glättete ihr Haar.
„Dave musste früh nach Hause.“
„Der Trottel“, fragte sie und schlurfte mit verschränkten Armen zur Couch.
„Er ist zurückgeblieben.“
„Wo ist da der Unterschied?“
Ruth setzte sich, griff nach einem Kissen und schüttelte es auf.
„Er kommt morgen zum Essen. Ist das in Ordnung?“
„Meinetwegen“, sagte sie, legte das Kissen zurück und sah sich zur Tür um.
„Wem gehört eigentlich der schwarze Van?“
„Welcher schwarze Van?“
“Der in unserer Einfahrt.“
„Steht da einer?“ Ruth griff zur Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und erhöhte die Lautstärke. Ein Gerichtssaal erschien auf dem Bildschirm.
„Ja.“
„So?“
Tumult im Publikum, Stimmen und Geschrei. Hammerschläge auf dem Richterpult, ein umstürzender Stuhl. Schritte auf der Treppe, dann im Flur. Ein startender Motor, ein sich entfernendes Auto.
„Dann koch’ ich morgen also für Drei.“
„Ja.“ Dorian streckte seine Finger, die sich zuvor in das Plüsch der Lehnen gegraben hatten. „Willst du das wirklich sehen?“
„Sonst hätte ich es wohl kaum angestellt. Kannst dir ja oben was Anderes ansehen.“

Dorian ließ seinen Zeigefinger über die Tapete gleiten, als er die Treppe hinauf ging, malte im Flur Wellenmuster auf die Wand, ließ ihn über einen Türrahmen springen und auf der Tür verharren. Er drückte sanft gegen das Holz. Der Lichtstreifen, der durch den Spalt in das Schlafzimmer fiel, verbreiterte sich langsam, beleuchtete zunächst den Kleiderschrank, überflutete nach und nach den Teppich, erreichte den Nachttisch und stoppte kurz vor dem Bett, zog sich ruckartig zurück, verblasste, als die Tür zu schlug, tauchte im Arbeitszimmer erneut auf und vermischte sich dort mit dem Licht der Deckenbeleuchtung.
Dorian ging zu einem der Bücherregale, die das große Fenster gegenüber der Tür flankierten, wischte mit der Handfläche Staub von den Brettern, rückte vereinzelte Exemplare von Ruth Hobbs’ Der Goldene Anzug zurecht, richtete einen Stapel Zeitschriften auf und stützte ihn mit einer Cäsarius von Nazainz-Porzellanfigur ab, die dem Druck, der auf ihr lastete, nicht stand hielt und auf das rissige Gesicht fiel.
Dorian winkte ab, schlenderte zum Fernseher, griff nach der Fernbedienung, die auf dem Plastikgehäuse lag und ging zum Schreibtisch. Er setzte sich, hob die Schreibmaschine, in der ein leeres Blatt steckte, von der Gummiauflage und stellte sie auf den Fußboden, schaltete den Fernseher ein und wechselte das Programm. Er lehnte sich zurück, während ein Zeuge den Saal betrat.

*

Dünne Dampfschwaden stiegen aus Kaffeetassen in die Morgenluft, das leise Klappern eines rührenden Löffels durchbrach die träge Stille der Küche. Aus dem Backofen floss Licht auf die Fliesen und bildete eine blassgelbe Lache, die Dorians Schuhe umspülte, während er an die Lehne eines Küchenstuhls griff und ihn vom Tisch abrückte.
„Setz dich gar nicht erst hin. Du musst noch mal schnell zum Supermarkt.“ Ruth verbarg ihr Gesicht hinter einer Zeitung.
„Was brauchen wir denn noch“, fragte Dorian und nippte an seinem Kaffe.
„Erbsen.“ Ruth faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch und glättete das Papier mit der Handkante.
„Wie viel?“
„Am besten gleich zwei Dosen.“ Sie streckte sich und gähnte. „Hast du noch genug Geld?“
Dorian nickte, stellte seine Tasse auf den Tisch, beugte sich zum Backofen herunter und betrachte den Braten durch das Sichtfenster.
„Der sieht gut aus“, sagte er.
„Ich weiß.“ Ruth trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte.
Dorian leerte seine Tasse mit drei hastigen Schlucken und ging zur Tür.
„’Ne bestimmte Marke?“
„Irgendeine.“
„In Ordnung“, sagte er, verließ das Haus, trat in den Schatten des Baldachins, lehnte sich gegen einen der beiden Holzpfeiler, die das kleine Dach abstützten und sah über die flache Hecke zum Nachbargrundstück hinüber. Harold Jenkins stand auf einer Leiter, die an seiner großen Eiche lehnte und sägte an einem Ast, der bis an das Haus reichte und mit der Spitze an der Fassade kratze. Das Blatt glitt vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück, riss feine Späne aus dem Holz, verhakte sich, wurde aus dem schnell tiefer werdenden Spalt gezerrt, wieder angesetzt und vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück bewegt, bis der Ast abknickte und auf den Rasen fiel.
Dorian starrte auf die helle Schnittkante, während Harold von der Leiter stieg und hinter dem Haus verschwand, dann eilte er über den Kies, an Zäunen entlang und über die Straße zum Supermarkt.
Er hastete durch die klimatisierte Enge zu den Konserven, überflog die Preisschilder, nahm zwei Dosen aus dem Regal und zuckte zusammen. Ein leisen Quietschen schlich sich hinter seinem Rücken heran, kam näher, wurde lauter, stoppte kurz, kroch weiter, auf ihn zu, kam näher, wurde lauter und erreichte ihn schließlich. Ein grauhaariger Mann schlurfte vorbei, den Oberkörper weit über den Griff des Einkaufswagens gebeugt. Das Quietschen begleitete ihn um die Ecke und in den nächsten Gang, dann wurde es leiser und verstummte.
Dorian schloss die Augen und atmete tief ein, bevor er zur Kasse ging und mit zitternder Hand Kleingeld aus seiner Geldbörse kramte.

*

„Schieb mal die Erbsen rüber.“
Dave zerschnitt sein Fleisch in kleine Streifen, die er in der Mitte des Tellers anordnete und mit Kartoffelbrei verzierte.
Dorian klopfte auf den Tisch.
„Hey, Dave. Die Erbsen her.“
Er streckte den Arm aus und zog die Schüssel zu sich heran, als sie seine Hand erreichte.
„Und spiel’ nicht mit deinem Essen. Ich glaube nicht, dass `ne Kartoffelbrei-Fleisch-Collage anerkannte Kunst ist.“
„Meine Mutter ... meine Mutter sagt, das Auge isst mit.“
Dorian klatschte Erbsen auf seinen Teller und glätte den Haufen mit einem Löffel.
„Wenn deine Augen das essen sollen, müssen sie entweder Banausen oder fast verhungert sein.“
Er lachte und sah zu Ruth, die auf ihren Teller starrte, dann zu Dave, der sich ein Stück Fleisch in den Mund schob.
„Ich meine, das auf dem Teller ... das ist ... das ist doch ...“
Ruth kippte Soße über ihren Brei, Dave trank einen Schluck Wasser und spülte die Flüssigkeit mit abwechselnd geblähten Backen durch seinen Mund, bevor er sie geräuschvoll herunter schluckte. Dorian schüttelte den Kopf und schob die Schüssel zurück in die Tischmitte.
„Nimmst du keine Soße, Dave?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Ich ... ich mag keine Soße.“
„Verdirbt die Optik, was?“ Dorian kicherte.
Messer schabten über Porzellan, Gabelzinken durchbohrten Fleisch, gruben sich in Erbsen und Kartoffelbrei. Gläser klirrten, Wasser gluckerte. Kauen und Schlucken, Schlürfen und Schmatzen.
„Das ... das schmeckt lecker“, murmelte Dave mit vollem Mund.
„Das hört man.“ Dorian tunkte ein Stück Fleisch in die Bratensoße. „Dein Bart hängt übrigens im Brei.“
Dave richtete seinen Oberkörper auf und rückte mit dem Stuhl näher an den Tisch.
„Das würde nicht passieren, wenn du dich nicht immer so hängen...“
„Sei still und iss.“ Ruth hatte die Hände auf den Tisch gelegt, ihr Besteck ragte aus den geschlossen Fäusten; Bratensoße lief an der Messerklinge entlang, über den Griff und auf ihre Hand.
Dorian ließ seine Gabel auf den Teller fallen und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
„Keinen ... keinen Hunger mehr?“
Er schüttelte den Kopf und schwieg, während die Anderen aßen, stand auf, als sie ihr Geschirr zusammen stellten und folgte ihnen in die Küche, nachdem sie mit Tellern und Gläsern darin verschwunden waren.
Dorian blieb vor der angelehnten Tür stehen.
„... endlich das Geld haben, das du mir schuldest.“
„Ich ...“
„Denkst du, ich mach’ das zum Spaß? Ich hab’ ja nichts dagegen, wenn jemand ein paar Mal anschreiben lässt, aber irgendwann will ich Kohle sehen.“
„Du ... du bekommst das Geld.“ Daves Stimme zitterte durch den schmalen Türspalt.
„Davon geh’ ich aus. Und wenn nicht“, zischte Ruth deutlich leiser, „erfährt deine Mutter, wofür ihr lieber Sohn sein Taschengeld ausgibt. Willst du das? Soll sie es erfahren?“
„Nein ... nein ... bitte, ich ...“ Er unterbrach sich, als Dorian die Tür aufstieß und die Küche betrat.
Ruth löste ihre Hand von Daves Kragen und trat hastig einen Schritt zurück.
Dorian stellte sein Geschirr in die Spüle in ging ins Wohnzimmer.

*

„Am Sonntagmorgen schon Saufen wie ein Loch.“ Terry schüttelte grinsend den Kopf.
„Klappe halten und zapfen“, sagte Dorian und schob sein leeres Glas an den hinteren Rand der Theke, dem Barkeeper entgegen.
„Mir soll`s recht sein“, sagte er, füllte das Glas und stellte es vor Dorians Nase, die wenige Zentimeter über seinen angewinkelten Armen hing.
Dave saß neben ihm und rieb schweigend an seiner Stirn, Jack Corona spielte fluchend Billard. Die Jukebox flüsterte einen Beatles-Song, hauchte Ob-La-Di, Ob-La-Da aus ihren alten Lautsprechern in die nach Kaffee, Bier und Putzmittel riechende Luft.
„Kannst du das Ding nicht lauter stellen?“
„Das könnte ich machen.“
„Und?“ Dorian drehte sein Bierglas, bis der Henkel gegen seine Nase stieß.
„Was und?“
„Warum machst du es nicht?“
„Es ist Sonntag.“
„Na und? Morgen ist Montag. Übermorgen ist Dienstag. Dann Donnerstag ...“
„Mittwoch ... erst kommt Mittwoch“, sagte Dave.
„Halt deine Fresse.“ Er richtete sich kurz auf, trank einen Schluck, sackte wieder zusammen und drehte sein Glas in die andere Richtung. „Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag. Sonntag. Und dann fängt die ganze Scheiße wieder von vorne an. Beschissene Wochen, beschissene Tage. Einer nach dem Anderen, einer wie der Andere.“ Er leerte sein Glas und warf es Terry zu, der es im letzten Moment auffangen konnte. „Und du willst mir erzählen, du kannst die beschissene Jukebox nicht lauter stellen, nur weil heute so ein verdammter Sonntag ist?“
Terry wischte sich mit einem Trockentuch Bier vom Pullover, das aus Dorians Glas gespritzt war.
„Ganz genau“, sagte er.
„Fick dich.“ Dorian rutschte von seinem Hocker und torkelte zum Klo.
Als er zurück kam, saß Ralph auf dem Platz an der Wand und redete mit Terrys Rücken.
Er unterbrach den Monolog, als Dorian auf seinen Hocker stieg.
„Morgen“, sagte er.
„Morgen“, antwortete Dorian, während Ralph weiter redete, über seine Kirche, Kreuze, Gesangsbücher und Verfall schwätzte. Und über Holzwürmer.
„Anob … Anobium punctatum.” Dave stupste Dorian mit seinem Ellenbogen an und lächelte.
„Halt deine beschissene Fresse“, brüllte Dorian und sprang auf. „Noch ein Wort und ich schlag’ dir dein bescheuertes Grinsen aus dem Gesicht“
Er schmetterte sein Glas auf den Boden, bückte sich, hob eine der Scherben auf und schlug damit nach Dave, der die Hände nach oben riss und schützend vor sein Gesicht hielt. Das spitze Glas schrammte über seinen Handrücken und hinterließ eine dünne, rote Linie. Dave schrie, lehnte sich zurück, verlor das Gleichgewicht, hielt sich an der Theke fest, suchte mit den Beinen Halt, rutschte von der Sitzfläche und taumelte zurück, stieß mit dem Rücken gegen Ralph, stolperte um ihn herum und drückte sich neben ihm gegen die Wand.
Der Pater rückte hastig näher an die Theke und beugte seinen Oberkörper nach vorne, der Dave halb verdeckt hatte.
Dorian sprang dem Mann entgegen, der mit aufgerissenen Augen und aufgerissener Hand an der Wand stand, wurde aber zurück gezerrt, bevor er ihn erreichte.
Dorian ließ die Glasscherbe fallen und versuchte, sich aus Terrys Griff zu befreien.
„Jack, komm’ her und hilf mir“, rief der Barkeeper, während er Dorians rechten Arm umklammerte und versuchte, dem linken auszuweichen.
Corona ließ den Queue aus seiner Hand gleiten, blieb aber am Billardtisch stehen und klammerte sich an dessen Rand wie ein Nichtschwimmer an den des Beckens.
„Jetzt komm’ schon. Schnell.“
Jack stieß sich zögernd ab und grabschte nach Dorians linkem Arm, der wie ein Gartenschlauch durch die Luft zuckte.
„Lasst mich los, nehmt eure dreckigen Pfoten weg.“ Dorians Schuhe quietschten über das Parkett, als Terry und Jack ihn zur Tür zerrten. Er wand sich, strampelte mit den Beinen, trat um sich und kratzte, wenn seine Finger ein Stück Haut berührten.
„Was ist dein Problem, Mann“, keuchte Terry.
„Was mein Problem ist? Was mein verdammtes Problem ist?“ Dorian stemmte sein Bein gegen die Tür, als Jack nach der Klinke griff. „Morgen ist Montag. Das ist mein Problem.“
„Jetzt beruhig’ dich und verschwinde.“ Terry schubste Dorian zur Seite, weg von der Tür, Jack riss sie auf. Gemeinsam drückten sie ihn ins Freie.
„Ich werde ...“
Terry schlug die Tür zu und verriegelte sie.
Dorian rannte zum Fenster, hämmerte mit den Fäusten dagegen und schrie etwas, doch die Scheibe reduzierte sein Gebrüll auf Lippenbewegungen und Sabberfäden aus einem stumm aufgerissenen Mund. Er schlug noch einmal gegen das Glas, drehte sich um, rannte über die Straße und verschwand. Er kam nie wieder.
Terry zog die Mütze vom Kopf, wischte sich damit Schweiß von seiner Stirn und ging zur Theke zurück..
„Hier. Damit du nicht auf meinen Boden blutest“, sagte er und warf Dave, der immer noch an der Wand stand und sich die Hand hielt, eine Packung Taschentücher zu.
Er stülpte sich die Mütze über und prüfte ihren Sitz im Spiegel.
„Ach ja ... wer bezahlt eigentlich seine Rechnung?“ Terrys Spiegelbild zog die Brauen hoch und musterte die Anwesenden, dann drehte es ihnen den Rücken zu.
Dave schluchzte leise und bückte sich, um die Taschentücher aufzuheben, Jack starrte aus dem Fenster und Ralph zuckte zusammen, drehte sich ruckartig um und ließ seinen Blick durch den Raum wandern, so als hätte er grade erst bemerkt, was vorgefallen war. Dann griff er in seine Tasche, zog eine Geldbörse heraus und entnahm ihr einige Scheine. Er warf sie auf den Tresen.
„Ich hoffe, das reicht.“
Terry nickte und pfiff die letzten Takte von Ob-La-Di, Ob-La-Da mit, während er das Geld in der Kasse verstaute.
„Ich hoffe es wirklich“, wiederholte Ralph und nippte an seinem Bier.
Jack wandte sich vom Fenster ab und ging zum Billardtisch. Er hob den Queue auf, setzte an, zielte und versenkte die schwarze Kugel.

 

Hi MrPotato,

du hast ganz schön viel in diese Geschichte reingepackt. Da klingt ein bisschen Wirtschaftskrise an, so genannte Freundschaften, in denen doch jeder nur an sich denkt, Ehen (kann man auch allgemeiner als Lebensgemeinschaften bezeichnen), in denen sich die Partner nichts mehr zu sagen haben, die aber doch bestehen bleiben, weil es nun mal Gewohnheit ist, eine Gesellschaft, die sich gerne mit absolut hirnrissigem Blödsinn berieseln lässt und anscheinend keinen Wert auf seriöse Information legt, die sich sogar gerne für dumm verkaufen lässt, Lug und Betrug, persönliche Verfehlungen, die den Prot so weit abrutschen lassen, dass seine Selbstachtung selbst mit der Lupe nicht mehr aufzufinden ist, usw.usf.

Mir hat die Geschichte gefallen. Da steckt sogar einiges Potential für soziologische Studien drin. Manches hat mich an meine Zeit als Bedienung in einer Kneipe erinnert (Nebenjob während des Studiums). Die Lebensgeschichten und die Probleme ähneln sich wahrscheinlich in solchen "Etablissements", auch wenn man das Gefühl hat, es ist etwas ganz Einzigartiges, dem man da beiwohnt.

Ich will gar nicht so sehr auf den Inhalt eingehen. Da könnte man ganze Abhandlungen zu verfassen. Aber dein Plot ist in sich stimmig. Auch sprachlich gefällt mir die Geschichte. Die Dialoge hast du gut hinbekommen, sie wirken authentisch. *Neid* Das ist immer mein großes Manko.

Nur ein Kritikpunkt: Für eine Kurzgeschichte (auch wenn dies eine etwas längere ist) sind fast zu viele Figuren involviert. Anfangs kam ich ziemlich ins Schwimmen - vor allem in der Kneipe.

Zudem räumst du manchmal Banalitäten einen - in der Relation gesehen - zu großen Raum ein. Ein Beispiel:

Dorian grüßte einen Mann im Overall, der Laub von einem der Grünstreifen harkte, die die Straße auf beiden Seiten säumten, und es in einen Müllsack stopfte, der im Schatten einer der in regelmäßigen Abständen gepflanzten Bäume stand, sah sich flüchtig nach Autos um und schlenderte über die Straße zum gegenüberliegenden Supermarkt.
Minimum den ganzen Kram mit dem Müllsack, der im Schatten ... würde ich streichen. Das bläht hier künstlich auf, ist für die Geschichte absolut unwichtig, stört aber beim Lesen.

Ansonsten sind noch ein paar Fehler drin. Ich war beim Lesen aber diesmal zu faul, alle gleich rauszukopieren. Aus dem Gedächtnis (absolut ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
- Am Anfang fehlt bei einem Satz der Punkt.
- vormittags (hast du groß geschrieben, muss aber tatsächlich klein sein)
- ... (diese drei Punkte hängen nur am Wort, wenn das Wort mittendrin abgebrochen wird Also: Heilige Sch... Ansonsten: Ich ... ich meine ja bloß (Leerzeichen)
- Blumenbeet bzw. Blumenbeete (du hast zei oder drei Mal Blumenbete geschrieben)

- „Vergessen sie’s.“ Dorian packte die Tüten und stürmte aus dem Supermarkt.
Sie's (förmliche Anrede groß; hier habe ich gepfuscht und es nochmal nachgecrollt ;) )

- In der Unterhaltung mit dem Nachbarn (Stichwort Rosen, als Dorian vom Supermarkt zurückkommt) duzt er ihn fast ausschließlich. Irgendwo sagt er aber auch mal "Sie". Das verwirrt.


Da war noch mehr, aber mein Gedächtnis ... :Pfeif:

Gern gelesen. :)

Viele Grüße
Kerstin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Kerstin,

vielen Dank für deine Kritik. :)

du hast ganz schön viel in diese Geschichte reingepackt.

Das hat sich nach und nach entwickelt. Erst sollte es nur eine Geschichte über Verdrängung werden, dann kam noch der Aspekt der allgemeinen Ignoranz hinzu, dann die Beziehung zu Dave, die Dorian nur unterhält, um sich auch mal überlegen zu fühlen usw...

Manches hat mich an meine Zeit als Bedienung in einer Kneipe erinnert (Nebenjob während des Studiums).

Kneipen sind halt immer eine dankbare Location für Probleme aller Art... :D

Aber dein Plot ist in sich stimmig. Auch sprachlich gefällt mir die Geschichte. Die Dialoge hast du gut hinbekommen, sie wirken authentisch.

Vielen Dank!

Nur ein Kritikpunkt: Für eine Kurzgeschichte (auch wenn dies eine etwas längere ist) sind fast zu viele Figuren involviert. Anfangs kam ich ziemlich ins Schwimmen - vor allem in der Kneipe.

Das kann ich nachvollziehen. Ich wüsste aber nicht, wen ich streichen könnte. Dorian, Dave und Ruth sind auf jeden Fall unverzichtbar, Terry brauche ich auch, Adam ist wichtig als "Wurzel allen Übels" und gibt somit Hinweise, warum Dorian seinen Job verloren hat, Pater Ralph ist eine stark symbolische Figur, die dazu auch noch mit Ruth in "Verbindung" steht und Jack Corona gibt namentlich einen Hinweis darauf, wie die Geschichte weitergehen könnte (wenn es eine der Figuren in der Story interessieren würde ;) ) und ist fest in die Struktur der Handlung eingebunden...

Zudem räumst du manchmal Banalitäten einen - in der Relation gesehen - zu großen Raum ein.

Mit dem von dir genannten Beispiel hast du Recht. Das ist momentan die einzige Stelle, die ich ebenfalls für etwas überflüssig halte. Wollte eigentlich nur eine kurze Umgebungsbeschreibugung einbauen, wirklich notwendig ist sie aber nicht. Danke für den Hinweis.

In der Unterhaltung mit dem Nachbarn (Stichwort Rosen, als Dorian vom Supermarkt zurückkommt) duzt er ihn fast ausschließlich. Irgendwo sagt er aber auch mal "Sie". Das verwirrt.

Dorian duzt seinen Nachbarn, Harold sagt "Sie". Vielleicht ist ja nicht immer deutlich, wer was sagt. Muss ich noch mal durchlesen.

Die von dir genannten Fehler werde ich natürlich korrigieren.


Vielen Dank für deine insgesamt doch ziemlich positive Kritik und für die Verbesserungsvorschläge! Hat mich gefreut.

Edit: So, die von dir genannten Fehler sind verbessert, die Stelle mit dem "Laubmann" habe ich gekürzt. Und was ich noch fragen wollte: Sind die Andeutungen im Text ausreichend, um die konkrete Problematik des Prots und ihren Auslöser eindeutig zu erkennen?

LG, Tobias

 

Achtung: Spoiler!

Und was ich noch fragen wollte: Sind die Andeutungen im Text ausreichend, um die konkrete Problematik des Prots und ihren Auslöser eindeutig zu erkennen?
Das habe ich fast übersehen, weil du es in ein Posting reineditiert hast. :shy:

Für mich sind die Andeutungen sehr deutlich. Du meinst, dass er in seiner aktiven Zeit als Arzt einen so genannten Kunstfehler begangen hat und ihm daraufhin die Approbation entzogen wurde, richtig? Der Anfang vom Ende ... Ja, wenn du das meinst, kommt das sehr gut rüber. :)

 

Genau. Dann bin ich ja beruhigt. :)
Selber kann man sowas ja immer schlecht beurteilen...

Danke nochmal.

 

Hallo MrPotato,

schade, dass du der Unterhaltungskraft deiner Region nicht traust. Das finde ich aber eher einen generellen Aspekt. Ich habe mich beim Lesen immer gefragt, warum es Dave, Dorian oder Jack sein mussten, statt Heinz, Günter und Karl. Außer der Nachtschicht im Supermarkt gibt es dafür keinen plausiblen Grund. Die angesprochenen Themen sind universell und selbst die Atmosphäre wäre in einer ländlichen Gegend mit Dorfkneipe und Billiardtisch ähnlich. Es kann also nur um optische Gründe dabei gehen, um den Irrglauben, eine Geschichte sei gleich besser, nur weil sie nicht auf dem platten Land in Schleswig-Holstein oder in den Hügeln des Schwarzwald oder des Harz spielt.
Natürlich macht diese Wahl deine Geschichte nicht schlechter, ich finde sie halt nur völlig unnötig.

Es ist ein schönes Stimmungsbild und ein stimmiges Charakterbild, dass du zeichnest. Dorian ist frustriert, lässt sich in dieser Frustration gehen und auch bei seiner Frau unterbuttern. Sie kehrt die Verhältnisse um: "Mein Mann muss nicht arbeiten, das haben wir nicht nötig".
Er suhlt sich im lakonischen Selbstmitleid, nutzt die Intelligenz, die er offensichtlich haben muss, sonst hätte er es nicht bis zum Arzt gebracht, nicht, sondern hat den Glauben an sich verloren.
Das Leben nervt ihn, weil er selber sich nervt, seinen Verfall sieht er als begründet, empfindet ihn fast als gerecht. Dem Opfer seines Kunstfehlers kann er nicht mehr in die Augen schauen. So etwas wie Aufarbeitung der Schuld, sich selber vergeben, kommt für ihn nicht in Betracht. Lieber lädt er neue Schuld auf sich.
Eine Weile überlegte ich, ob er auch die ärztliche Verantwortung für Daves Behinderung trägt, so wie er ihn immer wieder in Schutz genommen hat.
Sehr gelungen fand ich, wie du dieses Einzelschicksal immer wieder in einen Zeitkontext gestellt hast. Dadurch schaffst du in allem einen gesellschaftlichen Bezug.
Bis auf meine grundsätzlichen Überlegungen zur Location hat mir die Geschichte sehr gefallen.

und watete zögernd durch den sich brandenden Applaus
Der Applaus brandet ja nicht sich selbst.
Hast mir fast den Finger bebrochen“, fluchte er.
gebrochen

Lieben Gruß, sim

 

Hi Sim,

vielen Dank für deine Kritik! :)

Mit dem Ort der Handlung hast du absolut Recht. Normalerweise mag ich es auch nicht, wenn Geschichten ohne erkannbaren Grund in den USA spielen. Für diese Geschichte hatte ich aber ursprünglich ein Ende vorgesehen, das die Vereinigten Staaten als Location unbedingt erfordert hätte. Im Enstehungsprozess hat sich die Geschichte aber etwas verändert und ich habe mich für ein offenes Ende entschieden. Da waren die Namen aber schon festgelegt und ich hatte eine typische amerikanische Vorstadt vor Augen, also habe ich es so gelassen, auch wenn die Story in dieser Form natürlich auch problemlos in Deutschland hätte angesiedelt werden können. Vielleicht änder ich das irgendwann auch noch mal, da ich, wie gesagt, der Meinung, eine Geschichte, die in den USA spielt, wäre besser und "cooler", auch kritisch gegenüber stehe.

Eine Weile überlegte ich, ob er auch die ärztliche Verantwortung für Daves Behinderung trägt, so wie er ihn immer wieder in Schutz genommen hat.

Ja, das könnte man wirklich denken. Mit Daves Behinderung hat Dorian aber nichts zu tun. Er sieht in ihm lediglich jemanden, der ihm unterlegen ist und der sich in seiner Naivität nicht für seine Probleme/seine Vergangenheit interessiert, jemanden den er dazu benutzt, sein Selbstwertgefühl zu stärken.


Danke für dein Lob. Freut mich wirklich, dass dir die Geschichte gefallen hat.


LG, Tobias

 

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