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Dornbachs Geheimnis
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Nichts macht so unruhig wie eine unauslotbare Stille in einem Haus, in dem die Geister der Vergangenheit spuken. Als es Margarete nicht mehr aushielt, ging sie in die Küche und stellte einen Kessel mit Wasser auf den Herd. Als das erledigt war, kehrte sie in die angrenzende Stube zurück und setzte sich an den schmalen Esstisch. Auf den Stuhl, auf dem ihr Vater immer gesessen hatte.
Jetzt am Abend hätte er sich seine Pfeife angesteckt und zum Fenster hinaus gesehen. Stundenlang wäre er hier gesessen, ohne ein Wort zu sagen. Damals, als sie noch in diesem Haus wohnte, war ihr der Gedanke gekommen, dass ihr Vater auf etwas gewartet hatte. Doch was immer das auch gewesen sein mochte, würde nun, nach seinem Tod, nicht mehr eintreffen.
Jetzt saß sie hier und starrte aus dem Fenster. Doch statt einer Pfeife, hielt sie eine heiße Tasse Tee in ihren Händen. Auch sie hatte das Gefühl, auf etwas zu warten. Sie vermutete, dass es an dem Haus lag, das einsam am Rand des Waldes stand, der sich bis zur Spitze des Moorbergs hinauferstreckte. Es war das letzte Haus in der Straße, die hinter Büschen und Bäumen versteckt, am Ortsrand von Stolberg lag. Ein friedliches kleines Städtchen, das am Tag zum wandern und träumen einlud. Wohingegen am Abend die Schatten der Bäume und umliegenden Berge gegen die Fassaden der Häuser zu drücken schienen. Straßenlärm, wie Kinderlachen wurde von den Wäldern verschluckt und nur der schrille Pfiff einfahrender Züge wurde als klagendes Echo von den belaubten Hängen freigegeben. Es schien, als ob nur Zügen dem Leben hier zu entfliehen vermochten. Ob das der Grund war, warum sich ihr Vater zeitlebens für die Eisenbahn interessiert hatte?
Sie verscheuchte den Gedanken und blies vorsichtig auf den Rand ihrer Tasse. Eine aromatische Wolke löste sich davon und blieb schwer wie Pfeifenrauch für einen Moment in der Luft hängen. Behutsam nahm Margarete einen kleinen Schluck und fühlte die Einsamkeit, die dieses Haus ausstrahlte. Sie dachte daran, wie sie ihren Vater dazu überreden wollte sein Haus zu verkaufen und zu ihr nach Magdeburg zu ziehen. Da sie alleinstehend war, wäre die Wohnung für sie beide groß genug gewesen. Doch ein für das andere Mal hatte er die Stirn gerunzelt und das Angebot abgelehnt.
Margarete seufzte und ließ ihren Blick über die Papiere schweifen. Vor ihr auf dem Tisch lagen Dokumente, die die letzten 40 Lebensjahre ihres Vaters bezeugten. Doch abgesehen von einer Urkunde, welche die Mitgliedschaft beim örtlichen Eisenbahnerverein belegte, war nichts Sentimentales darunter zu finden; nur Zahlen und graue Fakten.
Im Grunde genommen war sie für die Nüchternheit dieser Papiere dankbar. Ihre emotionale Schleppleine hatte seit der Beerdigung bereits genügend Ballast gesammelt, um ihre Seele wochenlang beschäftigt zu halten. So jedoch konnte sie hoffen, wenigstens die behördlichen Angelegenheiten zu regeln.
Gleich morgen würde sie anfangen und offenstehende Rechnung begleichen, sowie Rente und Versicherungen ihres Vaters kündigen. Strom, Gas, Wasser und den Telefonanschluss würde sie hingegen behalten. Zumindest solange sie in dem Haus leben würde und alles so weit hergerichtet hatte, damit sie es verkaufen konnte.
Sie seufzte, stellte die Tasse ab und fühlte sich angesichts des Berges an Unterlagen überfordert. Plötzlich fiel ihr ein alter vergilbter Zettel auf, der zwischen den Seiten eines Kataloges hervorlinste. In diesem Moment begann der Teekessel in der Küche zu pfeifen; es klang wie das verzerrte Echo eines Zuges, das von den Hängen schallte.
- 2 -
„Ist hier noch frei?“Benommen blinzelte sie und versuchte sich zu orientieren. Sie saß auf einer gepolsterten Bank in einem Zugabteil. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihre eine dämmrige Landschaft, währenddessen sie das Ratata-Ratata wahrnahm, das sie in den Schlaf gewiegt hatte. Sie schloss die Augen und wartete auf den Schimmer einer Erinnerung. Sie wusste, dass wenn sie in fremden Umgebungen schlief, immer eine kleine Weile brauchte, bis ihr das Wann und Wo wieder einfiel. Diesmal jedoch blieb die Nacht hinter ihren Augen dunkel.
„Entschuldigen Sie, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich hierher setze?“
Die Stimme, sie hatte sie vollkommen vergessen. Hastig schlug sie die Augen auf und sah einen Mann neben sich aufragen.
„Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Bitte setzen Sie sich.“ Sie richtete sich auf und strich sich mit den Händen durch ihre Haare, dann lächelte sie den Mann für ihre verschlafene Aufmachung entschuldigend an. Er war kleiner als sie und in einen unscheinbaren Anzug gekleidet, der mehr bequem denn formell aussah. In den Händen hielt er eine alte lederne Aktentasche, die er sich auf die Knie legte, nachdem er neben ihr Platz genommen hatte. Dann lüftete er seinen Hut und fächelte sich damit Luft ins Gesicht. Er sah ein wenig verschwitzt aus, so als ob er gerannt wäre. Gerannt, um den Zug zu erwischen? Ihr Gedächtnis ließ sie noch immer im Stich. Wo war sie und warum machte sie diese Reise?
Sie sah wieder zum Fenster hinaus, ohne die Welt dahinter wahrzunehmen. Das Ratata-Ratata begann sie erneut schläfrig zu machen und langsam fielen ihr die Augen wieder zu.
„Sie heißen Thea, richtig?“
Überrascht blickte sie auf. Der Mann öffnete gerade seine Aktentasche und kramte eine verknitterte Zeitung hervor.
„Haben Sie gerade mit mir geredet?“
Der Mann entfaltete die Zeitung, dann blickte er sie an.
„Sie heißen doch Thea, nicht wahr?
„Ja, aber woher wissen Sie das?“
Er beugte sich ein wenig zu ihr herüber und flüsterte: „Ich lese gerne Todesanzeigen. Hier sehen Sie.“
Thea schaute ihn misstrauisch an, dann sah sie in die Zeitung auf die Stelle, wo er mit seinem Finger hindeutete und las:
IN LIEBEVOLLER ERINNERUNG AN MEINEN VERSTORBENEN VATER
WALTHER DORNBACH
14.08.1935 - 02.09.2009
In Liebe:
Thea Dornbach
„Mein herzliches Beileid.“
Der Mann nahm die Zeitung wieder weg und raschelte geräuschvoll damit herum.
Thea musterte den Mann neben ihr, konnte sich jedoch nicht daran erinnern ihm irgendwann in ihrem Leben begegnet zu sein.
„Kannten Sie meinen Vater? Ich glaube nämlich nicht, dass wir uns kennen.“
Der Mann versuchte seine Zeitung wieder ordentlich zusammenzufalten und stopfte sie, nach ein paar vergeblichen Versuchen, vollkommen zerknittert in seine Aktentasche zurück.
„In gewisser Art und Weise kannte ich ihn, ja. Wir sind uns ein paar Mal hier in diesem Zug begegnet.“
Thea blickte ihn an. Er hatte sich zurückgelehnt und sich seinen Hut vor die Augen geschoben. Es schien so, dass er zu der Meinung gelangt war, alles Notwendige gesagt zu haben.
„Entschuldigen Sie, aber wenn Sie meinen Vater nur flüchtig kannten, woher wissen Sie dann, dass ich Thea bin? Zudem weiß ich, dass mein Vater nur Kinderfotos von mir besaß und selbst die hatte er nie bei sich geführt. Also, sagen Sie mir, woher kennen Sie meinen Namen.“
Der Mann lüpfte seinen Hut und blinzelte sie aus dem Schatten heraus an.
„Ganz einfach. Sie sitzen auf seinem Platz.“
- 3 -
Als Margarete am nächsten Morgen aufwachte, war es stockdunkel. Ihr Wecker zeigte halb fünf Uhr morgens an, was sie jedoch nicht daran hinderte aufzustehen.Sie ging ins Bad, um sich herzurichten. Dann machte sie sich ein karges Frühstück, bestehend aus zwei Scheiben Toast mit Marmelade und einer Tasse Tee. Als sie sich zum Essen in die Stube setzte, stieg die Sonne gerade über den bewaldeten Hügel auf und tauchte das Zimmer in einen rotgoldenen Schein. Staubflocken, durch den zarten Luftzug ihrer Bewegung aufgeschreckt, tanzten friedvoll in den lichten Bahnen, die sich durch das Fenster ergossen.
Ruhig betrachtete sie das Schauspiel, als Erinnerungen sie durchströmten und statt gewohnter Bitterkeit, eine willkommene Leere hinterließen.
Sie wusste nicht, wie lange sie in ihrer Selbstvergessenheit geruht hatte, doch als sie die Tasse zur Hand nahm, war der Tee darin kalt geworden. Sie blickte in den Raum und ihre Augen schweiften vom Tisch, zur Bank, zu den Vorhängen, zum Schrank und wieder zurück.
„Ich glaube ich weiß jetzt, warum du nicht bei mir wohnen wolltest.“ Dann trank sie ihren Tee, während das Zimmer schwieg.
Als sie die Tasse abstellte, fiel ihr Blick auf die Unterlagen, die seit dem gestrigen Abend noch immer auf dem Tisch verteilt lagen. Dann stand sie auf, räumte das Geschirr in die Küche und zog ihre Jacke und die festen Stiefel an. Die Papiere konnten warten, heute würde sie auf den Moorberg wandern.
Draußen empfing sie der Geruch des Waldes. Die Blätter der nahen Bäume rauschten im morgendlichen Wind, als sie sich nach rechts wandte und nach wenigen Schritten den Asphalt der Straße verließ. Ein schmaler, wurzelbewehrter Wanderweg wand sich in engen Kurven den Berg hinauf.
Ihr Atem dampfte in der morgendlichen Luft und hier und da war Raureif zu sehen, der die dünnen Äste und Farne zu beiden Seiten des Weges mit einem frostigen Kleid überzog. Trotz des schönen Wetters, herrschte unter dem dichten Blattwerk des Waldes noch die Kälte der Nacht.
Schweigend knöpfte sie ihre Jacke zu und beobachtete die kleinen Steinchen, die sich unter ihren Schritten lösten.
In ihrem Kopf herrschte eine seltsame Unruhe und für einen Moment war sie versucht umzukehren. Zuhause könnte ich anfangen Briefe zu schreiben, dachte sie. Ich könnte Telefonate führen. Bank und Versicherungen verständigen. Mich vielleicht sogar nach einem Makler erkundigen und einen Termin ausmachen, damit er das Haus begutachten kann.
Doch als sie stehenblieb und den Weg betrachtete, der sie bis hierher geführt hatte, konnte sie sich nicht dazu durchringen umzukehren.
Stehenbleiben, umkehren, oder weiterwandern, nichts davon schien verlockend. Unruhig betrachtet sie Farnwedel, silberstämmige Fichten und knorrige Buchen. Der Wind raschelte verspielt in den Baumkronen und ein paar träge Insekten summten an ihr vorbei. Dann drehte sie sich um und ging weiter den Berg hinauf.
Es war fast Mittag, als sie den Gipfel schließlich erreichte. Sie setzte sich in den Schatten eines freiliegenden Felsen und überblickte die Landschaft. Ein feiner Dunst verschleierte die Ferne. Am Himmel kreuzten sich verwehte Kondensstreifen, wohingegen im Tal das Gewimmel der Leute in den Straßen von Stolberg zu erkennen war.
„Was mache ich hier?“, murmelte sie. „Hier ist doch nichts!“
Sie schüttelte den Kopf, stützte sie sich am Felsen ab und stand auf. Doch als sie wieder in den Schatten des Waldes eintauchte, ertönte der klagende Pfiff eines Zuges, der durch das Städtchen im Tal brauste. Für einen Moment hielt sie inne und lauschte dem Echo, dann schüttelte sie abermals den Kopf und der Wald mit seinem dämmrigen Zwielicht hieß sie willkommen.
- 4 -
Der Mann schlief, als Thea ihn sorgsam musterte.Sie dachte daran, dass sie sich normalerweise nicht so leicht ins Bockshorn jagen ließ, doch der Fremde war ihr unheimlich. Als sie sicher war, dass er sein Schnarchen nicht vortäuschte, nahm sie ihre Handtasche und schlich sich nach draußen.
Außerhalb des Abteils war das Rattern des Zuges deutlich lauter geworden. Fahrgäste waren keine zu sehen. Ihr gegenüber wurde die Wand von milchigen Fenstern eingenommen, die keinen Blick auf die dahinterliegende Landschaft gewährten. Unentschlossen stand sie in dem schmalen Gang, der sich zu beiden Seiten im Zwielicht verlor.
Rechts oder links, dachte sie und überlegte, welche Seite in Fahrtrichtung lag. Keine Seite schien einen besonderen Vorzug zu besitzen und die gleichmäßigen Bewegungen des Zuges ließen nicht erahnen, was vorne und was hinten war. Schließlich wandte sie sich nach links und ging mit langsamen Schritten an den Abteilen vorbei.
Nachdem sie etwa ein Dutzend passiert hatte, blieb sie stehen und sah sich um.
Thea fand es seltsam, dass das Ende des Waggons noch immer nicht zu erkennen war. Auch waren keine Stimmen, oder Gelächter zu hören. Man könnte denken, dass ich der einzige lebende Mensch in diesem Zug bin, dachte sie.
Schließlich näherte sie sich nervös einem Abteil, wo ein Vorhang die Sicht nach Innen versperrte. Sorgfältig suchte sie einen Spalt durch den sie spähen konnte, dann, als sie keinen fand, legte sie ihr Ohr an die Tür.
Nichts. Das ewige Ratata-Ratata übertönte sämtliche Geräusche. Selbst wenn sich dort drinnen jemand unterhielt, hätte er vermutlich schreien müssen, damit Thea ihn hätte hören können.
„Dumme Kuh“, schalt sie sich leise. „Klopf halt einfach an.“.
Aber das wollte sie nicht. Allein der Gedanke, an diese Tür zu klopfen, beschwor eine Gänsehaut auf ihren Armen.
Mit abergläubischer Furcht wich sie vor dem Abteil zurück und schaute suchend den Gang hinab, der sich trotz des fahlen Lichts der Fenster nach wie vor in der Dämmerung verlor.
Ein paar Augenblicke lang haderte sie mit sich selbst, dann wandte sie sich ab und folgte weiter dem Gang. Mehrere Minuten lang passierte sie ein Abteil nach dem anderen, ohne dass sie ihnen irgendeine Beachtung geschenkt hätte. Solange die Vorhänge zugezogen waren, kümmerte es sie nicht. Irgendwann würde bestimmt eines auftauchen, wo die Vorhänge offen wären und dort würde sie die Tür aufmachen und Platz nehmen. Das heißt, wenn es dort einen freien Platz gäbe und die anderen Fahrgäste nichts dagegen hätten, wenn sie sich dazu gesellte.
Froh einen Plan zu haben, der einerseits vernünftig war und andererseits mit genügend Zielstrebigkeit verfolgt werden konnte, um die Unstimmigkeiten dieses seltsamen Zuges ignorieren zu können, ging sie weiter.
Sekunden verschmolzen zu Minuten, doch die Vorhänge blieben ausnahmslos zugezogen. Es wurde immer deutlicher, dass etwas mit dem Zug nicht stimmte.
Nach und nach verfiel Thea in einen leichten Laufschritt, bis sie schließlich den Gang hinunter rannte. Als sie nicht mehr konnte, blieb sie keuchend stehen. Mit hochrotem Kopf lehnte sie sich mit dem Rücken gegen ein Fenster und spürte die Vibrationen des Zuges die durch die Wand liefen. Sie hatte das Gefühl in einem jener grauenerregenden Träume gefangen zu sein, in denen man läuft und läuft, ohne je von der Stelle zu kommen.
Entschlossen nicht in Panik zu verfallen, schloss sie die Augen, holte tief Luft und ließ sie, mitsamt ihrer Angst, wieder aus dem Körper strömen. Dann richtete sie sich auf, strich Rock und Bluse glatt und klopfte an einer der Türen an.
Es geschah nichts.
Thea lachte laut auf. Vermutlich war das Abteil, sowie all die anderen, an denen sie vorübergekommen war, leer und verlassen.
Sie lachte noch einmal, diesmal über sich selbst und wollte gerade die Tür öffnen, als der Vorhang ruckartig beiseite gezogen wurde.
- 5 -
„Sind sie nicht die Tochter vom alten Dornbach?“Margarete blickte auf. Sie stand an der Ladentheke der örtlichen Bäckerei und war im Begriff ihren Einkauf in eine Tasche zu packen, als eine kleine rundliche Frau sie ansprach.
„Sie sind es doch, hab ich Recht? Ah ja, die Verwandtschaft lässt sich nun mal nicht verleugnen, nicht wahr? Ja, ja, bei ihnen sind es die Augen und die Nase, wenn ich das so sagen darf. Jedenfalls das mit ihrem Vater tut mir wirklich sehr leid. Er war ein netter Mensch. Ruhig und ein bisschen eigenbrötlerisch, aber nichtsdestotrotz nett. Mein Mann und ihr Vater waren beide im gleichen Verein, wissen sie.“
Margarete wusste nicht. Sie schloss ihre Tasche und sah die Frau vor sich an.
„Entschuldigen sie, aber wie heißen sie doch gleich?“
Die dicke Frau lachte auf. „Meine Manieren mal wieder“, dann wechselte sie ihre Einkaufstüten von einer Hand in die andere und streckte Margarete die Rechte hin. „Ich heiße Theresa und wenn ich mich richtig erinnere, dann sind sie Margarete.“
Margarete nahm die Hand und schüttelte sie. Es war kein fester Händedruck, wie sie feststellte. Im Gegenteil, ein kalter toter Fisch war das Bild, das ihr in den Sinn kam.
„Freut mich, Theresa. Aber leider habe ich nicht viel Zeit, ich habe heute noch einen ganzen Stoß Papiere abzuarbeiten, aber vielleicht laufen wir uns bei Gelegenheit mal wieder über den Weg? War nett sie …“.
„Haben sie das Ticket schon gefunden?“
Der kalte tote Fisch war urplötzlich lebendig geworden und hielt Margaretes Hand eisern fest.
Verdutzt sah sie die kleine Frau an. Die Frau lächelte, aber ihr Gesicht wirkte seltsam angespannt. Dann verflog der Eindruck und Hand wie Gesicht wurden erneut ausdruckslos und teigig.
„Es tut mir leid, aber ich sollte sie von meinem Mann her fragen, ob sie bereit wären das Ticket zu verkaufen? Es handelt sich um einen alten Fahrschein, der einen gewissen Sammlerwert besitzt. Es ist nicht wirklich wertvoll, aber für einen Eisenbahner, besonders für einen mir romantischer Ader, hat es einen hohen emotionalen Wert.“
„Ich weiß nicht, wovon sie reden, von so einem Fahrschein weiß ich nichts.“ Margarete machte sich los und wandte sich zur Tür.
„Wenn sie so einen Fahrschein finden, dann rufen sie mich an, ja? Mein Mann und ich wären bereit ihnen eine hohe Summe zu zahlen.“
„Ich werde daran denken“, rief Margarete zurück, während sie eilig den Laden verließ.
„Zollmann! Wir heißen Zollmann“, schrie ihr die Dicke hinterher, dann fiel die Tür des Ladens zu.
Kaum dass Margarete draußen war, fiel die Unrast, die sie nun schon den ganzen Tag verspürte, in ungekannter Stärke über sie her. Augenblicklich hatte sie das drängende Gefühl nach Hause, Vaters Zuhause, zu gehen. Warum das so war, konnte sie sich nicht erklären, aber sie zweifelte nicht daran, dass es wichtig war.
Schnell hastete Margarete über die Straße und lief die Töpfergasse entlang, bis sie an der Zechental Straße angelangt war. Von dort waren es nur noch fünf Minuten bis zur Moorberg Straße, an dessen Ende das Haus ihres Vaters stand.
Als sie schließlich daheim angelangt war und die Haustür mit einem dumpfen Laut hinter ihr zufiel, seufzte sie erleichtert auf. Endlich, dachte sie und spürte wie die Unruhe nachließ. Schnell ging sie in die Küche und verstaute ihre Lebensmittel. Danach setzte sich sie sich in die Stube, um endlich mit den Briefen an Bank und Versicherungen anzufangen.
- 6 -
Thea starrte durch das Fenster auf das Wesen, dessen Existenz sich jedwedem Verstehen entzog. Langsam löste sie die Hand von dem Türgriff und wich einen Schritt zurück.
Unverwandt starrte sie den Scherenschnittmann an, der durch das Fenster der Tür blickte.
Er sah tatsächlich wie ein lebendig gewordener Scherenschnitt aus. Ein tief schwarzer, scharf umrissener Schatten, bar jeden Ausdrucks. Doch im Gegensatz zu einem Schatten, oder einem Bild, besaß dieses Wesen Tiefe; eine seltsame, Sinn verwirrende Dreidimensionalität.
Thea ging noch einen Schritt zurück und spürte plötzlich die Wand mit den milchigen Fenstern in ihrem Rücken. Weiter ging es nicht. Wenn sie fliehen wollte, dann musste sie nach rechts oder links ausweichen. Doch der Anblick dieses unbegreiflichen Wesens hatte sie geschockt. Wenn der Schattenmann sie angreifen wollte, dann hatte er jetzt die beste Gelegenheit dazu.
Langsam öffnete sich die Tür des Abteils und das Schattenwesen trat heraus.
Hilflos starrte sie ihr Gegenüber an und versuchte ihren Beinen zu befehlen in irgendeine Richtung zu rennen. Einfach nur rennen, egal wohin, dachte sie. Doch vergeblich, ihr Körper verweigerte den Dienst.
Sie schloss die Augen und spürte die Vibrationen der Wand, die durch ihren Körper liefen. Sie hörte das laute Rattern des Zuges. Dann bemerkte sie einen leichten Geruch, der ihr seltsam bekannt vorkam. Es war ein Geruch, der sie an das Aftershave erinnerte, das ihr Vater immer benutzt hatte.
Langsam öffnete sie die Augen und starrte den Scherenschnittmann an, der noch immer in der offenen Tür des Abteils stand.
Eine Minute, oder länger sahen sie sich an, ohne dass sich einer von ihnen gerührt hätte. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, räusperte sich und sagte: „Bitte entschuldigen sie, aber ich glaube ich habe mich in der Tür geirrt.“
Der Scherenschnittmann sagte nichts, dann nickte er plötzlich leicht mit seinem Kopf und schloss die Tür.
Thea sah, wie sich der Mann wieder auf seinen Platz setzte. Ihm gegenüber saß eine ebenso dunkle Scherenschnittfrau, die ein langes, schattenhaftes Sommerkleid trug. Neben ihr am Fenster, hockte ein kleiner Junge, der mit seinen Schattenbeinen auf und ab wippte. Schweigend saßen sie beisammen und sahen Thea an, dann wurde der Vorhang plötzlich wieder zugezogen.
Thea hatte ein flaues Gefühl im Magen, als sie mit unsicheren Schritten in die Richtung ging, aus der sie gekommen war. Sie bemerkte, dass einige Vorhänge beiseite gezogen wurden, wenn sie vorüberkam, und neugierige Gesichter der Scherenschnittmenschen sie durch die Scheiben anstarrten. Es war ein Spießrutenlauf der besonderen Art, der in ihr eine seltsame Mischung aus Scham und abergläubischer Furcht auslöste.
Es dauerte schier eine Ewigkeit, bis sie wieder ihr Abteil erreicht hatte, wo der ominöse Fremde nach wie vor schlief. Leise setzte sie sich auf ihren Platz und starrte nachdenklich aus dem Fenster.
Wie war sie nur hierher gekommen? Was war das für ein Zug und wohin ging die Reise? Sie schürzte ihre Lippen, während sie darüber nachdachte. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war die Beerdigung ihres Vaters. Dann waren da noch die Trauerfeier und die Fahrt zu dem Haus, wo ihr Vater den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Sie hatte vorgehabt das Haus zu verkaufen, sowie den ganzen behördlichen Kram, den der Tod eines Familienmitgliedes so mit sich brachte, zu erledigen. Aber dann, was war dann geschehen? Sie wusste es nicht mehr. War dies die Zugfahrt, die sie in die Stadt brachte, wo ihr Vater gelebt hatte? Keine Antwort. Sie musterte den Fremden neben sich, der von ähnlichen Ängsten und Gedanken frei zu sein schien. Friedlich, mit dem Hut über das Gesicht gelegt, schlummerte er vor sich hin.
Neidvoll betrachtete sie ihn und dachte daran, dass er der einzige echte Mensch war, dem sie in diesem Zug bisher begegnet war. Alle anderen waren Schattenwesen; genauso geheimnisvoll wie der Zug und die ganze Reise an sich.
Erneut wanderte ihr Blick zum Fenster und studierte die nahen und fernen Bäume, die Wiesen und Felder und die sanft geschwungenen Berge im Hintergrund. Das Ratata des Zuges lullte sie langsam wieder ein. Sie schloss die Augen und sah die Scherenschnittfamilie, wie sie ruhig und schweigend in ihrem Abteil saß. Sie schienen glücklich zu sein, frei von allen Ängsten und ungelösten Fragen. Das Bild verschwamm und sie öffnete wieder die Augen. Erneut betrachtete sie die Berge und entdeckte einen großen Felsen, der in der Nähe eines Berggipfels lag und dort oben seltsam fehl am Platz wirkte.
„Fast, als ob ihn jemand dorthin gelegt und anschließend vergessen hätte“, murmelte sie leise, als ihr die Augen wieder zufielen.
Ratatat, Ratatat, dachte sie, während sie dem Geräusch lauschte und die schattenhaften Gestalten vor dem geistigen Auge auftauchten, die sie, aus ihren Abteilen heraus, angestarrt hatten.
„Ratatat, ihr Scherenschnittmänner. Ratatat, ihr Scherenschnittfrauen“, flüsterte sie.
Erschöpft blinzelte sie hinaus und betrachtete noch einmal den Felsen nahe der Bergspitze. Dann, kurz bevor die Dunkelheit sie umfing, sah sie es.
Der Fels bewegte sich. Langsam, Stück für Stück, rutschte er die Spitze des Berges hinauf.
- 7 -
Draußen war es dunkel geworden, als Theresa in ihrem Sessel vor dem Ofen saß und sich kaum noch bewegen konnte. Die Ofentür stand offen, doch trotz der enormen Hitze, die ihr entgegenschlug, streckte sie zittrig ihre Hände dem Feuer entgegen. Mit schmerzenden Gelenken beobachtete sie, wie um die knackenden Scheite herum die Flammen loderten, bis sie in der Glut zu Asche zusammenschrumpften.Stunde um Stunde legte sie Scheit für Scheit nach, als gegen Abend die ersten Winde die Straße entlang wehten und um das Haus herum heulten. Schon am Nachmittag, als der Himmel noch wolkenlos war, hatte sie gewusst, dass ein schweres Unwetter heraufziehen würde.
Auch wenn Rheuma zu sonst nichts taugt, dachte sie. Als Spürnase für schlechtes Wetter übertrifft es die Nachrichtenfritzen aus dem Fernsehen alle mal.
Mürrisch zog sie die Decke bis zu ihrer Brust, als die ersten dicken Regentropfen an ihren Fensterscheiben zerplatzten. Ein Blitz spaltete das Firmament und tauchte das Zimmer in ein blendendes Licht. Von einem Moment auf den anderen zerfiel der Raum in geometrische Flächen mit gleißenden Kanten und tiefschwarzen Abgründen. Dann grollte der Donner am Himmel und rollte wie eine Flutwelle durch das Tal.
Plötzlich hörte sie ein lautes Wimmern aus dem Nebenzimmer. Mühsam legte sie die Decke beiseite und griff nach ihren Krücken. Dann stemmte sie sich ächzend aus dem Sessel und humpelte mit schmerzenden Beinen nach nebenan.
Es war ein altmodisches Schlafzimmer, ausgestattet mit altersdunklen Bauernmöbeln, kleinen Fenstern mit karierten Vorhängen und einem großen, modernen Bett, wo man die Liegeflächen für Kopf und Füße höhenmäßig verstellen konnte. In dem Bett, unter mehreren Decken versteckt, lag ein alter Mann mit eingefallenem Gesicht und schreckgeweiteten Augen.
Mitleidig betrachtete Theresa ihren Mann, der bei jedem Blitz und bei jedem Donner verängstigt wimmerte. Eilig, ungeachtet ihrer Schmerzen, humpelte sie zu ihm hin. Sie setzte sich auf die Bettkante und strich ihrem Mann tröstend über das Gesicht.
Er hat schon wieder geweint, dachte sie, als sie die Nässe auf seinen Wangen spürte.
Dann küsste sie ihn zärtlich auf die Stirn und nahm seine Hand in die ihre. Kalt und kraftlos lag sie darin und wieder musste sie an den Tag denken, als ihr Mann Walther Dornbach besucht hatte, weil dieser vorgab, etwas Unglaubliches entdeckt zu haben. Damals waren sie alle drei Freunde gewesen. Damals musste sie sich noch nicht mit einem schwerkranken Mann herumplagen. Einem Mann, dem die Ärzte einhellig eine frühzeitige Altersdemenz diagnostiziert hatten.
„Diese Pfuscher“, raunte sie und blickte ihrem Mann traurig ins Gesicht. Noch immer liefen ihm dicke, große Tränen über die Wangen, so als ob er mit dem Regen draußen wetteifern wollte. Doch jetzt da sie hier war, hatte sich auch ein kleines Lächeln auf sein Gesicht gestohlen.
Sie wischte die Tränen von seinen Wangen und gab ihm aus einer Schnabeltasse, die immer griffbereit auf dem Nachtkästchen stand, einen Schluck Tee zu trinken. Anschließend stützte sie seinen Kopf und Oberkörper, und schüttelte das Kissen aus, ohne auf die eigenen Schmerzen zu achten. Dann legte sie ihn vorsichtig zurück und küsste ihn nochmals auf die Stirn.
Sie blieb auf der Bettkante sitzen, bis sie davon überzeugt war, dass er wieder eingeschlafen war. Dann humpelte sie in das Wohnzimmer zurück.
Erneut setzte sie sich vor den Ofen und legte sich die Decke über die Beine. Sie stieß ein unterdrücktes Ächzen aus, als ihr Körper seinen Tribut für den kurzen Weg ins Schlafzimmer forderte. Ähnlich den Flammen im Ofen loderte der Schmerz in ihren Gelenken. Sie japste nach Luft und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Schmerztablette, die sie auf einem schmalen Beistelltischchen deponiert hatte. Es kostete sie das letzte bisschen Kraft keine davon zu nehmen. Sie wusste, dass sie dann vor dem Ofen einschlief und ihren Mann nicht mehr hörte, falls er etwas brauchte; ohne sie war er völlig hilflos. Wehmütig wandte sie ihren Blick ab und wartete darauf, dass die Hitze des Feuers den Schmerzen ihre Kraft nahm.
Dann tauchte ein Blitz abermals die Welt in Weiß und Schwarz. Kurz darauf erfolgte ein ungeheuerlicher Donnerschlag, der die Scheiben der Fenster zum Klirren brachte.
Erschrocken lauschte sie, doch in dem Schlafzimmer blieb alles ruhig.
„Verdammter Dornbach, murmelte sie, wenn du nicht gewesen wärst, dann würde sich mein Mann heute Nacht um mich kümmern.“
Sie musste daran denken, wie ihr Mann damals zu Dornbachs Haus ging, um sich den seltsamen Fund anzusehen. Ein Ding so rätselhaft, dass es nicht von dieser Welt sei, hatte er am Telefon gesagt. Dass es dabei um Züge, oder etwas Ähnliches ging, musste ihr nicht extra gesagt werden. Es ging immer nur um Züge, immerhin hatten Walther Dornbach und ihr Mann den örtlichen Eisenbahner Verein gegründet. Beide waren sie seit ihrer Kinderzeit von Zügen besessen gewesen. An jenem verfluchten Tag jedoch, hatte sich alles geändert.
Es vergingen Stunden, ehe ihr Mann, mitten in der Nacht, wieder nach Hause kam. Sie war schon kurz davor gewesen die Polizei zu verständigen, als er plötzlich todmüde vor der Haustür stand. Sie schaffte es gerade noch ihm Jacke und Schuhe auszuziehen, als er auch schon ins Schlafzimmer tappte und sich ins Bett fallen ließ. Gleich darauf hörte sie ihn schnarchen. Als sie noch mal kurz ins Schlafzimmer schlich, um nach dem Rechten zu sehen, schreckte er plötzlich hoch und packte sie schmerzhaft am Arm.
„Theresa, es war eine Fahrkarte! Nur eine, verstehst du?“ Dann wimmerte er: „Großer Gott, wir hätte sie nicht zusammen benutzen sollen.“
Kurz darauf verdrehte er die Augen und fiel ohnmächtig ins Bett zurück. Am nächsten Morgen hatte er alles vergessen und war nie wieder aufgestanden. Vielleicht ändert sich jetzt alles, dachte sie, als sie an ihre Begegnung mit Margarete dachte. Vielleicht wird jetzt alles wieder gut?
- 8 -
„Wachen Sie auf, verdammt noch mal!“Thea rüttelte den Fremden an der Schulter. Sie hatte genug von unmöglichen Zügen, Schatten, Rätseln und Geheimnissen. Es war an der Zeit ein paar Antworten zu erhalten.
Als der Fremde schließlich die Augen aufmachte, taten Thea die Arme weh. Erschöpft ließ sie sich in ihren Sitz fallen, dann beugte sie sich vornüber und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ihr war nach heulen zumute und kam sich dabei wie ein närrischer Teenager vor, als sie plötzlich die Blicke des Fremden spürte.
„Was ist?“, fauchte sie ihn an. Dann sah sie, dass der Hut des Fremden auf den Boden gefallen war. Er lächelte, sagte aber nichts. Einen Augenblick später war Theas Zorn verraucht. Sie bückte sich, hob den Hut auf und gab ihn seinem Besitzer zurück. Auf einmal schämte sie sich.
„Es tut mir leid“, sagte sie ihm. „Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen.“
Der Mann setzte sich seinen Hut auf und sah sie an.
„Schon gut.“
Noch immer lächelte der Mann und es schien, als ob er ihr keine Vorwürfe machen wollte.
„Hat ihnen ihr Vater nichts erzählt?“
Sie seufzte.
„Mein Vater war ein stiller und einsamer Mann. Er hat nie jemanden irgendwas erzählt. Selbst als meine Mutter starb, war er wie eine Schildkröte. Er hat einfach seinen Kopf eingezogen und alles an seinem Panzer abprallen lassen. Ich musste meinen Weg schon immer alleine gehen.“
Der Mann blickte sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, den Thea nicht deuten konnte. Eine ganze Weile lang sagte er nichts, dann neigte er leicht seinen Kopf, als ob er seine Gesprächspartnerin unter einem anderen Blickwinkel studieren wollte.
„Ich werde bald gehen müssen, Thea. Stellen sie einfach ihre Fragen, ich weiß zwar nicht so viel, wie ihr Vater wusste, aber ich werde mich bemühen Ihnen, soweit es mir möglich ist, alles zu erklären.“
Thea überlegte was sie zuerst fragen wollte, dann sagte sie: „Wo bin ich und was ist das für ein Zug?“
Eine Weile schwieg der Mann, dann meinte er: „Ich weiß es nicht. Ihr Vater und ich haben darüber spekuliert, was es mit dem Zug auf sich hat. Wir haben Nachforschungen angestellt, doch leider ohne Erfolg.“
Er nahm seinen Hut herunter und begann ihn unwillkürlich in den Händen zu drehen. Es war eine Geste, die so geübt erschien, dass es sich nur um eine alte Gewohnheit handeln konnte.
„Passen Sie auf, Thea. Ich erzähle ihnen die Fakten, die wir über den Zug in Erfahrung bringen konnten. Erstens“, er wies zum Fenster, “man kann immer nur auf jener Seite aus dem Zug blicken. Die andere bleibt unzugänglich. Zweitens, so oft man mit diesem Zug auch fährt, man kommt stets nur so weit, wie man beim ersten Mal gefahren ist. Das Ende der ersten Reise, bestimmt also auch das Ende aller anderen Fahrten.“
„Man kann den Zug verlassen? Wie? Ich bin vorhin den Waggon entlang gegangen, konnte jedoch nicht einmal das Ende sehen. Ich bin gerannt und gerannt …“
„Ruhig, dazu komme ich noch. Wissen Sie, ihr Vater und ich, wir haben auch einmal versucht, das Ende des Waggons zu erreichen. Damals haben wir uns vorbereitet, wobei es uns ganz gelegen kam, dass man hier, an diesem Ort, weder trinken noch essen muss. Na ja, das wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht, aber als der Proviant, den wir mitbringen wollten, verschwunden war, haben wir etwas Ähnliches vermutet. Nebenbei bemerkt, auch technische Geräte wie beispielsweise Uhren können nicht in den Zug gelangen, aber ich schweife ab. Nun sei es, wie es sei. Ihr Vater und ich sind jedenfalls losgegangen, um das Ende des Waggons zu erreichen und wenn möglich bis zum Ende des gesamten Zuges zu gelangen. Jeder ging in eine andere Richtung davon, doch obwohl es Stunden, wenn nicht gar Tage waren, in denen wir marschiert sind, haben wir das Ende nicht erreichen können. Jedenfalls wurde ich irgendwann so müde, dass ich mich mitten auf den Gang legte und an Ort und Stelle einschlief. Als ich wieder aufwachte, befand ich mich wieder in meinem Abteil. Kurze Zeit später war auch ihr Vater wieder hier. Er war ebenfalls eingeschlafen, wie er mir später erzählte.“
Sie schaute den Mann an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Das alles klang einfach nur verrückt, nichtsdestotrotz hatte sie das beklemmende Gefühl, dass er die Wahrheit sprach. Plötzlich bemerkte sie, wie sein Gesicht eine Spur dunkler wurde.
„Thea, ich weiß, dass Ihnen das alles verrückt vorkommen muss und zweifellos haben sie Recht. Auf der anderen Seite ist der Zug das Wundervollste, das man sich nur vorstellen kann. Es ist ein Geschenk, ein Mysterium, an dem man teilhaben kann. Vielleicht ist es uns gar nicht vergönnt, das alles zu verstehen. Möglicherweise soll man sich einfach nur hinsetzen und die Reise genießen?“
„Wer oder was sind die Scherenschnittmenschen?“
Der Fremde blickte sie verdutzt an, dann lachte er.
„Prima, den muss ich mir merken. Scherenschnittmenschen, ja das trifft es.“ Er setzte sich den Hut wieder auf und sein Gesicht verdunkelte sich. Doch Thea meinte zu sehen, dass der Schatten auf seinem Gesicht nicht nur von dem Hut stammte.
„Na, leider kann ich auch hier wieder nur Vermutungen anstellen. Es sind jedenfalls nicht die Geister von Verstorbenen, falls sie das geglaubt haben sollten. Im Gegenteil, wenn jemand stirbt, dann verschwindet er einfach und sein Platz in diesem Zug wird frei.“ Plötzlich wirkte der Mann verlegen, dann deutete er mit dem Kopf in ihre Richtung.
„Zumindest war es bei ihrem Vater so.“
Thea schluckte, dann stand sie auf und betrachtete ihren Sitz.
„Wollen sie sagen, dass ich den Platz meines Vaters eingenommen habe?“
Sie blickte auf, aber der Mann war verschwunden. Ein Scherenschnittmann saß dort, wo sich eben noch der Fremde befunden hatte.
Sie keuchte und drückte sich mit dem Rücken an das Fenster. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie aus dem Abteil fliehen sollte, dann verwarf sie den Gedanken wieder. Es gab einfach keinen Ort, zu dem sie flüchten konnte. Die Scherenschnittmenschen waren überall. Plötzlich begriff sie.
„Sie sind der Fremde, der Freund meines Vaters, nicht wahr?“
Der Scherenschnittmann sah sie an, neigte seinen Kopf und hob grüßend den Hut.
Thea nickte ebenfalls leicht mit dem Kopf, woraufhin sich der Schattenmann abwandte. Mit einem Gefühl von Verlorenheit sah sie aus dem Fenster, dass eine Aussicht auf eine riesige, mit Gras bewachsene Ebene bot. Noch lange saß sie so da und betrachtete bekannte, wie fremde Landschaften. Urwüchsige Wälder wechselten mit stillen Seen. Schneebedeckte Berge wichen Feldern, die sich bis zum Horizont erstreckten. Alles war wunderschön, still und friedlich. Menschen oder Tiere hingegen waren nie zu sehen. Es war einsam und leer, wie das Haus ihres Vaters nach seinem Tod.
Die Erinnerungen an ihn schmerzten, doch erst jetzt, wo sie in diesem seltsamen Zug saß, wurde ihr bewusst wer ihr Vater gewesen war. Zeitlebens hatte er ein Geheimnis gehabt, dass er nicht einmal seiner Familie anvertraut hatte und jetzt hatte sie es entdeckt und teilte es mit ihm. Plötzlich fühlte sie sich mit ihrem Vater auf eine Weise verbunden, wie sie es noch nie gefühlt hatte.
Sie griff nach ihrer Handtasche, um nach einem Taschentuch zu suchen, als sie einen Fahrschein fand. Da wusste sie, wie sie wieder nach Hause kam.
Sie machte die Tasche zu und flüsterte: „Noch nicht, jetzt noch nicht.“
- 9 -
Der Sturm wütete bis zum nächsten Morgen.Als die Sonne aufging, erklangen in Stolberg die Sirenen der Feuerwehr. Äste und umgestürzte Bäume hatten den Verkehr zum Erliegen gebracht. Menschen fluchten, als sie abgedeckte Dächer und verbeulte Autos fanden. Umleitungsschilder wurden aufgestellt und die Polizei versuchte, das allgemeine Chaos in Grenzen zu halten.
Von all dem bekam Margarete nichts mit. Sie saß in der Stube vor den Papieren, hielt eine vergilbte Fahrkarte in der Hand und schien die Welt vergessen zu haben.
Ein Geruch von Rauch und erloschenen Kerzen hing in der Luft
Als es gegen Mittag an der Tür klingelte, schrak Margarete aus ihren Gedanken hoch. Müde stapfte sie zur Tür, während sie sich eine Strickjacke um den Leib schlang.
„Frau Dornbach? Ich …, ich wollte mich nur erkundigen, ob bei ihnen alles in Ordnung ist? Der gestrige Sturm hat ein ziemliches Unheil angerichtet, finden sie nicht?“
Sturm? Unheil? Margarete hatte keine Ahnung, wovon die Frau sprach, die vor ihrer Haustür stand.
„Entschuldigung, Sie sind?“
„Theresa. Erinnern Sie sich nicht? Wir haben gestern miteinander gesprochen. In der Bäckerei.“
Aus den Schatten ihrer Erinnerung formte sich langsam ein Bild. Richtig, dachte Margarete, da war gestern eine Frau. Sie wollte etwas von mir, überlegte sie, konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, was das gewesen sein mochte. Dann fiel ihr ein, wie am Abend der Strom ausgefallen war und dass sie Kerzen aufstellen musste. Ein starker Wind hatte an den Fensterläden gerüttelt. Und Regen? Hat es geregnet? Sie wusste es nicht mehr. Dunkel meinte sie sich zu erinnern, dass es ein paar Mal geblitzt hatte. Gedonnert hat es vermutlich auch. Wo Blitz ist, ist auch Donner, sagt man das nicht so?
„Ich erinnere mich. Freut mich Sie wiederzusehen“, erwiderte Margarete und hoffte, dass das Gespräch bald beendet sei.
„Ja, wissen Sie, der eigentliche Grund für meinen Besuch ist …“, Theresa stockte. Sie fürchtete sich davor mit der Wahrheit herauszurücken. Diese Frau, Margarete, sie allein hatte es in der Hand.
Verzweifelt betrachtete sie die Frau. Sie wirkte dünn, beinahe ausgemergelt und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sie sieht wie ihr eigener Schatten aus, dachte sie. Dann dämmerte es ihr.
„Sie! Sie haben sie benutzt!“
Anklagend richtete sie den Finger auf Margarete. Dann brach sie in Tränen aus.
„Ihr Vater ist Schuld, dass mein Mann krank ist. Jahr und Tag liegt er in seinem Bett. Die ganze Zeit muss ich ihn pflegen, muss ihn waschen, füttern und darauf achten, dass er sich nicht wund liegt. Und sie, was tun sie? Sie begehen dieselben Fehler wie ihr Vater!“
„Was wollen sie von mir?“ Margarete betrachtete die Frau und konnte kein Mitleid für sie aufbringen.
Die Frau schaute sie an, dann schien sie sich erneut zu verwandeln. Der Fisch wurde zur Auster und die Emotionen verschwanden aus ihrem Gesicht.
„Ich möchte, dass sie mir die Fahrkarte zeigen. Es ist mein Recht sie zu sehen.“
„Die Fahrkarte? Ich weiß nicht …“, dann brach Margarete ab. Es hatte keinen Sinn die Frau anzulügen. Außerdem fehlte ihr die Kraft für eine Auseinandersetzung. Sie fühlte sich hohl und leer. Nur das Bedürfnis in der Stube zu sitzen und die Karte in der Hand zu halten, hielt sie aufrecht. Sie seufzte, dann drehte sie sich wortlos um und ging ins Haus zurück. Theresa folgte ihr schweigend.
In der Stube setzten sie sich beide an den Tisch, wo Margarete ihr die Fahrkarte zeigte.
Die Zeit verging, ohne dass ein Wort gesagt wurde, als schließlich der Abend dämmerte, stand Theresa auf. Nur kurz hielt sie inne, dann sagte sie leise: „Danke. Von mir und meinem Mann.“ Dann verließ sie das Haus. Es gab keinen weiteren Abschied und kein Wiedersehen.
Als die Haustür geschlossen wurde, blickte Margarete nicht einmal auf.
- einen Monat später -
Der Nachtzug, der um ein Uhr morgens durch Stollberg fuhr, stieß einen einsamen klagenden Ruf aus, der sich an den bewaldeten Hängen brach und als langgezogenes Heulen zurückeilte. Einige Leute drehten sich in ihren Betten um und schliefen weiter, andere hingegen bekamen seltsame Träume von Zügen und fernen Reisen.
Margarete hingegen saß in der Stube und starrte aus dem Fenster. Sie hielt eine heiße Tasse Tee in ihren Händen, auf die sie ab und an blies. Dann, als das ferne Echo des Zuges verhallte, murmelte sie: „Irgendwann wirst du zurückkommen und dann wirst du mir alles erzählen.“
Ende