Dort
Dort
Stille. Eine endlose Stille legte sich auf ihre Brust, ohne sich auch nur für einen Moment von ihr zu lösen. Obwohl sie das Radio aus ihrem Zimmer hörte („Es ist sieben Uhr morgens, und ein wunderschöner Tag im Juli… dies wird ein toller Sommer Leute!“), das fröhliche Zwitschern der Vögel, das ihr an diesem ganz besonderen Tag gar nicht mehr so fröhlich vorkam, aus dem Garten drang und ihre Schritte diesen ganz eigenartigen Klang auf dem Boden hinterließen, legte sich eine Innere Stille auf ihre Brust, und erdrückte sie von Tag zu Tag mehr. Doch heute, an diesem besonderen Tag, (vielleicht, nein, ganz bestimmt sogar war es ihr letzter besonderer Tag) hatte diese innere erdrückende Stille sie etwas losgelassen, und sie konnte wieder tief durchatmen.
Das junge Mädchen, das eigentlich schon fast eine Frau war, ging durch ein Haus, dass andere ihr Zuhause nannten, aber sie fühlte sich nicht Zuhause. Sie fühlte sich wie eine Fremde, die hier nur geduldet und nicht erwünscht war. Es war kein vorübergehendes Gefühl gewesen, nein, so war es schon ihr ganzes Leben lang gewesen. Doch damit würde auch bald Schluss sein, das wusste sie. Denn jener besondere Tag würde alles verändern, da war sie sich ganz sicher. Sie ging also in dem Haus herum, das eigentlich ihr Zuhause war und sah ich ganz genau um. Ging Schritt für Schritt weiter, ohne den Blick schweifen zu lassen, berührte hin und wieder einen Gegenstand, seufzte und ging (oder schwebte sie?) dann weiter. Ein Beobachter würde vielleicht denken, dass sie nach irgendetwas auf der Suche war. Vielleicht würde der Beobachter dann nicht mal so falsch liegen. Vielleicht war sie unbewusst auf der Suche nach etwas. Wenn es so gewesen wäre, dann hätte sie sicher nach Wärme, Hoffnung oder…
(Leben?)
…etwas Ähnlichem gesucht, denn das war es, was ihr eigentlich fehlte, auch wenn sie sich nicht im Klaren darüber war. Doch sie war nicht auf der Suche (auf jeden Fall nicht bewusst), nein, sie verabschiedete sich im Stillen von jedem Gegenstand, auch wenn sie nicht genau wusste, warum sie es tat. Keiner dieser Gegenstände bedeutete sonderlich viel für sie, und doch wurde ihr komisch zu Mute, wenn sie daran dachte, dass sie diese Gegenstände vielleicht zum letzten Mal sah, berührte oder benutzte. Gab es Dort auch Bilder? Blumen? Dies dachte sie, obwohl sie nicht genau wusste, was sie mit dort meinte. Wollte sie es eigentlich so genau wissen?
„Nein“, dachte sie entschieden und schob den Gedanken beiseite.
Sie ging ins Badezimmer und begann Wasser in die Badewanne zu lassen. Sie zog sich langsam vor dem Spiegel aus und musterte sich kritisch. Ihre Haut war gelblich weiß und fast durchsichtig. Ihr Arzt hatte ihr erklärt, dass es eins der leichtesten Übel war. Am Anfang konnte sie es nur schwer glauben, doch inzwischen wusste sie, dass er Recht hatte. Mit einem leichten Glücksgefühl stieg sie in das heiße Badewasser. Woher kam dieses Glückgefühl? Vielleicht verspürte sie Glück, weil sie wusste, dass es...
(Heute?)
...bald ein Ende haben würde, denn heute war jener besondere Tag, den sie schon seit längerem ersehnt hatte. Sie schloss die Augen und genoss einen Moment lang, das Gefühl, das das heiße Wasser mit Erdbeerduft auf ihrer Haut hinterließ, als sie das Gefühl hatte, nicht mehr alleine im Raum zu sein. Sie verspürte weder Angst noch Unbehagen. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte zum ersten Mal an diesem besonderen Tag geborgen.
„Hallo ihr drei!“, dachte sie erfreut, ohne die Augen zu öffnen und obwohl kein Ton über ihre Lippen gekommen war, erhielt sie sogleich drei Antworten. Eigentlich war es nur eine, doch sie kam von 3 verschiedenen Lebewesen. Im Badezimmer, hörte man nur hin und wieder das Plätschern des Wassers, doch die junge Frau konnte genau die Antwort ihrer…
(einzigen)
…besten Freunde hören. Niemand wusste von ihren Freunden, denn sie wusste, dass niemand ihr glauben würde. Andere würden sie für verrückt erklären, denn ihre besten Freunde konnten andere weder sehen noch hören. Doch sie war sich sicher, dass sie da waren. Sie konnte sie genau sehen (einen Jungen in ihrem Alter, der sich vor einem Jahr als Josh vorgestellt hatte, eine ältere Frau, die Emilia hieß und ein kleines Kätzchen, das Josh und Emilia Twinky nannten) und auch wenn sie ihre Stimmen noch nie gehört hatte, wusste sie trotzdem immer was die drei ihr mitteilen wollten. Sie hörte ihre Stimmen in ihrem Kopf. Wobei Twinky, wie eine normale Katze auch, nicht sprechen konnte. Sie öffnete die Augen uns sah Emilia und Josh, die sie so liebevoll anlächelten, dass ihr fast die Tränen gekommen wären. Twinky sprang auf den Badewannenrand und fing an zu schnurren. Sie streckte die Hand aus und begann die Katze zu streicheln. Sie fühlte das weiche Fell und den vibrierenden Körper der schnurrenden Katze, die die Streicheleinheiten sichtlich genoss.
„Heute ist es soweit, hab ich Recht?“, fragte sie ihre Freunde und sah Emilia und Josh an, als wenn sie übers Wetter reden würden. Josh sah sie lächelnd an und nickte.
„Hab keine Angst.“, sagte Emilia. Die junge Frau schüttelte energisch den Kopf. Nein, sie hatte keine Angst… wenn sie tief in sich hinein horchte, dann verspürte sie sogar Freude. Dieser besondere Tag würde alles beenden. Das Leid. Den Schmerz. Die Stille. Seit einem Jahr hatte sie auf diesen Tag gewartet. Seit einem Jahr zählte sie die Tage. Vor genau einem Jahr kamen ihre drei Freunde zum ersten Mal zu ihr und erzählten ihr von Dort. Es war ein sehr heißer Tag gewesen und sie war gerade vom Arzt nachhause gekommen. Ihr ganzes Leben hatte sich für sie in einzelne Splitter zerteilt. Sie war geschockt auch wenn sie es schon lange geahnt...
(oder auch gewusst?)
...hatte. Sie wollten schreien, weinen, aufgelöst sein, doch sie konnte nicht. Ihre Eltern waren sofort wieder zur Arbeit gefahren. Um ES zu vergessen. Sie war allein in dem Haus (das eigentlich ihr Zuhause war) und fühlte sich, als wenn sie in ein tiefes Loch fallen würde. Keine Heilung, hatte der Arzt erklärt. Sie war seit Wochen ständig in Ohnmacht gefallen, hatte sich schwach gefühlt und unter starken akuten Kopfschmerzen gelitten. Der Arzt hatte erklärt, dass es die ersten Symptome seihen und hatte sie zur Untersuchung da behalten. Ihre Eltern waren vor ihr geflüchtet. Vor der Verantwortung. Hatten allen die Schuld gegeben, doch sie wusste, dass niemand Schuld war. So etwas passierte halt. Dabei war sie doch noch viel zu jung… und hatte keine schönen Erfahrungen in ihrem Leben gehabt. Sie hatte weder eine Freundin, noch war sie sonderlich gut in der Schule gewesen, denn die ewigen Kopfschmerzen raubten ihr jegliche Konzentration. Was sollte das für ein Leben sein? Dabei hätte sie noch so viel erleben wollen. Doch soweit würde es vielleicht nicht kommen. Sie hatte auf ihrem Bett gesessen und versucht ES zu verdrängen, als sie zum ersten Mal die Anwesenheit von ihren Freunden gespürt hatte. Sie war weder verängstigt noch verwundert. Sie fühlte sich wohl und diese Wärme, die von den dreien ausging beruhigte sie. Josh hatte sich zu ihr aufs Bett gesetzt, ihr den Arm um die Schultern gelegt und hatte sie angelächelt und Emilia hatte ihr alles erklärt. Sie hatte von Dort erzählt. Ihr gesagt, dass sie keine Angst haben musste und dass es in einem Jahr ein Ende nehmen würde. Sie konnte nicht mit Worten erklären warum sie den beiden geglaubt hatte, aber ganz tief im Inneren wusste sie, dass Josh und Emilia Recht hatten. Und so hatte sie Angefangen die Tage zu zählen, bis sie endlich Dort war. Emilia und Josh hatten ihr so viel davon erzählt. Alles wäre voller Wärme und Liebe. Jeder würde einen bestimmten Platz haben und ES würde es Dort nicht geben. Die Zeit verging, sie wurde immer schwächer, konnte die Schule nicht mehr besuchen, sondern musste im Bett liegen bleiben. Sie kam für eine lange Zeit ins Krankenhaus um ES zu besiegen. Ihre Haare fielen aus und sie wäre schrecklich einsam gewesen, denn ihre Eltern stürzten sich in ihre Arbeit um den Schmerz, diese Hilflosigkeit zu verdrängen und vergaßen dabei ganz ihre geliebte Tochter, die in weniger als einem Jahr schon Dort sein würde. Während der ganzen schmerzlichen Zeit waren Josh und Emilia (und sogar das kleine Kätzchen) immer bei ihr gewesen und auch wenn sie für alle drei Liebe empfunden hatte, so empfand sie für Josh nicht nur Liebe, sondern tiefe Freundschaft. Vielleicht war es, weil er ES auch besiegt hatte… vielleicht war es, weil er sie so unheimlich beruhigte. Vielleicht war es, weil er der einzige Junge in ihrem kurzen Leben war, der ihr versicherte, dass sie Liebenswert war, trotz ihres so kranken Aussehens und trotz der Krankheit, die sie nur ES nannte. Wenn sie mit ihm redete verstand sie auf einmal die ganze Welt. Sie sah einen Sinn in Leben und Tod. Er versicherte ihr, dass Dort noch so viel auf sie wartete, dass Dort viele andere sein würden, die nur darauf warteten ihre Freunde zu werden. Sie wusste, dass er Recht hatte. Nur mit diesem Gedanken und mit der Anwesenheit ihrer Freunde überstand sie diese lange Zeit, die einer jungen Frau noch viel länger vorkommen, wenn sie nur im Bett liegen und nicht wie andere junge Leute feiern, lernen und Spaß haben darf. Sie wusste, dass sie bald ES besiegen würde und dann…
(Sterben)
…frei sein würde.
Sie erzählte niemanden von ihren neuen Freunden. Sie wusste, dass niemand ihr glauben würde, also behielt sie es für sich. Wem hätte sie es auch erzählen sollen? Am Anfang hatte sie sich gewundert, dass ihre Eltern ihre neuen Freunde nicht sehen konnten, doch sie verstand sehr schnell warum dies so war. Sie waren Engel. Engel die von Dort kamen, um sie Dort hinzubringen. Dort würde sie auch ein Engel sein.