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Drei Monde
Zunächst dachte Jack, dass es Schlimmeres gäbe, als mit dem Schiff runtergehen zu müssen. Sicher wussten Mona und Stevie so gut wie er, dass ein Großteil der Planeten um sie herum bereits kolonisiert war. Ihr vom Zoll zerschossener Kahn würde einfach anlegen und dann würden sie auf einen der Transporte warten, die in regelmäßigen Abständen neue interstellare Pioniere und Glücksritter an ihr Ziel brachten. Diese Schiffe waren meist schlecht gesichert, ein oder zwei bescheiden ausgebildete Ranger bewachten sie für gewöhnlich mit einem ihrem Sold entsprechenden Enthusiasmus. Es wäre ein leichtes, einen solchen Transporter zu kapern und ihn somit gegen die keifende, rauchende, momentan mit Sirenengeheul abstürzende GEfiX 3 einzutauschen, für die diese Verfolgungsjagd wohl die letzte Reise gewesen war.
Schlimm allerdings war, dass die Zollschiffe ihnen nicht folgten. Jack wusste, was das bedeutete, und er sah in Stevies und Monas Augen, dass sie es auch wussten. Der Planet war unbewohnt. Die Instrumente zeigten an, dass sie in seiner Atmosphäre würden atmen können. Aber wenn ein Planet von dieser Größe und in diesem bevölkerungsdichten Teil des Universums nicht bewohnt war, musste das bedeuten, dass irgendetwas damit nicht stimmte. Jack musste an einen Artikel denken, den er auf cnnspace.worldcom gelesen hatte. Darin hatte etwas von einem Forscherteam gestanden, das auf einem Planeten verschwunden war, dessen Kolonisierbarkeit es hatte überprüfen sollen. Ein zweites Forscherteam hatte dann herausgefunden, dass der Planet von innen quasi hohl war, durchzogen von einem Tunnelsystem, gegraben von Lebewesen, die man vielleicht mit den Ameisen auf der Erde vergleichen könnte. Vom ersten Forscherteam fanden sie nur das Equipment und einen Stiefel, in dem ein mumifizierter Fuß steckte.
„O.K.!“, rief Jack und zog dabei seine Gurte straffer. Er schrie gegen die Sirene, das Fiepen kaputter Instrumente und den zischend austretenden Dampf zerschossener Kühlgeräte an. „Ich schätze, bei spätestens fünf sind wir unten, also haltet euch schön fest, Kinder! Eins ...“
„FÜNF!“, schrie Mona. Jack spürte etwas gegen seinen Kopf krachen. Dann färbte die Welt sich schwarz.
„Du hast geblutet“, sagte Stevie. Jack öffnete die Augen. In die Wimpern des linken schien ihm jemand Honig geträufelt zu haben.
„Es ist getrocknet“, fuhr Stevie fort. „Du solltest es auswaschen. Bedien dich ruhig an den Flaschen in den Vorräten. An Wassermangel werden wir hier nicht sterben.“
Jack brauchte sich nicht umsehen, um zu verstehen, was Stevie meinte. Er hörte das Rauschen eines Wasserfalls in der Nähe. Sie waren umgeben von grün. Jack erinnerte es an Bilder von Irland. Irland früher, bevor die Welt von schmutzig grauem Industrienebel eingesponnen worden war wie eine Fliege von einer Spinne.
„Wo ist Mona?“, fragte Jack.
„Keine Sorge“, sagte Stevie. „Sie ist auch unverletzt. Sie wollte runter zu dem Fluss, sich waschen oder so. Irgendeine Frauen-Übersprungshandlung, mit der sie ihre Wut auf dich abreagieren muss. Sie wollte dir nicht wehtun. Sie hatte Mitleid mit dir, wie du da bewusstlos im Stuhl gehangen hast. Aber sie ist auch wütend auf dich, Jack. Verdammt wütend.“
Jack stand auf und stellte fest, dass sein Kopf nicht nur wehtat, sondern auch schwerer geworden zu sein schien. Er folgte mit Zeige- und Mittelfinger der Spur des geronnenen Blutes, die ihn zu der Stelle an seinem Hinterkopf führte, wo ...
„Was hat mich ausgeknockt?“, fragte er Stevie.
„Der Koffer mit der Waffe. Eigentlich soll man ja bei Start und Landung alles festmachen …“
„Entschuldige, ich musste etwas überraschend landen, nachdem wir zum dritten Mal getroffen worden waren. Das verstehst du doch, oder?“
Stevie musterte Jack. „Mona denkt, dass wir hier sind, weil du zu gierig und zu leichtsinnig warst und deshalb den Zoll auf unsere Fersen gelotst hast.“
„Und was denkst du?“
Stevie konnte Jacks Blick nicht standhalten.
„Toll! Jetzt ist es meine Schuld, dass wir …“
Monas Schrei drang aus einiger Entfernung zu ihnen. Stevie fuhr herum und sah zum Flussbett, das sich weit unterhalb ihrer Bruchstelle durch das Grün schlängelte.
„Ich kann sie nicht sehen!“, rief er Jack zu. „Komm, wir …“
„Warte kurz.“ Jack ging ins Schiff, in dem es nach verbranntem Plastik roch. Auf dem Boden der Kabine fand er den kleinen Metallkoffer, der ihm nach dem Absturz eine kurze Auszeit beschert hatte. Er nahm die Waffe heraus und genoss kurz ihr beruhigendes Gewicht in der Hand. Draußen hörte er einen weiteren Schrei. Dann Stevie: „Jack!“
„Ich komme“, sagte Jack, so leise, dass Stevie es unmöglich gehört haben konnte.
Die zwei Männer, die bei Mona waren, wirkten erschrockener als sie selbst. Dennoch ging Jack kein Risiko ein und richtete die Waffe auf sie. Sie warfen die Arme in die Höhe, die in den Ärmeln zerlumpter Hemden steckten. Fast wären sie auf die Knie gefallen, die in Hosen gehüllt waren, die diesen Name kaum noch verdienten.
„Was ist hier los?“, fragte Jack. „Seid ihr Siedler?“
„Wen interessiert das?“, fragte Stevie, während er schützend den Arm um Mona legte. Es musste wehtun, dass sie ihm mit ihrem Blick zu Jack deutlich zu verstehen gab, dass sie lieber ihn an ihren Schultern gespürt hätte. Stevie schrie: „Knall sie ab! Wer weiß, was sie ihr antun wollten!“
„Eben“, sagte Jack mit der abschätzigen Stimme, mit der er gemeinhin auf Stevies hysterische Anfälle reagierte. „Willst du, dass ich sie pro forma erschieße? Ich habe noch nie jemanden getötet, der es nicht verdient hat. Bis jetzt wissen wir nur, dass sie vor uns stehen und glotzen wie die Kaninchen vor der Schlange. Wie gefährlich können …“
„Sie haben mich nur erschreckt“, sagte Mona, deren Pulsfrequenz jetzt deutlich unter der von Stevie zu liegen schien. „Ich denke nicht, dass sie mir was tun wollten.“
„Was habt ihr eigentlich dazu zu sagen?“, fragte Jack. „Könnt ihr reden? Was tut ihr hier? Seid ihr auch abgestürzt?“
Einer der beiden setzte gerade an, etwas zu sagen, als der andere, älter, größer, dicker und kahler, ihm väterlich die Hand auf die Brust legte und selbst zu sprechen begann. „Wir sind … Siedler?“
Jack zuckte mit den Schultern. „Ist das ’ne Frage oder ’ne Aussage? Wenn ihr Siedler seid und der Planet bewohnt ist, warum haben uns dann die vom Zoll nicht hier runter verfolgt?“
Jetzt zuckte der Alte mit den Schultern. „Keine Zeit? Keine Lust? Kann ich hellsehen?“
„Hey!“, sagte Stevie und zeigte mit dem Finger ermahnend auf den Alten.
„Schon gut“, sagte Jack. „Wir wollen keinen Ärger und ihr vermutlich auch nicht. Unser Schiff ist abgeschmiert. Könnt ihr uns helfen?“
„Wir haben Männer und Frauen im Dorf, die sich mit solcher Technik auskennen. Aber wenn ihr Ersatzteile braucht, habt ihr leider Pech.“
Jack spürte die Ablehnung des Jüngeren und dessen neidischen Blick auf die Waffe.
„Bring uns erst mal zu diesen Männern und Frauen“, sagte Jack. „Dann sehen wir weiter.“
Auf dem Weg ins Dorf stellte sich der ältere Mann als Rufus vor. Auch Jack, Stevie und Mona nannten ihren Begleitern ihre Namen. Der junge Mann blieb störrisch und reagierte mit ungeduldigem, belästigtem Grunzen, als Rufus den Namen seines Begleiters verriet: Eric. Als die fünf das Dorf, von dem Rufus gesprochen hatte, schließlich erreichten, glaubte Jack zunächst an einen Scherz. Er sah keinerlei Technik, keine Androiden, nichts Digitales, aber auch keine Maschinen mit Verbrennungsmotor, wie sie seit Jahrzehnten von den Konglomeraten verboten waren und die sich doch immer wieder auf gerade erst besiedelten Planeten finden ließen. Dort, wo sich noch keine Ordnung etabliert hatte, die für das Durchsetzen von Regeln essentiell war. Was Jack sah, waren Hütten, Lumpen, Werkzeuge aus Holz und Tiere, die in Aussehen und Gestank dem Erdenschwein nicht unähnlich waren. Jack, Stevie und Mona blieben stehen.
„Was ist?“, fragte Rufus.
„Was seid ihr?“, fragte Jack zurück. „Sträflinge? Eine Seuchenkolonie?“ Er führte seinen Jackenärmel an seine Nase. Mona und Stevie folgten seinem Beispiel. „Habt ihr Tripps 48?“
Rufus lachte. „Nein, weder noch. Ihr könnt frei durchatmen und unter Schwerverbrechern befindet ihr euch auch nicht.“
Jack ließ nicht locker. „Warum lebt ihr dann hier, wie ihr lebt?“
Rufus machte ein neugieriges Gesicht, in Erics sah Jack für einen Moment ein Lächeln aufblitzen, das ihn seine Waffe fester umklammern ließ. Um ihre Fünfergruppe hatten sich Dorfbewohner versammelt, die sie neugierig und teils etwas irre anstarrten.
„Trinken wir zusammen was“, sagte Rufus freundschaftlich.
„Und unser Schiff? Eure Experten?“, fragte Mona. Rufus lächelte sie an.
„Erst trinken“, sagte er. „Dann sollen die Experten zu Wort kommen.“
Keiner der drei Schmuggler rührte den Trunk an, den jeder von Ihnen in einem hölzernen Becher serviert bekam. Die Farbe des Getränks war rot, die Konsistenz mit einigen dicken Stückchen im Flüssigen eher die einer Suppe. Das Rot wurde langsam zu Schwarz, als es draußen dunkel wurde und die Augen zunehmend auf das schwache Kerzenlicht in der Hütte angewiesen waren.
„Gibt Kraft“, sagte Rufus und sah seine Gäste ehrlich besorgt an. „Trinkt.“
„Danke“, sagte Jack. „Danke, aber ich denke, wir wollen nur so schnell wie möglich fort von hier.“
„Das wollen wir alle“, sagte Rufus nachdenklich und setzte seinen Becher an.
„Also seid ihr doch Sträflinge“, sagte Mona. Die Gewissheit, Rufus bei einer Lüge ertappt zu haben, schwang überdeutlich in ihrer Stimme mit.
„Ruhig, Baby“, flüsterte Stevie.
„Ich bin nicht dein Baby, nie gewesen, schnall das endlich!“
Jack konnte nicht verhindern, dass für einen kurzen Augenblick ein Lächeln voller Genugtuung über sein Gesicht huschte wie ein Schatten. Er bemerkte, dass Stevie es gesehen hatte.
„Scheiß auf dich, Mona“, zischte Stevie. „Scheiß auf dich Jack. Und auf euch Hinterwäldler ist auch geschissen. Ich will von diesem Planeten runter, jetzt!“
„Beruhig dich“, sagte Jack. „Sie werden uns ja helfen.“
„Oh, nein“, unterbrach Rufus in freundlichem Plauderton. „Das können wir nicht und das werden wir nicht.“
„Was soll das heißen?“, fragte Jack. Seine Finger glitten über die Waffe, die er sich in die Hose gesteckt hatte.
„Ihr seid unsere erste Gelegenheit zu jagen seit vielen Jahren. Selbst wenn wir also über die technischen Mittel verfügen würden, euch zu helfen, würden wir es nicht tun.“
„Wir sollen euch beim Jagen helfen?“, fragte Stevie.
Eric und Rufus lachten. Auch draußen vor der Hütte ließ Gelächter diverse neugierige Augen und Ohren vermuten. Mona sah sich verängstigt um. Jack nahm den Blick nicht eine Sekunde von Rufus.
„Nein, Stevie“, sagte er. „Wir sollen gejagt werden.“ Rufus nickte Jack zu wie ein zufriedener Lehrer einem fleißigen Schüler.
„Was ich daran nicht verstehe“, sagte Jack, zog seine Waffe und stand vom Tisch auf. “Wie zum Teufel habt ihr euch das vorgestellt?“ Er schoss Eric so beiläufig ins Knie als würde er eine Zigarette anzünden, eine Kaltblütigkeit, die ihn zum Anführer des Schmugglertrios gemacht hatte. Eric schrie und presste seine schmutzigen Hände auf die Wunde. „AaaaaaaahhhArschlooooch!“
„Reiß dich zusammen!“, schrie Rufus. „Der Mond ist gleich voll.“
„Was?“, fragte Jack.
„Der Mond, Jack“, erwiderte Rufus. Jetzt lächelte er wieder und sprach zu Jack, als würden sie bei einer Tasse Tee in einem Café sitzen. „Einer von drei Monden dieses Planeten. Fast sechsmal im Monat haben wir hier einen vollen Mond.“
Jack zog ein verständnisloses Gesicht.
„Darum sind wir hier, Jack. Darum hat das Konglomerat uns hergeschickt. Darum hält man uns fern von jeder Technologie, damit wir diesen Planeten nicht mehr verlassen können. Alle paar Tage kommt ein Transporter mit neuen Gefangenen. Sie töten uns nicht. Vermutlich, weil wir Potential für eine biologische Waffe bieten.“
Rufus’ Stimme hatte angefangen, sich zu verändern. Er klang wie ein Hund, der sprechen gelernt hatte.
„Ich will hier raus, Jack“, sagte Mona. „Jetzt!“
„Ich will hier raus, Jack“, äffte Eric den verängstigten Unterton in Monas Stimme nach. Er hatte sich auf die Beine gerafft und hinkte deutlich zu der Seite, auf der Jack ihn ins Knie geschossen hatte. Mona schrie und Stevie entfuhr ein herzhaftes „Scheiße!“, als sie Erics Gesicht sahen. Was er gesagt hatte, hatte undeutlich geklungen, weil er den Mund voll hatte. Voller Zähne. Sein Gesicht hatte sich verdunkelt als hätte er schwere Verbrennungen erlitten. Rufus Beine brachen mit einem lauten Knacken unter ihm weg. Etwas in ihnen bewegte sich und schien die Knochen neu zu arrangieren.
Jacks Gesicht konnte man die Panik nicht ansehen, die sein Herz rasen ließ. Er schoss Rufus in die Brust.
„Zu spät, Jack“, grinste Rufus, wobei seine Mundwinkel aufrissen bis zu den Ohren. „Viel zu spät. Ihr solltet jetzt laufen.“
Stevie folgte der Aufforderung umgehend. Er riss die Tür der Hütte auf, machte einen Schritt nach draußen und wurde sogleich von etwas, das Jack und Mona nicht sehen konnten, aus ihrem Blickfeld gerissen.
Stevie schrie. Dann spritze eine Blutfontäne in den Türrahmen, und das Schreien hörte auf.
„Durchs Fenster!“, schrie Jack und griff Mona an der Schulter ihres Hemdes. Er schubste sie nach draußen. Eine wenig heldenhafte Geste auf den ersten Blick, aber mochten sie da draußen auf sie warten, auch hier drin war die Verwandlung von Eric und Rufus fast abgeschlossen. Jack konnte sehen, wie Eric, dessen menschliche Züge noch nicht vollständig unter Fell, Krallen und Zähnen verschwunden waren, die Wunde am Knie leckte. Rufus stellte sich nun auf alle Viere und schien Kräfte zu sammeln. Jack sprang durchs Fenster, Mona hinterher.
Trotz der Dunkelheit hatten sie durch den Wald, das Moor und über die Wiesen zurück zu ihrer Absturzstelle gefunden. Jacks Orientierungssinn war legendär.
Mona erbrach sich vor Anstrengung. Überall um sich herum hatten sie Pfotengetrappel und Heulen gehört, mal so weit weg, dass es im Dorf weit hinter ihnen sein mochte, mal so nahe, dass Jack panisch um sich geschossen hatte. Tatsächlich war auf einen dieser Schüsse ein wütendes Winseln gefolgt.
Das künstliche Licht des Schiffes beleuchtete einen Radius von circa fünfzig Metern um sie herum. An den Peripherien dessen, was sie sehen konnten, begann etwas, sich zu bewegen.
„Oh mein Gott“, flüsterte Mona. „Was sollen wir denn jetzt tun?“
Die Bewohner des Planeten traten aus der Dunkelheit ins Licht, pirschten sich langsam an Jack und Mona heran, so als verstünden sie, Bestien oder nicht, dass ihre Beute ihnen nicht mehr entkommen konnte. Jack schätze ihre Zahl auf sechzig. Er umarmte Mona von hinten. Sie küsste seinen Unterarm. Er presste den Lauf der Waffe gegen ihre Schläfe.
„Ich liebe dich, Jack“, sagte sie.
„Ich liebe dich auch, Mona.“
Dann schoss er das erste Mal.