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Dornenfinsternis
Ich ging, wie jeden Abend, im Park vor meinem Haus spazieren, als ich unversehens das Verlangen spürte, den gewohnten, ebenmäßig geharkten Weg zu verlassen und ein wenig die Wiesen zwischen den Hauptwegen zu erkunden.
Bald stieß ich jenseits der gepflegten Rasenflächen auf waldähnliche Vegetation, Bäume, die zwar beschnitten, aber im Großen und Ganzen in ihrer ursprünglichen Form belassen worden waren. Sträucher und Büsche, die keinem Muster folgend auf dem Rasen wuchsen.
Die ungekünstelte Natur gefiel mir und ich wagte mich zwischen die hohen Büsche ins Gestrüpp. Meinen Weg kaum wahrnehmend, spazierte ich weiter, bis ich mich unversehens vor einer undurchdringlichen Wand aus Dornengestrüpp wiederfand.
Ich wunderte mich über diesen unkontrolliert gewucherten Ausbruch der Natur und schalt in Gedanken den nachlässigen Gärtner, der anscheinend in diesem Park beschäftigt war, als ich mich umdrehte und feststellen musste, dass ich anscheinend nicht aus dieser Richtung gekommen war. Auch wenn ich mir eingebildet hatte, immer nur geradeaus gegangen zu sein, war es schlicht unmöglich, denn hinter mir ragte dasselbe Dornengestrüpp in seiner ganzes Undurchdringlichkeit vor mir hoch.
Verwirrt drehte ich mich um die eigene Achse, jedoch schien der Weg, auf dem ich gekommen war, verschwunden zu sein. Ratlos verharrte ich einige Sekunden und entdeckte dann eine Stelle, an der das Gestrüpp nur heckenhoch gewachsen war. Von dort musste ich gekommen sein! War ich so in Gedanken versunken, dass ich nicht einmal bemerkte, wie ich dieses Gebüsch überstieg? Es schien so und guten Mutes, mich jede Sekunde wieder auf der Wiese zu befinden, durchdrang ich das niedrige Buschwerk.
Die Dornen rissen an meiner Hose, auch die Hände bekamen Kratzer ab, doch keine Wiese tat sich vor mir auf, nur noch mehr Dornen, noch mehr Ranken.
Unwillig einen Irrtum zuzugeben, kämpfte ich mich weiter fort, bis ich völlig eingeschlossen und beinahe vollständig bewegungsunfähig war. Mit rudernden Bewegungen schaffte ich es, ein paar Äste beiseite zu schieben – da war die offene Grasfläche, über die ich zuvor gewandert war! Verärgert versuchte ich noch einmal die letzte Barriere aus Holz und Blättern zu durchbrechen, musste aber letztendlich einsehen, dass ich mich verfangen hatte.
Trotzdem ich mich schämte, in einem öffentlichen Park in eine derartige Not zu geraten, rief ich laut um Hilfe.
Es dauerte nicht lang, bis der Parkwächter vor dem Gebüsch stand. „Wie sind Sie denn da hineingeraten?“, fragte er. Ich gestand ihm meine Gedankenlosigkeit und bat um schnelle Befreiung. „Nun, selbst herausholen kann ich Sie nicht. Nicht mit bloßen Händen. Ich werde ein paar Arbeiter holen, die können Sie aus dem Gebüsch herausschneiden.“ „Beeilen Sie sich bitte, meine Lage ist sehr unangenehm.“ „Offensichtlich. Doch darf ich um ein bisschen Geduld bitten, ich bin in ein paar Minuten mit den Männern wieder bei Ihnen.“
„Sie haben gut reden. Sie sind ja nicht gefangen. Helfen Sie mir doch aus diesen unsäglichen Dornen heraus!“
„Gefangen nicht, aber gebunden an Regeln und Vorschriften“, erwiderte der Wächter. „Je schneller ich die Männer finde, desto schneller sind Sie wieder frei. Also lassen Sie mich jetzt gehen.“
Er ging und mit ihm das letzte Tageslicht.
Eingeschlossen im Dornendickicht umfing mich die Nacht wie ein zusätzliches Gatter. Meine anfänglich noch recht vehementen Befreiungsversuche brachten mir nur noch mehr Kratzer und büßten im selben Maße an Stärke ein, wie der Tag langsam das Licht und die Geräusche der Geschäftigkeit verlor.
Schließlich füllte nur noch Stille mein Gefängnis aus Ästen und Blättern.
Wer hat es je erlebt, das Schweigen im Innern eines solchen Käfigs, die Stille im Herzen des starren und doch lebendigen Konstrukts, das mich umfing in seiner dornengespickten Umarmung.
Langsam wurde es kühler. Die Nachtkälte kroch an meinen Hosenbeinen entlang in meinen restlichen Körper, bedeckte ihn mit einer Gänsehaut und machte mich schaudern.
Wo war der Wächter? Ich reckte den Hals, suchte in der Dunkelheit nach dem Licht einer Laterne, den Stimmen der Arbeiter oder nur einem Zeichnen nach Leben, doch alles was ich sah, war Gestrüpp. Äste und Ranken, die sich viel weiter erstreckten, als ich es zuerst angenommen hatte.
Bei unserem Gespräch glaubte ich den Parkwächter vielleicht zwei Schritte von mir entfernt, ich hätte ihn mit ausgestreckten Arm berühren können, hätten nicht die Dornen meine Ärmel gefangen gehalten. Aber nun erschien mir diese Erinnerung unmöglich, er musste viel weiter entfernt gewesen sein. Oder täuschte die Nacht meine Sinne und ließ mir das Gebüsch größer und undurchdringlicher erscheinen, als es eigentlich war?
Meine Füße wurden langsam taub. Der Tag war angenehm lau gewesen, entsprechend leicht war ich gekleidet, nicht vorbereitet auf die noch empfindlich kühlen Nächte dieser Jahreszeit.
Ich konnte nicht länger stehen und ließ mich ein wenig in das Gestrüpp sinken, es hielt meinem Gewicht stand und ermöglichte mir, meine Füße zu entlasten.
Ein paar stärkere Äste in meinem Rücken ließen es sogar zu, dass ich eine annähernd bequeme Position einnehmen konnte.
So wartete ich noch eine Weile, lauschte in die Nacht und hörte doch, so angestrengt ich auch auf die Rückkehr des Wächters horchte, nur das leise Knistern von Astwerk, das aneinander reibt.
Ich wusste nicht, wie lange ich schon in diesem Gebüsch saß, doch es kam mir vor wie ein halbes Leben. Irrte ich mich oder war die Nacht noch schwärzer geworden? Ich versuchte die Sterne auszumachen, aber auch über meinen Kopf hatten sich die Äste zu einem undurchdringlichen Geflecht zusammengeschlossen.
Äste, die vor ein paar Stunden noch nicht dort gewesen waren. Wie schnell wachsen Dornenbüsche? Schneller, als ein Parkwächter laufen kann? Schneller, als ein Trupp Männer eine Schneise in ein Gebüsch schlägt?
Ich gab ein Geräusch von mir, ein halb unterdrücktes Flehen um Antwort.
Ich rief um Hilfe, schrie, doch der Klang meiner Stimme schien mir selbst auf vulgäre Art die Ruhe zu stören, die sich in dem wuchernden Gestrüpp verdichtete.
Ich wollte das Atmen nicht stören. Das leise Schwingen von Leben, das mir der Wind im Astlabyrinth vorgaukelte.
Ich schloss die Augen und ließ den Strauch weiter seinen schützenden Kokon um mich weben, seine Arme um mich legen, ließ mich einschließen, beseelt von dem Wunsch ein Teil dieses großartigen Organismus zu werden.
Ich schloss die Augen, um zu sterben, um zu leben,
ich schloss die Augen um frei zu werden.