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- 30.06.2004
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Drachenmärchen
„Lass mich auch mal nach vorne, ich kann gar nichts sehen!“
„Igitt, ist der hässlich!“
„Vorsicht, Julie, geh nicht zu nahe dran, es könnte beißen!“
Eine kleine Menschenmenge hatte sich um den massiven Eisenkäfig versammelt, den die Gaukler auf dem Marktplatz aufgebaut hatten. Er stand etwas erhöht, auf einer hölzernen Plattform, die mit dunkelblauen Tüchern verhängt war. Eine blonde junge Frau, die Besitzerin des Käfigs, pries seinen Inhalt an.
„Seht das Ungeheuer aus der Tiefe, den Schuppenmensch. Aus den Tiefen der Meere ist er empor gestiegen, um seine grausige Rache an den Menschen zu nehmen, aber ich habe ihn eingefangen und hierher gebracht, damit ihr ihn heute bewundern könnt. Seht dem Grauen in die Augen, erkennt die größte Bedrohung der Menschheit, fühlt die Angst…“
Der Bewohner des Käfigs hatte sich angstvoll in eine Ecke zusammen gekauert, darauf bedacht, den allgegenwärtigen Menschen zu entkommen. Vergeblich versuchte er, mit einer schmuddeligen Wolldecke seine blaugeschuppte Haut, die Schwimmhäute zwischen seinen Zehen und die kleinen, schwachen Hautflügel auf seinem Rücken zu verbergen. Er war nicht sehr groß, vielleicht in etwa wie ein siebenjähriges Kind, und jeder, der sich die Mühe gemacht hätte, genauer hinzusehen, hätte die Angst in seinen gelben Augen erkennen können.
Doch unter den Betrachtern gab es nur einen, der so genau hinsah. Es war ein schlanker kleiner Mann, der seinen Körper unter einem langen Mantel und sein Gesicht unter einer weiten Kapuze verborgen hielt, obwohl es Mittag war und die Hitze in den Straßen stand. Regungslos betrachtete er die Gauklerin und ihr Ausstellungsstück. Den ganzen Nachmittag über rührte er sich nicht vom Fleck, auch nicht, als sich die Menschenmenge langsam verlief, und die Schausteller sich daran machten, den Käfig vom Podest zu hieven. Bedächtig folgte sein Blick dem Schuppenmenschen, als seine Eisenbehausung auf einen Wagen geladen wurde. Erst, als die Gauklerin zwei zottelige Ponys vor den Karren spannte, wagte er es, zu ihr zu treten.
„Verzzeihung“, er lispelte kaum wahrnehmbar.
Die blonde Frau wandte sich zu ihm um, in ihrem Gesicht war nun deutlich die Erschöpfung des langen Tages zu erkennen. Sie sah auch gar nicht mehr so jung aus, wie noch am Nachmittag.
„Was ist denn noch, wir haben schon abgebaut.“
„Ich wollte Euch ein Gessschäft vorsschlagen.“
„Hat das nicht Zeit bis morgen früh? Ich bin müde und hungrig. Ich mache so spät am Abend keine Geschäfte mehr.“
„Ich lade Euch zzzum Esssen ein, dabei könnt Ihr mein Angebot anhören, wie issst dasss?“
Die Gauklerin zögerte, aber nicht für lange. Sie bekam nicht allzu häufig die Gelegenheit zu einer kostenlosen warmen Mahlzeit, und der Mann sah auch nicht besonders bedrohlich aus. Sie überragte ihn um mindestens einen Kopf, sie würde leicht mit ihm fertig werden, sollte sich herausstellen, dass er ihr Übel wollte.
„Also gut“, sie deutete mit dem Kinn in Richtung eines Gasthauses. „Gehen wir dort rein. Olan, kümmerst du dich darum, dass der Karren ins Lager kommt und der Schuppenmensch sein Essen kriegt?“ Einer der anderen Schausteller nickte knapp und machte sich daran, die Ponys weg zu führen, während die Frau dem Fremden ins Gasthaus folgte.
Sie ließen sich an einem kleinen Tisch ganz in der hintersten Ecke nieder und der Fremde orderte für die Gauklerin ein reichhaltiges Abendessen. Er selber begnügte sich mit Wasser. Noch während die Frau gierig das Essen in sich hinein schaufelte, begann er wieder zu sprechen.
„Hier issst mein Angebot. Ich erzzähle Euch eine Gessschichte, dafür lasssst Ihr Euren Sschuppenmensschen gehen.“
Beinahe wäre der Gauklerin ihr Fleisch im Hals stecken geblieben. Sie hustete, schluckte und spülte rasch mit einem Schluck Bier nach. „Du spinnst wohl, eine Geschichte für mein bestes Ausstellungsstück. So kommen wir nicht ins Geschäft!“
„Vielleicht denkt Ihr andersss, wenn Ihr die Gessschichte erssst einmal gehört habt.“
Die Frau grinste. „Glaube ich kaum. Hör mal, mit deiner Geschichte kann ich schließlich kein Geld verdienen.“
„Ihr könnt sssie weiter erzzählen.“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Darf ich sssie trotzdem erzzählen?“
„Wenn du unbedingt willst. Aber versprechen tu ich nichts.“ Sie nahm noch einen weitern Bissen Fleisch. Allein dieses Abendessen war es schon wert, sich die Geschichte von irgendeinem Spinner anzuhören.
Der Fremde nahm einen Schluck Wasser und räusperte sich dann. Als er schließlich zu sprechen begann, war seine Stimme merkwürdig verändert, tiefer, voller, auch das Lispeln war verschwunden.
Magie, dachte die Gauklerin flüchtig, dann ließ sie sich von der Erzählung in ihren Bann ziehen.
***
Im ganzen Königreich Tharan gab es keinen einzigen Schwertkämpfer, der Kiton Weißklinge das Wasser hätte reichen können. Sein Ruhm reichte weit über die Grenzen des Landes hinaus und selbst in fernen Städten wie Jinkal stimmten die Barden Lieder an, die von seinen Heldentaten kündeten. Die Gesänge erzählten, wie Kiton, ganz auf sich gestellt, die weiten Ebenen von Thuran durchquert hatte, um das legendäre Schwert Enk zu gewinnen, oder wie er, mit Enk bewaffnet und nur einer Handvoll Männer an seiner Seite, die Lorinthal-Brücke gehalten hatte.
Das neueste der Lieder jedoch kündete von seinem bisher größten Sieg, dem Kampf mit dem großen blauen Drachen des Wasser, den er nach einem drei Stunden währenden Gefecht schließlich überwunden hatte. Beladen mit Reichtümern aus dem Schatz des Drachens war Kiton in die Hauptstadt zurückgekehrt, um dem König den Kopf des Drachen darzureichen.
Der blaue Drache war König Rhesion schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Zwar hatte sich das Tier für Jahre, ja sogar Jahrzehnte ruhig verhalten, tatsächlich konnte sich keiner mehr erinnern, dass es jemals irgendjemandem geschadet hatte, doch ein Drache so direkt vor seiner Haustür hatte den König doch sehr beunruhigt. Deswegen hatte er auch die Hand seiner Tochter Avara demjenigen versprochen, der den Drachen erschlug.
Nach Kitons Heldentat hatte so der König den Schwertkämpfer in den Stand eines Barons erhoben, damit seine Tochter keine allzu schlechte Partie machte. Die Prinzessin selber war noch sehr jung, zu jung, als dass man schon jetzt ans Heiraten denken konnte, aber das hinderte Rhesion nicht daran, die Verlobung der Elfjährigen mit dem Helden des Königreichs prunkvoll zu feiern. Mehrere Wochen dauerten die Feierlichkeiten an und es wurde nicht an jedem erdenklichen Luxus gespart.
Die Barden rühmten noch Wochen nach den Festivitäten die große Schönheit der jungen Prinzessin, die stattliche Figur des Helden, die Reichhaltigkeit des Verlobungsessens und den großen Aufwand, den sich der König mit dieser kolossalen Feier gemacht hatte.
Jeder konnte mit dem Verlauf der Dinge zufrieden sein.
Zur Feier des Tages hatte der König allen Bürgern einen Monat sämtliche Zahlungen an das Reich erlassen, damit auch die einfachen Leute Grund hatten, mit den Adeligen zu feiern. Überall im Lande bewunderte man die Größe und Güte des Königs und Dutzende von Dankschreiben von Schuldnern erreichten täglich das Schloss. Der König war stolz auf sich.
Prinzessin Avara war glücklich, sie stand gerne im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, außerdem war der Schwertkämpfer Kiton ein äußerst gut aussehender Mann von ausgesprochener Höflichkeit und gutem Benehmen, wie es sich schließlich für einen Helden gehörte. Täglich schickte er ihr kleine Aufmerksamkeiten, oder lud sie gar zur Jagd ein, oder zu einem Stadtbummel, wie auch immer: er zeigte offenkundiges Interesse an seiner jungen Braut.
Kiton war selbstredend ebenfalls zufrieden, denn als Sohn eines einfachen Bauern hätte er sich natürlich nie geträumt, Baron zu werden. Zwar war die Prinzessin Avara eine verwöhnte kleine Zicke, aber immerhin war sie Prinzessin, und nicht jeder wird gleich der Schwiegersohn eines Königs.
Die Feierlichkeiten verliefen großartig.
Eine jedoch war nicht sehr zufrieden mit der Entwicklung der Dinge, Kitiara, die Halbschwester des gefeierten Helden. Was sie an dem Glück ihres Bruders störte, war nicht so sehr das Glück selber, ihretwegen konnte er zehnmal Schwiegersohn des Königs werden, es war auch nicht die Tatsache, dass Kiton den blauen Drachen nicht ganz alleine erschlagen hatte - in seiner Begleitung waren noch mindesten zehn schwer bewaffnete Söldner gewesen, die man mit einer angemessenen Zuwendung zum Schweigen gebracht hatte. Nein, es war die Tatsache, dass Kiton und sie zwar die Mutter, aber nicht den Vater teilten.
War Kitons Vater nur ein einfacher Bauer in der Gunst der schönen Javini gewesen, so hatte Kitiaras Vater weitaus mehr Würde besessen, denn schließlich war er der blaue Drache gewesen.
Vor einigen Jahren, als Kiton mit einem Schwert aus dem Drachenhort bewaffnet losgezogen war, um die Welt für sich zu entdecken, hatte er Kitiara einen Schwur geleistet. Niemals wolle er ihrem Vater auch nur einen Kratzer zufügen, ja er würde sein Leben hingeben, um ihn zu schützen, wenn er von anderen Rittern bedroht würde.
Doch das Versprechen des Königs war wohl stärker gewesen, als dieser alte Schwur. Vergeblich hatte Kitiara Kiton von seinem Vorhaben abzubringen versucht.
„Tut mir Leid, Kleine“, hatte er zu ihr gesagt, als sie ihn vor der Höhle erwartet hatte. „Aber der König will es so. Und was wäre ich für ein Held, wenn ich nicht einmal einen Drachen erschlagen würde. Außerdem – er wird doch sowieso schon alt. Wer weiß, vielleicht stellt er dann ja doch eine Gefahr dar. Sieh es einfach als eine Art Gnadentod.“
Und damit hatte er Kitiara schlichtweg beiseite geschoben und war, gefolgt von seinen Söldnern, in die Höhle spaziert. Nur einer von ihnen war zurück geblieben, um Kitiara in Schach zu halten. Das genügte vollauf, denn anders als ihr Bruder war sie eher klein und schmächtig. So hatte sie nur zusehen können, wie Kiton nach einiger Zeit mit dem Kopf ihres Vaters auf eine Lanze gespießt die Höhle wieder verließ und sich auf den Weg zum König machte. Ihr selber war nichts anderes übrig geblieben, als ihren Vater angemessen zu begraben.
***
„Mann, die wird aber sauer gewesen sein.“ Die Gauklerin leerte ihren Bierkrug und bestellte sich rasch einen neuen, bevor der Fremde widersprechen konnte.
Der schüttelte jedoch nur den Kopf.
„Nein, sssie war nicht richtig wütend.“ Er war wieder in seine alte lispelnde Sprechweise zurück gefallen. „Alsss Halbdrache issst man esss gewöhnt, dasss die Menssschen einen nicht versstehen. Und im Grunde hat Kitiara ess immer gewusssst, dasss Kiton sssich nicht an die Abmachung halten würde. Von Menssschen kann man nicht verlangen, dassss sssie sschonen, wasss ssie fürchten.
Trotzzdem wollte Kitiara Kiton einen kleinen Denkzzettel verpasssen. Nur wussste sssie nicht, wie. Sssie war noch jung, und ihr Vater hatte sssie noch nicht viel gelehrt. Ein bissschen Magie, Illusssionen, Telekinessse, nichtsss, wass einen Ssschwertkämpfer beeindrucken würde.“
„Ich dachte, Drachen könnten Feuer spucken.“
„Ja, dasss dachte Kitiara ssich auch. Aber dasss hatte ihr Vater ihr noch nicht beigebracht.“
***
Niedergeschlagen hockte Kitiara am Fuß des Wasserfalls, hinter dem sich die Höhle ihre Vaters befunden hatte. Wie nur sollte sie Kiton seinen Verrat heimzahlen? Seine Burg abbrennen? Wenn sie doch nur Feuer hätte spucken können. Warum nur hatte ihr Vater es ihr nicht beizeiten beigebracht? Nur wegen seines falschen Stolzes.
„Ich bin der Drache des Wassers“, konnte sie ihn noch sagen hören. „Warum sollte ich öfter Feuer spucken, als es nötig wäre. Wir beschäftigen uns erst einmal mit Spiegelungen. Wusstest du, dass man Spiegelungen auch außerhalb des Wassers erzeugen kann?“
Verdrossen kaute Kitiara auf ihrer Unterlippe. Sie hatte nie so recht verstanden, warum ihr Vater Drache des Wassers sein wollte. Wäre es nicht viel schöner, Drache des Feuers zu sein? Einen Drachen des Feuers hätte niemand einfach so angegriffen, der hätte Kiton schon fürchten gelehrt mit seinen Flammenstrahlen.
Ein Drache des Feuers, Kitiara begann sich zu fragen, ob es so etwas gab. Warum eigentlich nicht, schließlich gibt es auch einen des Wassers…
„Wenn man noch nie von etwas gehört hat, heißt das nicht, dass es das nicht gibt“, meldete sich wieder einmal ihr Vater mit einer seiner Lebensweisheiten in ihrem Kopf. Ausnahmsweise ärgerte sich Kitiara einmal nicht darüber.
Ein Drache des Feuers… Wer weiß, wenn der mich vielleicht als Schülerin annimmt, dann… dann könnte ich es Kiton heimzahlen. Oder zumindest ihm einen gehörigen Schreck einjagen.
Es war eine völlig verrückte Idee, weit hergeholt, selbst für Kitiaras Verhältnisse, aber es war immerhin eine Idee. Sie wusste sowieso nicht, was sie sonst tun sollte, jetzt, wo ihr Vater tot war, da konnte sie sich genauso gut auf die Suche nach einem neuen Lehrer machen. Froh, eine Lösung gefunden zu haben, rappelte Kitiara sich auf, nahm einige Schritte Anlauf und schwang sich dann in die Luft.
***
„Halbdrachen können fliegen?“
Der Fremde nickte. „Ja, zzwar nicht ssso gut, wie Drachen, aber ganzzz passsabel. Sssie haben zzwei Flügel auf dem Rücken, auch wenn sssie sssonssst aussssehen, wie Menssschen.“
***
Es war anstrengend, zu fliegen. Niemals zuvor hatte Kitiara längere Strecken mit ihren Flügeln zurückgelegt, aber nun musste es wohl sein. In der Gegend, wo ihr Vater und sie gelebt hatten, wollte sie sowieso nicht bleiben und sie hatte auch nie von anderen Drachen in diesem Königreich gehört. Wenn sie also einen neuen Lehrmeister finden wollte, musste sie wohl oder übel weiter weg nach ihm suchen.
Am ersten Reisetag überquerte sie den großen Drachenrücken, das Gebirge, das in ihrer Vorstellung nach ihrem Vater so getauft worden war, und zog schnurstracks nach Süden. Sie wollte Tharan so schnell wie möglich hinter sich lassen. Vielleicht gab es in irgendeinem der anderen Königreiche noch mehr Drachen. Immer weiter flog sie gen Süden, überquerte am dritten Tage die Grenzen des Reiches und zog nun über eine sanfte, hügelige Landschaft hin.
Hin und wieder wurde sie von einigen Menschen entdeckt, die daraufhin in größte Aufregung gerieten, ab und zu wurden auch Pfeile auf sie abgeschossen, aber Kitiara flog einfach höher und die Pfeile gingen fehl. Dann fragte sie sich immer, was die Menschen eigentlich gegen sie hatten. Sie hatte ihnen schließlich noch nie etwas getan.
Wann immer sich die Gelegenheit bot, einen Menschen alleine zu sprechen, etwa einen Holzfäller oder einen einsamen Bauer, den Kitiara aus großer Höhe erspähte, landete sie in sicherer Entfernung, faltete ihr Flügel sorgfältig auf dem Rücken und verbarg sie unter einem Umhang, den sie in einer Umhängetasche bei sich trug. Dann streifte sie Handschuhe über und setzte eine Kapuze auf, um ihre leuchtend blaue geschuppte Haut zu verbergen, und machte sich auf den Weg zu dem Menschen. Sie fragte nach Drachen, großen Drachen, die Feuer speien konnten. Roten Drachen vielleicht. Doch niemand hatte von welchen gehört.
„Und wenn es hier welche gegeben hätte“, lachte einmal ein Bauer, „dann hätten wir ihnen sicher schon lange den Garaus gemacht.“ Kitiara biss sich daraufhin nur fest auf die Lippen und machte dann, dass sie so schnell wie möglich weg kam.
***
„Noch ein Bier bitte!“, rief die Gauklerin quer durch die Kneipe, dann wandte sie sich wieder dem Fremden zu. Noch immer trug er seine Kapuze tief in die Stirn gezogen. Seine Hände blieben in den weiten Ärmeln seines Umhangs verborgen.
Misstrauisch geworden versuchte sie, einen Blick unter die Kapuze zu werfen, doch es war, als gebe es darunter nur Schwärze. Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. Doch dann lächelte sie wieder. Selbst wenn ihr Verdacht wahr wäre, der Kerl war so klein, mit dem würde sie schon fertig werden. So wie mit dem anderen.
Der Fremde achtete nicht weiter auf sie, sondern erzählte unbeeindruckt weiter.
***
Nach zwei Wochen erreichte sie ein großes Meer. Noch nie im Leben hatte sie so viel Wasser auf einmal gesehen, so weit ihre Augen reichten erstreckte es sich vor ihr. Sie zog einige immer weiter werdende Kreise über der Wasserfläche, bis sie schließlich eine kleine Gestalt am Strand erspähte.
Sie ging zu Boden, faltete die Schwingen zusammen und hüllte sich in ihren Umhang. Am liebsten wäre sie barfuß durch den nassen Sand gelaufen und hätte sich die Wellen über die Füße spülen lassen, aber die Gefahr, dass die Gestalt, mit der sie sprechen wollte, ihre geschuppte Haut entdecken würde, war einfach zu groß. So streifte sie schweren Herzens ein paar Schuhe über und machte sich auf den Weg.
In der Ferne konnte sie schon die Silhouette einer großen Stadt ausmachen, als sie schließlich auf die Gestalt traf, die sie von oben gesehen hatte. Es war ein kleiner Fischerjunge, der eifrig Treibgut sammelte. Vorsichtig schritt sie näher an ihn heran und sprach ihn leise an.
"Verzzzeih, aber weisssst du, ob esss hier einen grosssssen roten Drachen dessss Feuersss gibt?" In Gedanken verfluchte sie sich für ihr Lispeln, doch der Junge schien das nicht ungewöhnlich zu finden.
Er deutete auf das Wasser hinaus. "Da draußen, weit weg, gibt es eine Felseninsel, wo die Berge Feuer speien, da soll es angeblich einen großen Drachen geben." Er lachte sie freundlich an, während er sprach, und Kitiara wurde es richtig warm ums Herz. Manche Menschen konnte man doch gerne haben. Sie dankte dem Jungen und rückte ihm eine silbernes Geldstück in die Hand, von dem sie keine Ahnung hatte, wie viel es wert war. Sie hatte es von dem verborgenen Hort ihres Vaters genommen, jenen, den Kiton nicht gefunden hatte. Der Junge machte sehr große Augen und schien noch etwas sagen zu wollen, doch Kitiara hatte sich bereits umgedreht, und war den Strand entlang davon gestapft.
Als Kitiara aus der Sichtweite des Jungen war, faltete sie ihren Umhang sorgfältig zusammen und verstaute ihn zusammen mit den Schuhen und Handschuhen in ihrer Umhängetasche. Dann schwang sie sich wieder in die Luft und steuerte auf das offene Meer zu.
Über dem Wasser zu fliegen war noch anstrengender als über den Bergen, denn Kitiara konnte keine Aufwinde nutzen und musste die gesamte Strecke aus eigener Kraft zurücklegen. Doch endlich, weit draußen im Meer, konnte sie unter sich eine einsame Insel erkennen, die von Kratern und Schluchten durchzogen war. Hier und da loderte es glutrot zwischen den Felsen und Hitze schlug ihr ins Gesicht, als sie tiefer ging, um sich die Insel genauer anzusehen.
Kitiara ließ sich vorerst einmal auf einer steil aufragenden Klippe direkt an der Küste nieder und sah sich um. Wenn es hier einen Drachen geben sollte, wo war er dann? Sie entdeckte mehrere sehr schöne Vulkangipfel, wo sie glaubte, dass sich ein Drache des Feuers durchaus wohl fühlen könnte, aber sie hatte jetzt einfach nicht mehr die Kraft, bei allen nachzusehen. Erst einmal wollte sie ihre Ruhe haben. So hüllte sie sich in ihren Umhang und schmiegte sich an einen der zahlreichen Felsen. Wie gut, dass sie gewohnt war, zwischen Steinen und Felsen zu schlafen.
Als sie wieder erwachte, dämmerte in der Ferne über dem Meer der Morgen. Einige Augenblicke lang saß Kitiara nur da und bewunderte die Farben, die sich auf dem Wasser spiegelten, dann drehte sie sich um, um sich zu ihrer Suche in die Luft zu schwingen.
Fast wäre sie hintenüber vom Felsen gepurzelt. Vor ihr stand ganz ruhig ein zweiter Halbdrache, ähnlich ihr selber, nur muskulöser, und seine Schuppenhaut war rot statt blau, ebenso wie sein üppiges gelocktes Haupthaar. Er musterte sie einige Augenblicke aus seinen gelben Augen, dann sage er ruhig: "Ich ssoll dich zzu meinem Vater bringen!" Er lispelte kaum, wie Kitiara bewundernd feststellte. Bevor sie allerdings noch etwas erwidern konnte, hatte er sich schon mit kraftvollen Flügelschlägen in die Luft geschwungen und steuerte einen Vulkan etwa in der Mitte der Insel an. Kitiara folgte ihm mühevoll. Der Fremde flog viel besser als sie selber, mit ruhigen, sicheren Flügelschlägen, die von verborgener Stärke zeugten. Sie konnte kaum mit ihm mithalten.
Sie setzten auf einer flachen Plattform dicht unter dem glühenden Krater des Vulkans auf. Vor ihnen klaffte eine große Öffnung in der Felswand.
„Warte hier!“, wies sie der rote Halbdrache schroff an, bevor er in der Öffnung verschwand. Folgsam blieb Kitiara vor der Öffnung stehen, nervös und jetzt auch ein kleines bisschen ängstlich. Wie es aussah, schien der große rote Drache des Feuers eine sehr mächtige Persönlichkeit zu sein. Sehr viel mächtiger als ihr Vater, wenn schon sein Schüler fast doppelt so groß und stark war, wie Kitiara. Ihre Hoffnung, bei dem Feuerdrachen lernen zu können, sank rapide.
Er ließ sie warten. Erst in dem Moment, als sie schon dachte, er habe sie vergessen, schob sich aus der Felsspalte der mächtigste Drache, den Kitiara je gesehen hatte. Er war riesig und massig, viel kräftiger als ihr Vater, mit mächtigen Muskeln, die unter seiner Schuppenhaut spielten. Der Halbdrache schritt neben ihm her, als wäre er der Herrscher der Welt.
Kitiara spürte, wie sie ganz klein wurde. Der mächtige Drache wandte seinen Schädel ihr zu und musterte sie aus seinen brennenden Augen.
"Was willst du hier, Wasserdrachin?" sprach er sie auf drachisch an. Kitiara war etwas erleichtert, dass er es ihr gestattete, die Sprache zu benützen, in der sie sich nicht ständig blamieren würde. Sie raffte ihren gesamten Mut zusammen und hob zu ihrer Antwort an.
"Großer Meisterdrache, ich komme, um dir mitzuteilen, dass mein Vater, der große Drache des Wassers in Tharan, von dem Kämpen Kiton getötet wurde. Ich bin hier, weil ich Rache nehmen möchte, aber meine Ausbildung in der Magie noch nicht abgeschlossen war. Ich wollte dich bitten, mich als Lehrmädchen zu dir zu nehmen." Kitiara hielt einen Moment lang inne, um den Feuerdrachen flehend anzusehen, dann fügte sie rasch hinzu. "Kannst du mir das Feuerspeien beibringen?"
Der Drache sah sie einige Augenblicke lang ohne eine Regung an, dann brach er unvermittelt in ein lautes Drachenlachen aus, das Kitiara fast von den Füßen fegte. Es dröhnte in ihren Ohren und ließ den Boden unter ihren Füßen beben, dass sie schon Angst hatte, dass die Höhle hinter ihm einstürzen könnte.
Als er sich wieder beruhigt hatte, wandte er sich - immer noch leicht belustigt - wieder an Kitiara. "Kleine Wasserdrachin, du bist ein seltsames Wesen. Wie kannst du nur denken, dass ein Drache des Wassers meine Magie lernen könnte?" Sein Blick wurde verächtlich. "Versuche es doch bei einem dieser anderen schwächlichen Drachen, die Drachin der Luft, glaube ich, wohnt jenseits dieses Meeres."
Er warf den mächtigen Schädel in den Nacken und wandte sich brüsk ab: "Ein Drache des Feuers wird seine Geheimnisse nicht an einen schwächeren Drachen weitergeben, außerdem habe ich bereits Chim als Lehrling." Mit diesen Worten drehte er sich endgültig um und verschwand in seiner Felsspalte, gefolgt von seinem Sohn. Kitiara blieb allein und enttäuscht auf der Plattform zurück.
***
Die Zunge der Gauklerin wurde zunehmend schwerer. „Also… also kein Feuerspeien, ja?“
Der Fremde lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein, kein Feuerspeien. Aber ein Halbdrache gibt nicht ganz so schnell auf.“
***
Es dauerte einige Zeit, bis Kitiara sich wieder gefasst hatte. Sie war schwächlich? Sicher, sie hätte sich nie wirklich als stark bezeichnet, aber sie hatte gedacht, das läge an ihrem jugendlichen Alter. Kitiara seufzte tief. Kein Feuerspeien.
Nun ja, vielleicht konnte diese Drachin der Luft ihr ja weiterhelfen. Kitiara glaubte sich zu erinnern, dass ihr Vater einmal erzählt hatte, dass diese Drachen der Luft mächtige Stürme hervorrufen konnten, vielleicht konnte man König Rhesion und Kiton ja auch damit beeindrucken. Mit einem letzten Seufzer nahm sie Abschied von der Feuerinsel und dem Feuerspeien, breitete ihre Flügel aus und segelte über das Meer davon.
Diesmal reichte ihre Kraft nicht mehr für den gesamten Flug aus. Das Meer war doch größer als sie gedacht hatte. Nach einigen Stunden fiel sie völlig erschöpft auf den Strand einer einsamen Insel herab, wo sie bald darauf in einen unruhigen Schlaf fiel.
Sie wurde von dem Klang von Stimmen geweckt, die von weit her über das Meer schallten. In Gedanken lobte sie ihre feinen Ohren und sprang von ihrem Lager aus Sand auf. In einiger Entfernung erspähte sie ein Segelschiff, das über die relativ ruhige See glitt, gerade in Sichtweite der Insel. Rasch warf Kitiara sich ihren Umhang über und begann zu winken. Das Schiff fuhr genau in die Richtung, in die sie wollte.
So gelangte Kitiara als Schiffbrüchige an Bord der "Lyra". Die "Lyra" war auf dem Weg nach Süden um Gewürze und Tuche zu kaufen, viele der Seeleute waren nicht das erste Mal an Bord und kannten die Südlande wie ihre Westentaschen. Kitiara, die ihre Überfahrt mit kleinen Botendiensten und als Mädchen für alles verdiente, erfuhr bald, dass die große Drachin der Luft in den südlichen Bergen ihr Quartier haben sollte. So hoch oben, dass man kaum mehr atmen konnte.
Die Seeleute fluchten ungehemmt auf die Drachin, die wohl öfter kleine Ausflüge in die Umgebung unternahm und durch ihren kräftigen Flügelschlag ganze Kornfelder platt drückte. Auch Schiffe waren schon gekentert, wenn sie nur vorbei zog. Es war immer ein Risiko, gen Süden zu segeln, aber bis jetzt hatte wohl noch keiner gewagt, die Drachin zu stellen. Wahrscheinlich hatte sie einfach niemand erreicht.
Wenn die Matrosen wieder einmal anfingen, auf alles zu schimpfen, was drachisch war oder auch nur den Hauch einer Schuppenhaut besaß, zog Kitiara stets ihre Kapuze tiefer in die Stirn und war insgeheim dankbar für ihren Umhang. Sie verhielt sich ruhig und unauffällig und vermied es, allzu viel zu sprechen, und das Wunder geschah: die Seeleute kümmerten sich gar nicht sehr um die vermeintliche Schiffbrüchige. Im ersten Hafen, den das Schiff schließlich anlief, ging Kitiara an Land.
Die Stadt, die zu dem Hafen gehörte, war anders als alle, die Kitiara je gesehen hatte. Die Häuser waren klein und einstöckig, weiß getüncht und mit Sonnensegeln aus bunten Tüchern versehen, unter denen viele Händler ihre Waren anboten. Es duftete nach Gewürzen und fremden Früchten, gebratenem Fleisch, nach den Ausdünstungen vieler Menschen, nach Duftölen und exotischen Pflanzen.
Und es herrschte ein heilloser Krach. Die Menschen redeten in einer Kitiara zuerst völlig unverständlichen Sprache aufeinander ein, erst nach und nach begann sie, sie zu verstehen. Drachen lernen fremde Sprachen sehr schnell und auch Kitiara hatte diese Eigenschaft geerbt. Nicht, dass es sie besonders erfreute, was sie hörte. Aus allen Ecken tönten Flüche, Gelächter, Geschrei, fremdartige Musik und das Brüllen von irgendwelchen Tieren. Kitiara sehnte sich weit weg. Sie drückte sich ängstlich durch die Gassen, immer besorgt, dass sie jemand als das erkennen könnte, was sie war, und ihr am Ende noch etwas antun würde. Bei diesen Menschen, die von der Luftdrachin offensichtlich nichts Gutes erfahren hatten, konnte man ja nie wissen.
Endlich hatte sie die Stadt hinter sich gelassen und befand sich auf einer staubiger Landstraße, die weiter in Richtung Süden führte. Gerne hätte sie sich in die Luft geschwungen, um schneller voran zu kommen, doch auf der Straße waren einfach zu viele Leute. Kitiara ging hinter einer Reihe seltsamer zweihöckriger Packtiere einher, die einen bestialischen Gestank verströmten. Die Hitze trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, so dass er in Bächen herunter rann, doch sie wagte nicht, ihn weg zu wischen, weil sie dann die Hände aus den schützenden Ärmeln hätte ziehen müssen. Die Menschen hier schienen sich nur durch Schreien zu verständigen, jedenfalls dröhnten Kitiara schon nach kurzer Zeit furchtbar die Ohren. Sie war unendlich froh, als sie einen kleinen, kaum begangenen Seitenpfad fand, der direkt auf ein einige Tagesreisen entfernt liegendes Gebirge zuführte, und auf dem sie dem immerwährenden Lärm und dem Gestank entfliehen konnte.
Nach drei weiteren Reisetagen hatte sie endlich eine Gegend erreicht, die so menschenleer war, dass sie ab dem nächsten Tag ihre Reise wohl wieder fliegend zurücklegen konnte. Völlig erschöpft ließ sie sich am Fuße eines verkrümmten, fremdartigen Baumes nieder, von dem sie auch ein paar kleine grüne Früchte pflückte, die seltsam sauer schmeckten, dann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Glücklicherweise war die Gegend um die südlichen Berge herum sehr einsam, und so kam Kitiara gut voran. Sie bemerkte, wie ihr Flug mit der Zeit kräftiger wurde. Offensichtlich hatte die lange Reise ihre Muskeln gestärkt. Außerdem war sie in letzter Zeit etwas gewachsen. Sie machte sich wenig Gedanken darum. Im Leben eines jeden Halbdrachen gab es eine Zeit, in der er mächtig wuchs und seine physischen und psychischen Talente sich besonders entwickelten. In dieser Zeit entschied es sich dann auch, ob er ein Halbdrache blieb, oder zu einem Drachen heranwuchs. Wahrscheinlich würde Kitiaras Zeit bald kommen.
Die Luft in den südlichen Bergen war zunächst angenehm kühl, doch je höher Kitiara sich hinauf schwang, desto kälter und dünner wurde sie, so kalt und dünn, dass sie sich ernsthaft fragte, wie lange ihre Schwingen sie noch tragen würden.
Das Fliegen wurde langsam wieder schwieriger, und die Nächte wurden so kalt, dass selbst ihr Wollumhang, der ihr jetzt zudem merklich kurz geworden war, sie nicht mehr richtig schützen konnte. Eines Morgens wachte sie auf und fand sich in frisch gefallenem Schnee wieder. Zitternd schüttelte sie den Schnee von ihrem Umhang und blickte von ihrem Standpunkt aus weiter zu den fernen Gipfeln hinauf. Ein Tag noch, entschied sie dann. Einen Tag würde sie es aushalten noch weiter höher zu fliegen, wenn sie dann die Drachin nicht gefunden hatte, musste sie wohl oder übel umkehren. Seufzend legte sie ihren Umhang zusammen und schwang sich wieder hinauf in die nebelhaften Wolken, die sie jetzt beinahe jeden Tag begleiteten.
An diesem Tag war es besonders kalt. Kitiara zitterte jetzt sogar während des Fliegens. Zudem gab es keine Anzeichen, dass hier tatsächlich Drachen lebten. Keine Höhlen, keine Silhouetten vor der Sonne, nur ewige Wolken und kalter Nebel. Schneekristalle wirbelten vor Kitiaras Augen, während sie immer höher aufstieg.
Schließlich jedoch brach die Dämmerung an und tauchte die Berge in ein seltsam anmutendes rötliches Licht. Von Drachen weiterhin keine Spur. Kitiara war am Ende ihrer Kräfte, sie fror und war sehr hungrig, denn sie hatte seit einigen Tagen nichts mehr Richtiges zu essen gefunden. Sie war nahe daran, umzukehren und nach Hause zu fliegen, als ein weißer Schatten über sie hinweg glitt, umdrehte, und mit wenigen eleganten Flügelschlägen zu ihr aufholte.
Kitiara, völlig aufs Fliegen konzentriert, geriet beinahe aus dem Gleichgewicht, als sie ihren neuen Begleiter sah. Es war ein ziemlich junger Halbdrache, aber sehr groß und schlank gewachsen. Seine Bewegungen sprachen von Gewandtheit und waren so anmutig und elegant, wie Kitiara es noch nie gesehen hatte. Sie selber kam sich dagegen richtig tölpelhaft vor.
Der junge Halbdrache umkreiste sie verspielt. Die kalte, dünne Luft schien ihm nichts auszumachen. "Hallo", sprach er sie auf drachisch an. "Ich soll dich zu meiner Mutter bringen, folgst du mir?" Kitiara brachte nur ein schwaches Nicken zustande, dann schloss sie sich dem jungen Drachen an, der sich elegant immer höher schraubte. Nach kurzem Flug landeten sie auf einem wolkenumgebenen Hochplateau, auf dem Kitiara in einigen Schritten Entfernung einen langen, schlanken weißen Körper mit weit aufgespannten, durchsichtig schimmernden Flügeln erkennen konnte. Der Halbdrache an ihrer Seite machte sich nicht die Mühe, sie vorzustellen, sondern ließ sich gleich wieder vom Plateau fallen, um davon zu segeln.
Mit kleinen, vorsichtigen Schritten näherte Kitiara sich der größeren Drachin. Ihre Flügel schienen aus geschliffenem Glas zu bestehen, das das schwache Sonnenlicht hier oben einfing und in allen Regenbogenfarben zurückwarf. Die Drachin bemerkte sie zunächst gar nicht, erst als Kitiara mit bebenden Lippen vor der Gestalt stand, hob sie den mächtigen Schädel und sah sie aus silbern flimmernden Augen an. Als sie zu sprechen begann, war ihre Stimme erstaunlich leise und ruhig.
"Drachenkind, was treibt dich in diese dir feindlichen Gefilde?"
Kitiara fasste angesichts der gütigen Stimme Mut, unterdrückte ihr Zittern, richtete sich gerade auf und antwortete. "Ich bin Kitiara, die Tochter des Wasserdrachen in dem Reich von König Rhesion. Er wurde getötet, bevor ich seine Magie lernen konnte. Ich wollte dich bitten, bei dir bleiben zu können, um deine Kunst zu erlernen."
Die Drachin sah sie lange aus ihren Silberaugen an, dann lachte sie leise, schüttelte den Kopf, so dass ihre Schuppen wie Glöckchen aneinander klingelten. "Kind, gerne würde ich dich hier behalten, aber du würdest nicht leben können wie Yashim und ich, in dieser kalten und dünnen Luft. Ich bin nicht sehr mächtig, und meine Kraft reicht gerade aus, um Yashim zu unterrichten. Auch habe ich noch nie davon gehört, dass ein Drachenkind von einem anderen Drachen als seinem Elternteil unterrichtet wird, ich fürchte, es ist mir unmöglich."
Als sie die Enttäuschung auf Kitiaras Gesicht sah, lächelte sie sanft. "Du kannst eine Nacht hier bleiben, und dich dann wieder auf die Suche machen. Ich glaube zwar nicht, dass die Elemente noch einen Drachen hervor gebracht haben, aber vielleicht hast du ja auch Glück und es gibt einen, der dich in Lehre nimmt. Auf jeden Fall solltest du nach Hause zurückkehren. Ein echter Drache bleibt dort, wo er hingehört!" Damit legte sie den Kopf auf ihre Tatzen und schloss die Silberaugen.
***
„Ich w..weiß sch…schon, worauf du hinaus w…willst. D…du wills m…mir sagen, dass ich einen Halbdrachen gefangen hab. Aber s..s..selbst wenn das so is, d…dann is das immer noch m…mein Halbdrache, ja? Ich hab ihn gekauft!“
Der Fremde ging nicht auf die Gauklerin ein. Ruhig erzählte er weiter.
***
Kitiara blieb über Nacht bei Yashim und seiner Mutter. Beide waren sehr freundlich, wenn auch von einer Art, die Kitiara unangenehm war. Beide waren der Ansicht, man sollte die alten Drachengesetze nicht durchbrechen und jeder solle das lernen, was ihm zustand. Sie konnten nicht verstehen, warum Kitiara unbedingt jemanden suchte, der sie in die Lehre nahm.
Am nächsten Morgen machte Kitiara sich wieder auf die Reise, wenn auch jetzt völlig ohne Ziel. Sie folgte einem Bergpfad Richtung Süden, segelte über einer Landstraße dahin, auf der Karawanen in Richtung Wüste zogen. Wenn sie müde wurde, schlief sie, wo sie eben war, und wenn sie hungrig war, kaufte sie sich in einer Stadt von dem spärlichen Geld, das ihr noch aus dem Hort ihres Vaters geblieben war, etwas zu essen.
Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte, und mit dem Verstreichen der Wochen wurde es ihr egal. Nach einiger Zeit erreichte sie eine große Wüste, über die sie hinwegzog, wie die Geier den Karawanenstraßen folgend. Nach der Wüste schloss sich ein großer Wald an, so riesig, wie sie noch nie einen gesehen hatte. Die Bäume ragten in den Himmel wie Berge und mehr als einmal nächtigte sie auf einem der Wipfel.
Mittlerweile war sie sehr müde geworden, zu müde beinahe, um irgendetwas zu tun, außer mit ihrer nun sinnlosen Reise fortzufahren. Für Essen nahm sie sich immer weniger Zeit, auch war es ihr egal, welche Richtung sie einschlug, ziellos kreiste sie oft lange Tage über dem großen heißen Wald, in dem es scheinbar überhaupt keine Menschen gab, bevor sie weiterzog nach Süden.
Fast sechs Monde waren verstrichen, seit sie die Luftdrachin verlassen hatte, und ihre Schwingen waren kräftiger geworden, ebenso wie die Muskeln an ihren Armen, sie maß nun auch bereits beinahe zwei Meter. Sie bemerkte es nicht. Während ihr Körper wuchs, vernachlässigte sie ihn immer mehr, bis sie fast keine Kraft mehr hatte, ihn jeden Morgen in die Luft zu schwingen.
Schließlich nahm der Wald ein Ende und sie erreichte wieder ein Meer.
Kitiara landete am Strand, erschöpft und hungrig, betrachtete die weite Wasserfläche und erkannte, dass sie nicht mehr weiter konnte. Ihre Kraft war am Ende, sie wusste nicht einmal, was sie eigentlich suchte, wohin sie wollte, sie konnte sich kaum noch erinnern, warum sie diese Reise überhaupt begonnen hatte. Sie setzte sich in den feuchten, warmen Sand, ließ sich das laue Wasser um die Füße spülen und dachte darüber nach, ob sie an diesem Strand sterben würde.
Ihre Suche nach stärkerer Magie war wohl gescheitert, und für eine Rückreise hatte sie auch keine Kraft mehr. Und überhaupt, was sollte sie als Halbdrachin in dem Land des Königs Rhesion. Eines Tages würde man beschließen, dass auch sie störend war, und Kiton würde kommen, sie zu töten. Nein, da war es wohl besser, hier an dem Meer zu sitzen und in Ruhe ihr Leben auszuhauchen. Da es hier niemanden gab, der sich vor ihrem Aussehen erschrecken konnte, legte sie die Kleider ab und watete langsam in das warme Wasser. Dann legte sie sich hin, ließ sich von den Wellen umspülen und es kam ihr in den Sinn, dass dies eine sehr schöne Art war zu sterben, zumindest für eine Wasserdrachin.
Sie musste wohl in dem Wiegen der Wellen eingeschlafen sein, jedenfalls fand sie später wieder zu sich. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, und noch weniger, wo sie sich befand. Verschwunden war das Meer mit seinem salzigen Geschmack, stattdessen fühlte sie unter sich ein Lager aus weichem Moos und Blättern, über sich eine flauschige Decke.
Als sie die Augen öffnete, fand sie sich von Holz umgeben. Wände, Decke und Boden des kleinen Raumes in dem sie sich befand waren wie natürlich gewachsen, ebenso wie die wenigen Einrichtungsgegenstände, der Kamin, der kleine Hocker, Truhe und Bett. Aus einem halbrunden Loch in der Wand fielen warme, grüngefärbte Sonnenstrahlen in den Raum, eine Art Tür war mit einem ebenfalls grünen Tuch verhängt.
Während sie noch dalag, wurde das Tuch zur Seite geschlagen und eine sehr zierliche Halbdrachin betrat den kleinen Raum. Außer einem schlichten, ärmellosen Hemd trug sie nichts am Leibe, und sie war wirklich sehr klein, beinahe nur halb so groß wie Kitiara, obwohl sie im selben Alter schien.
Scheinbar unbeeindruckt über die Tatsache, dass Kitiara wach war, ging sie in Richtung Kamin und legte dort ein Bündel ab, bevor sie zu dem Lager kam. Sie lächelte, fächelte nervös mit ihren kleinen Flügeln und setzte sich schließlich auf den Hocker, bevor sie Kitiara die Hand hinhielt.
"Ich bin Shindra."
Kitiara zögerte, erwiderte dann vorsichtig das Lächeln. "Ich bin Kitiara."
Shindra lächelte weiter, sagte aber nichts, allerdings war das auch nicht nötig. Kitiara drängte es plötzlich geradezu, ihre Geschichte loszuwerden. Sie hob an zu erzählen, wie sie hierher gekommen war, sprach und sprach, von der Reise, von den anderen Drachen, von ihrer Hoffnungslosigkeit.
Shindra hörte zu, ganz ruhig. Als Kitiara geendet hatte, begann sie ebenfalls zu sprechen.
"Du hast viel gesehen und eine Menge gelernt, aber du scheinst nicht zu wissen, wo du hingehörst. Du wirst nie mehr Magie lernen, als du jetzt kannst, zumindest nicht als Halbdrachin. Die Magie wird zu dir kommen, wenn sie das will, auch ohne Lehrer. Du bist unwissend, und doch bereit für den großen Schlaf, auch wenn du es nicht zu wissen scheinst und dein Körper nun schlecht vorbereitet ist."
Kitiara sah die Halbdrachin verständnislos an. Shindra seufzte leise, sprach dann weiter.
„Drachen müssen lernen, auf ihr Innerstes zu hören, sich nicht selbst zu verleugnen. Die wahre Magie wird den Drachen erst nach ihrer Verwandlung offenbar. Die Verwandlung, die aus uns erst Drachen macht. Wir brauchen die Menschen, um Nachkommen zu haben, und das Menschliche bleibt ein Leben lang in uns. Das ist es auch, was sich dagegen wehrt, ein echter Drache zu werden. Der Mensch in uns hat Angst vor dieser Verwandlung.“
„Und warum wollten die anderen Drachen mich nicht haben? Das hätten sie mir doch auch erklären können.“
Shindra seufzte. „Viele Drachen wissen selber nicht genau, was sie zu richtigen Drachen macht, und die Drachen der Elemente sind die ältesten, weisesten und trotzdem manchmal die dümmsten von allen. Die meisten wissen nicht einmal, dass wir zusammen gehören, wir Elementardrachen. Es gibt vier von uns, oder es sollte zumindest vier geben. Einen für jedes Element. Sie müssen immer rechtzeitig ihren Platz räumen, für ihre Nachkommen. Aber wenn die nicht zu Drachen werden, dann sind die Elemente im Ungleichgewicht und die Welt leidet.“
Sie seufzte. „Es hat lange nicht mehr vier Elementardrachen gegeben. Meine Mutter war auch nur eine Halbdrachin. Aber vielleicht ist unsere Zeit bald wieder gekommen. Denn wir beide, du und ich, sind bereit für den großen Schlaf. Aus dem werden wir dann als Drachen wieder erwachen. Wenn wir Drachen bleiben, dann wird es eine große Zeit für uns werden.“
Kitiara lauschte der ruhigen Stimme ihrer Gastgeberin, verwirrt, staunend. Ihr Vater hatte ihr nie von dergleichen Dingen erzählt. Gleichzeitig spürte sie, dass es die Wahrheit war. Und nach und nach keimte der Wunsch in ihr auf, ihre Verwandlung zu vollziehen. Als Shindra geendet hatte, lächelte Kitiara sie schüchtern an.
„Darf ich bleiben?“
Und Shindra nickte nur, wie selbstverständlich.
Sie verbrachte etwa einen Mond bei Shindra, lernte, sich geistig darauf vorzubereiten, ein Drache zu werden. Shindra erklärte ihr, dass viele Halbdrachen nach ihrem Erwachen zu verwirrt wären, um wirklich das Amt des Elementardrachen zu übernehmen. Wenn das passierte, wurde der Drache wieder zu einem Halbdrachen werden, und es fehlte der Vertreter dieses Elementes, bis er einen neuen Nachkommen hätte, der dann vielleicht erwählt war.
Am Ende des Mondes kam Kitiara von einem Streifzug durch den Wald zurück, der "Dschungel" genannt wurde, und fand Shindra auf ihrem Lager liegend, in dicke Decken gewickelt und in einen tiefen Schlaf versunken. Über die grünen Schuppen der Freundin spielte ein seltsamer goldener Schimmer und als Kitiara sie berühren wollte, zuckte ein kleiner goldener Blitz nach ihrer Hand, so dass sie sie hastig wieder zurückzog.
Seufzend blickte sie auf die schlafende Halbdrachin. Sie wünschte sich, ihre Zeit zum Schlafen wäre ebenfalls gekommen, aber sie fühlte sich kein bisschen müde. Allerdings hatte Shindra ihr erzählt, dass die große Müdigkeit einen ganz plötzlich überfiel und sie hatte Kitiara noch gebeten, sich doch draußen zur Ruhe zu legen, denn wenn Kitiara zu einem Drachen heranwachsen sollte, würde sie die kleine Behausung Shindras sprengen.
Shindra selber würde nicht sehr groß werden. Erddrachen blieben klein und zierlich und im Dschungel beweglich. Kitiara setzte seufzend Wasser auf, um sich eine Suppe zu kochen, aß dann am Bett der Freundin und begab sich draußen, unter den Wurzeln eines der großen Mammutbäume zur Ruhe. Kaum hatte sie ihre Decke über sich gebreitet, war sie auch schon tief eingeschlafen.
Als Kitiara erwachte, konnte sie sich nur noch daran erinnern, einen sehr seltsamen Traum gehabt zu haben, einen Traum vom Fliegen und einer weiteren weiten Reise, ein Traum, in dem sie seltsame Zauber erlernt hatte und in dem sie Kiton zur Rede gestellt hatte. Er hatte sich vor ihr gefürchtet, vor ihr, die doch so viel schwächer war als er.
Kitiara blieb eine Weile mit geschlossenen Augen liegen, um den Traum nicht gleich zu verlieren, doch schließlich entschloss sie sich, doch endlich aufzustehen. Sie war hungrig geworden.
Sie schlug die Augen auf und merkte, dass etwas nicht stimmte. Der Boden befand sich zu weit unten. Verwirrt schüttelte sie den Kopf und stieß dabei unsanft an einem Ast an. Sie wollte sich erheben, merkte aber, dass sie auf vier Füßen stand, mächtigen Füßen mit Klauen daran, zwischen denen sich Schwimmhäute spannten.
Sie wandte den Kopf, um sich zu betrachten. In der Morgensonne des Dschungels glänzte ein langer, blauschuppiger Körper, nicht so kräftig wie der des Feuerdrachen, nicht so schlank wie die Luftdrachin, aber doch stromlinienförmig und sehr beeindruckend, mit einem langen, seitlich etwas abgeflachten Schweif und großen, silbrig-blau marmorierten Schwingen.
Verwirrung überfiel Kitiara, weil sie sich das mit dem großen Schlaf und dem Erwachen doch etwas anders vorgestellt hatte, und sie wollte angesichts des so fremden Körpers, der sie beängstigte und der ihr so gar nicht auf gewohnte Weise gehorchen wollte, schon in Panik geraten, doch dann zwang sie sich zur Ruhe.
Das war das Wichtigste, hatte Shindra gesagt, Ruhe, wenn man erwacht war. Sie schloss nochmals die Augen und atmete mehrfach tief durch. Ganz ruhig, keine Angst, alles ist in Ordnung. Erstaunt stellte Kitiara fest, dass sie ihren Geist schneller unter Kontrolle bringen konnte, als früher. Rasch breitete sich angenehme Ruhe in ihrem gesamten Körper aus. Vorsichtig schlug sie ihre Augen wieder auf, erhob sie sich auf ihre Füße, probierte langsam die Bewegungen der Beine, der Flügel und des Schweifes. Nach und nach erlangte sie Kontrolle, bekam ein Gefühl für ihre neuen Gliedmaßen.
Kaum war sie so weit gekommen, rauschte es in den Wipfeln der Bäume und eine kleine gold-grün geschuppte Gestalt ließ sich vor ihr auf dem Boden nieder. Kitiara blickte nach unten. Shindra war so viel kleiner als sie, kaum adlergroß, sah aber deswegen nicht weniger beeindruckend aus. Kitiara hatte früher nie die Gefühle von Drachen erkennen können, nun meinte sie allerdings, Shindra lächeln zu sehen.
"Es ist ein schönes Gefühl, nicht wahr?", sprach die kleine Drachin in ihren Gedanken. Kitiara zuckte unruhig mit den Flügeln.
"Schön, ja, aber auch seltsam."
Shindra schwang ihren Schweif durch die Luft. "Du wirst dich daran gewöhnen." Und weg war sie, wieder zwischen den Wipfeln der Bäume verschwunden.
Es dauerte, bis Kitiara sich an ihre Gestalt gewöhnt hatte, aber es ging schneller als gedacht. Schon nach wenigen Tagen fühlte sie sich bereit, heim zu kehren.
"Ich muss zurück in mein Reich", sagte sie nicht ohne Bedauern zu Shindra. "Ich passe nicht in diesen Dschungel, ich knicke die Bäume, statt sie zu beugen, und zwei Drachen in derselben Gegend sind auch einfach zuviel."
Shindra widersprach nicht, aber sie wirkte traurig. "Wir werden uns wieder sehen", war ihr schlichter Abschied, als Kitiara von dem Strand am Meer abhob, um nach Norden zu ziehen.
Die Reise ging viel schneller vonstatten als auf dem Hinweg. Mit großen, ruhigen Flügelschlägen überquerte sie die Wüste, schraubte sich in die Berge hoch und genoss die kühle Luft. Jetzt war es überhaupt kein Problem mehr für sie, sich hier oben zu halten. Als sie in einiger Entfernung eine lange weiße Gestalt sah, änderte sie ihre Richtung und flog auf sie zu.
Die Luftdrachin hatte immer noch einen eleganteren Stil als sie selber, aber Kitiara bereitete es keine Mühe mehr, mit ihr mit zu halten. Sie umkreiste die Ältere beinahe spielerisch. Diese musterte sie zunächst etwas verwirrt, dann mit zunehmendem Erkennen.
"Drachenkind, du bist gewachsen, aber immer noch nicht dort, wo du hingehörst", war ihre Bemerkung. Kitiara warf ihr einen verwunderten Blick zu, drehte dann abrupt ab. Was wollte sie eigentlich von dieser traditionsverhafteten Drachin noch. Lernen? Das hatte sie von Shindra besser gekonnt.
In leichtem Segelflug verließ sie die Berge und zog über das Meer dahin. Die Insel des Feuerdrachen mied sie, nicht etwa aus Angst, sie hatte nur keine Lust, auch von ihm Predigten zu hören.
Ziemlich genau drei Jahre nachdem sie den Drachenrücken verlassen hatte, kehrte sie zu ihm zurück, setzte vor der Höhle ihre Vaters auf, schlug noch einige Male mit den Flügeln, so dass die Bäume der Umgegend sich beugten, stieß einen lauten, drachischen Brüller aus, damit auch die Tiere wussten, dass ein Drache zurück war in seinem Revier, und legte sich dann zu einem tiefen Drachenschlaf.
Am nächsten Morgen brach sie auf, zur Burg von König Rhesion, denn die Vögel hatten ihr berichtet, dass an diesem Tag die Hochzeitsfeierlichkeiten für ihren Bruder Kiton und die kleine Avara beginnen sollten, die genau in der Mitte der Nacht vermählt worden waren.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, doch das meiste Volk hatte sich bereits auf dem großen Platz vor dem Schloss versammelt, wo ein Jahrmarkt und ein großes Turnier stattfinden sollten, gefolgt von einem Festmahl für alle. Die königliche Familie, angeführt von dem Brautpaar war bereits auf ihren Ehrenbalkon gestiegen, die Prinzessin in langem, weißen Kleid, die Wangen angenehm gerötet, ein goldenes Krönchen auf dem Kopf und Kiton in weißer, goldbeschlagener Rüstung mit einem wallenden goldenen Umhang, auf dem die Stickerei eines blauen Drachen prangte.
Die Menge hob an zu jubeln, als ein Rauschen in der Luft sie unterbrach. Ein Drache zog über den Platz hinweg, ein blauer Drache, zierlicher und kleiner vielleicht als der letzte, aber dennoch kräftig und sehr eindrucksvoll.
Die Menge verstummte, einige flohen in ihre Häuser, die Königsfamilie duckte sich hinter ihrer Balkonbrüstung zusammen. Dreimal zog der Drache seine Runde über dem Platz, dann visierte er das goldene Dächlein vor dem Ehrenbalkon an, landete und faltete elegant seine Schwingen zusammen.
Allein der König und Kiton wagten es, über die Brüstung zu spähen. Der Drache schien zu lächeln.
"Ich bin gekommen, um allen zu verkünden, dass es wieder vier Elementwächter auf den Kontinenten gibt", sagte er, nicht laut, aber jeder vernahm seine Worte. Besser noch: ihre Worte, denn die Stimme klang weiblich. "Die Drachen haben nun wieder ihren Platz unter den lebenden Wesen, und ich wollte Euch nur warnen: wenn einer der unsrigen verletzt wird, wird das die Elemente sicher sehr aufbringen."
Der Drache fächelte mit den Flügeln, um sein Gleichgewicht zu halten, der entstehende Wind fegte Kiton von den Füßen, auf die er sich gerade erhoben hatte. Der Drache lächelte wieder.
"Verzeih Bruder!"
Kiton rappelte sich auf, starrte die Drachin verblüfft an.
"Kitiara?"
Der Drache lachte leise. "Ja, mein Bruder, ich bin auch gekommen, um dir viel Glück zu deiner Hochzeit zu wünschen, und um mich zu versichern, dass die gute Beziehung zwischen dem Königshaus und uns erhalten bleibt." Aus ihrer Stimme klang beißender Spott. Mit einer ihrer Krallen griff sie nach vorne und zog Kiton seinen Umhang vom Hals.
"Verzeih, Bruder, aber ich finde es nicht recht, dass du dich mit dem Andenken an meinen Vater schmückst, erlaube mir, es mitzunehmen!" Mit diesen Worten schwang sie sich in die Luft, kreiste noch einmal über dem Platz und zog dann unbeirrt nach Westen, in den Drachenrücken.
***
Der Kopf der Gauklerin war auf den Tisch gesunken und sie schnarchte laut vor sich hin. Unter seinem Umhang lächelte Shindras Sohn leicht. Niemand sollte Alkohol trinken, wenn ein Erddrache anwesen war, selbst, wenn es nur ein halber Erddrache war. Es war so einfach, die Wirkung von Nahrungsmitteln zu verstärken.
Leise erhob er sich, griff nach dem Schlüsselbund an dem Gürtel der Gauklerin und löste den Käfigschlüssel davon. Dann legte er dem Wirt einige Goldmünzen auf den Tisch und verließ geräuschlos den Gasthof.
Es war Zeit, Kitiaras Sohn zu retten.