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Drei, zwei oder zwei

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15.04.2002
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Drei, zwei oder zwei

Drei, zwei oder zwei oder Tropfen aus Zukunft

Gestern ist Arturs Haus explodiert. Er war beim Musical, nicht zuhause. Mama sagt, das sei ein Zeichen. Sie sagt ständig solche Dinge.
»Kann ich eine Weile bei dir wohnen?«, fragt Artur am nächsten Morgen im Büro. Seine Hände zittern, er ist bleich und trinkt viel zuviel Kaffee.
Nein, denke ich und sage: »Ja sicher.« Er ist weit über 50, kahl, Vollbart, könnte mein Vater sein.
Ich überlege, wie ich das Mama erklären soll.
»Muss nochmal bei der Polizei anrufen«, murmelt Artur, nimmt den Hörer in die Hand und wählt.
Mein Telefon klingelt. Ich gehe ran, aber ehe ich mich melden kann, ist da eine Frauenstimme. »... ist so schwer. Ich weiß einfach nicht, was ich will.«
Bevor ich etwas erwidern kann, eine Männerstimme. »Ich schon. Dich.«
Artur schaut verwirrt sein Telefon an. »Es tutet nur«, staunt er.
Ich halte die Hand auf die Muschel. Irgendwie bin ich versehentlich in dieses Gespräch geschaltet worden, als Artur die Polizei anrufen wollte.
»Ich weiß«, sagt die Frau leise. Der Mann scheint zu seufzen. Ich lege schnell auf.
Nach Feierabend fahren Artur und ich mit der Straßenbahn nach Hause. Ich starre durchs Fenster auf die Autos, die draußen durch die Nässe pflügen. Mir ist schlecht. Millimeterflüsse strömen schräg nach unten. Wie damals, als ich Viki das letzte Mal gesehen habe.
An meiner Haltestelle treten wir hinaus in den Nieselregen. Ein dicker Mann spannt den Regenschirm auf, obwohl die Nässe nicht von oben, sondern von allen Seiten kommt. Überall sind Pfützen, platsch. Ich überlege, warum ich deprimiert bin.

»Immer wenn seltsame Dinge geschehen, geschehen auch andere seltsame Dinge, wissen Sie«, sagt Mama fröhlich, während sie Artur mit frischer Bettwäsche ins Gästezimmer führt. Früher hat sie selbst hier geschlafen, wenn Vater einen seiner Anfälle hatte.
Artur sagt, er sei sehr müde, gute Nacht.
Auf Socken gehe ich hinauf in mein Zimmer. Warum bin ich deprimiert? Was macht Viki in meinem Kopf? Das liegt achtzehn Jahre zurück. Nein, halt ... neunzehn. Neunzehn Jahre.
Ich lege eine neunzehn Jahre alte Single auf: Eldorado. Die Band singt von Seen aus Tränen und Blut. Viki war damals mit Mattes zusammen. Ich zog es vor, mich nicht in sie zu verlieben. Sie blieb bei ihm. Hab sie seitdem kaum gesehen. Zweimal auf Ronalds Geburtstag, glaube ich.
Der alte Plattenspieler klickt. Der Arm hebt sich, fährt zurück in seine Halterung und beendet meine Zeitreise. Die Scheibe stoppt. Ich ziehe mich aus, klettere unter die Decke.

Mein Telefon schrillt mich aus dem Schlaf. Ich blinzle zur Digitaluhr: 3 Uhr 30. Unkoordiniert grabsche ich nach dem Hörer. Bevor ich Hallo sagen kann, höre ich eine Männerstimme. »... weiß ich doch, dass da der andere ist.«
Ich halte die Luft an. Es ist die Stimme, die ich schon im Büro in der Leitung hatte.
»Ich will dir nicht wehtun«, höre ich die Frauenstimme.
Was geht hier vor? Was für eine Fehlschaltung ist das, die mich nicht nur im Büro, sondern auch zuhause erwischt?
»Dann hör damit auf«, sagt der Mann.
Eine Pause entsteht. Ich will auflegen, aber mein Arm bewegt sich nicht. »Ich weiß nicht, ob ich kann«, sagt die Frau. Diese Stimme ...
Millimeter für Millimeter nehme ich den Hörer vom Ohr. Die männliche Stimme ist nur noch ein helles Flüstern: »Er oder ich.«
Endlich liegt der Hörer auf der Gabel. Ich stoße die angehaltene Luft aus. Meine Hand ist feucht. Mir ist kalt. Ich rutsche wieder unter die Decke, aber ich finde keinen Schlaf. Meine Gedanken irren durch ein Labyrinth. Rückwärts in der Zeit. Rasant, sinnlos, schmerzend. Viki. Ich sehe ihr Gesicht vor mir. Ihr Lächeln. Kneife die Augen fest zu, aber es bleibt da. Wie diese Stimme in meinem Ohr.

Ich sitze im Büro. Kann mich nicht konzentrieren. Artur ist in der Stadt, ich sitze alleine in dem kleinen Zimmer am Schreibtisch. Trinke zuviel Kaffee, drehe die Heizung höher. Im Lokalteil der Zeitung steht, dass es keine Gasexplosion war. Sprengstoffexperten untersuchen die abgesperrte Ruine, stehen vor einem Rätsel.
Arturs Telefon klingelt. Routinemäßig greife ich hinüber zu seinem Tisch. Zögere plötzlich. Lasse es nochmal klingeln. Und noch einmal. Dann nehme ich langsam ab, halte die Sprechmuschel zu.
»Wenn du nicht mehr da wärst ...«, sagt die Frau.
Draußen sehe ich Spaziergänger. Sie haben Hunde dabei, die an dem mickrigen Baum schnüffeln, der einsam neben dem Weg steht. Ich würde gerne schreien: »Hört auf damit.«
»Das Loch wäre ... zu groß«, fährt die Frauenstimme fort.
Ich höre den Mann aufatmen.
»Sag, dass du bei mir bleibst«, flüstert er.
Die Antwort darauf kenne ich.
»Ich bleibe bei dir«, sagt sie, »ich liebe dich.«
Viki hätte Mattes damals nicht wegen mir verlassen. Sicher nicht. Ganz sicher nicht.
Ich habe genug gehört. Lasse den Hörer sinken. Auf die Gabel.
WUMM!
Scheiben splittern. Meine Ohren sind taub. Ich liege auf dem Boden. Kann nicht aufstehen.

Artur spielt mit Mama Karten. Als ich gute Nacht sage, zwinkert sie mir zu. Vater hat nie mit Mama gespielt. Hatte immer wichtigeres zu tun, meistens nichts. Wenn seltsame Dinge geschehen, kann man nichts dagegen tun, sagt Mama immer.
Ich durchsuche meine Plattensammlung, wähle eine alte Scheibe von Abba: The Winner takes it all. Ich lege die Single auf. Der Plattenspieler klickt, die Nadel setzt auf. Knack.
Mit einem Glas Wasser in der Hand stehe ich am Fenster. Sehe hinaus. Keine Autos, es ist schon spät. Tropfen sprenkeln die Scheibe. Fließen hinab. Unaufhaltsam. Wie Sekunden, Minuten. Jahre. Neunzehn Jahre.
Der Song ist zuende. Ich sehe zum Telefon hinüber. Es klingelt. Diesmal lasse ich es dreimal schrillen, bevor ich hingehe und abhebe.
Ich höre nur Rauschen. Dann sage ich: »Hallo.«
»Ich bins, Viki«, sagt die Frauenstimme. Mir wird heiß und kalt. Wieder diese falsche Schaltung, und diesmal habe ich reingesprochen. Ich kneife den Mund zu. Stille.
»Bist du noch dran?«, fragt Viki. Ja, das ist ihre Stimme. Das Gespräch ist echt. Es ist jetzt, nicht aus den Tiefen der Vergangenheit zurückgekehrt.
»Ja«, sage ich, »ich wollte gerade, ich meine ...« Mir fällt nichts ein.
»Ja ...«
Zukunft tropft an mir vorbei, und ich versuche, etwas davon aufzufangen.
»Schön, mal wieder von dir zu hören«, sage ich schnell.
Viki lacht. »Ich würde dich gerne mal wieder sehen.«
»Das ist ... schön.«
»Wir könnten uns unterhalten.«
»Ja.« Meine Hand ist feucht. »Ja, gerne.«
Mama sagt immer, eigentlich passieren ununterbrochen seltsame Dinge.

- für die Zukunft -

 

Hallo Uwe,

jetzt habe ich die Geschichte schon zum dritten oder zweiten Mal gelesen, aber mir fehlt immer noch der Zugang, der Schlüssel. Es ist eine wirklich gut geschriebene Geschichte, aber sie ist so... Seltsam. Wie eine Geschichte in einer fremden Sprache, die man zwar versteht, aber doch nicht so wie die eigene Sprache. Verstehst Du, was ich meine? Ich glaube, mir fehlt der Übersetzer. Das fängt schon bei dem Titel an. Drei, zwei oder zwei. Seltsam. Was willst Du damit sagen? Ich versuche eine Verbindung zwischen Titel und Geschichte herzustellen, es gelingt mir nicht.

Was rüberkommt, ist das Gefühl von Einsamkeit, wobei ich den Prot nicht so richtig greifen kann. Da passt mir zu vieles nicht zusammen. Ein Mensch, der einerseits sich selbst so gut reflektiert, der permanent über seinen Ist-Zustand nachdenkt und anderseits als erwachsener Mensch noch bei seiner Mutter wohnt und von ihr als "Mama" spricht. Das wirkt kindlich und passt nicht zu dem restlichen Bild, das ich mir von Deinem Prot mache.

Dass Du die Rätsel nicht auflöst, stört mich nicht, auch wenn mich als Leser natürlich schon interessieren würde, was es mit der Explosion auf sich hatte, wie die Fehlschaltungen zustande kamen und so weiter.

Du siehst, Deine Geschichte regt zum Nachdenken an, auch wenn ich sie (noch) nicht verstehe.

Kleiner Tippfehler noch:

Ich lege neunzehn Jahre alte Single auf
Ich lege eine neunzehn Jahre alte Single auf


Gruß
George

 

Danke für Deine Bemerkungen, George.
In der Tat habe ich (allerdings absichtlich) einen Kardinalfehler bei KGs gemacht, nämlich die Hauptfigur komplex und widersprüchlich gezeichnet, statt nur den wichtigsten Charakterzug herauszustellen.

Der Titel ist nicht sehr glücklich, denk nicht weiter drüber nach. Ich grüble noch nach einem besseren.

Zu verstehen gibt es übrigens nicht viel. Es gibt keine abstrakte Erzählebene, sondern nur seltsame Dinge, die in Zusammenhang zu stehen scheinen. Zur Info: Diese Geschichte habe ich zu der Themenvorgabe "Unerklärliches" geschrieben (obwohl die Sache mit den Telefonschaltungen schon lange in meinem Kopf schwebte).

 

Hi Uwe!

Auch ich bin sicher noch nicht zur innersten Eben hindurchgedrungen. Aber ich muß sagen, es hat mir gut gefallen. Der Text schafft Atmosphäre. Und ich kann den Prot irgendwie gut verstehen.

Drei zwei oder zwei: Drei Menschen: er, Vicki und Matthes. Er und die beiden Menschen in der Leitung, er, Artur und seine Mutter. Er, seine Mutter und sein Vater. Immer Dreierkonstellationen.
Zwei: eigentlich steckt in jeder 3-erkombinationen ein Paar:
Vater und Mutter. Aber übrig bleiben er und seine Mutter
Vicki und Matthes
Aber jetzt Vicki und er.
Er und seine Mutter. Aber jetzt Artur und seine Mutter.

Ich denke, der Titel versucht 3 dieser Konsturktionen in den Mittelpunkt zu schieben. Noch bin ich mir nicht klar, welche. Oder soll das nicht festgelegt sein?


Sehr gut gefallen hat mir der Ausdruck des Selbstbetrugs. Sehr menschlich. Sehr verständlich und leicht zu überlesen.

Ich zog es vor, mich nicht in sie zu verlieben.
:D klar.

Du hast schön dargestellt, wie die Vergangenheit die Gegenwart einholt. Sie quasi wieder einfängt und in Besitz nimmt. Um daran eine andere Form der Zukunft anzuschließen.

Und ja: es geschehen andauernd seltsame Dinge. Ich lese gern darüber. Dann habe ich nicht das Gefühl, dass sie nur in meinem Leben und meiner Phantasie rumspuken.

Frauke

PS: Irgendwann werde ich sicher mehr von diesem Text verstehen. ich freu mich drauf.
Noch habe ich nicht die geringst Ahnung, warum die

Scheiben splittern. Meine Ohren sind taub.
Läuft die zeit da in einer Schleife? Oder gibt es zwei Explosionen. *rätsel*

 

Hi Frauke,
Du hast den Titel hundertprozentig enträtselt. Das beruhigt mich irgendwie ;)
Aber was die hintere Ebene angeht: Die gibt es wie gesagt nicht. Die Explosionen rahmen das Geschehen ein, und Mama sagt ja: "Immer wenn seltsame Dinge geschehen, geschehen auch andere seltsame Dinge." Eines löst das andere aus, auch die Explosionen. In der Realität, der die Geschichte natürlich entnommen ist, finden diese Explosionen freilich nur im Kopf statt. Aber sie dröhnen wie Explosionen.
Danke für Deinen Kommentar!

 

Drei ...

Hi Uwe,

seltsame Dinge geschehen immer wieder und manchmal treffen sie einen.

So wie deinem Prot, der rein "zufällig", denn soetwas passiert nun mal, in ein fremdes Telefonat gerät.
Dadurch kommt Viki aus seinem Unterbewußtsein zurück, in sein Bewußtsein.

Er denkt stark an sie, spielt die alte Musik, sendet ihr, unbewußt, seine Gedanken, die so intensiv sind, dass Explosionen in seinem Kopf stattfinden.

Es ist wie eine magische Kraft, (auch wenn du daran nicht glaubst ;) )
Er sieht Bilder der Zukunft, die sein Unbewußtes, das die Zukunft kennt, ihm sendet.
Die Zeit ist reif, der Kreis schließt sich.
Viki ruft an. Aus Eins wird Zwei.

Bist du sicher, dass dies nicht deine Gedanken waren?

Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen, sie liegt auf meiner Welle. :)

lieben Gruß, coleratio

 

Hehe, coleratio, hätte ich mir denken können, dass sie Dir gefällt :p Macht aber nichts, freut mich sogar ganz besonders ;)
Man kann die Tatsache, dass seltsame Dinge geschehen und gewisse Kräfte freisetzen, durchaus als Magie bezeichnen, denn das ist nur ein Name für das Phänomen; mir war wichtig, nicht zu mystifizieren, sondern nur zu erzählen, nicht nach Erklärungen zu suchen, wo es gar keine gibt.
Du hast meine Gedanken zum Teil erkannt, wobei ich nicht denke, dass das Unbewusste die Zukunft kennt. Aber manchmal bekommt das Bewusste Sachen deutlich später mit als das Unbewusste, da gibt es gar keinen Zweifel.

 

Hi Uwe,

auch mir fehlt leider der Zugang, aber ich vermute einfach mal, denn etwas hat mich stutzig gemacht:

Was macht Viki in meinem Kopf? Das liegt achtzehn Jahre zurück

Nein, denke ich und sage: »Ja sicher.« Er ist weit über 50, kahl, Vollbart, könnte mein Vater sein.

Da stimmt die zeitliche Relation nicht. Wenn Viki 18/19 Jahre zurückliegt, könnte der Kollege/Artur mit 50 nicht der Vater sein. Von daher glaube ich einfach mal, das dein Prot und Artur die selbe Person sind??? Und er will die „Fehlschaltungen“ nur verdrängen...???

Die Geschichte selber hat mir daher nicht so gut gefallen, denn unerklärliches ist zwar gut und schön, aber wenn ich keine Zusammenhänge sehe...oder ich versteh sie einfach nicht. Das ist natürlich auch gut möglich.

Aber: stilistisch gibt’s nichts zu meckern ;)

Liebe Grüße...
morti

 

Gerne erkläre ich die zeitlichen Zusammenhänge:
Artur ist "weit über 50", sagen wir 55.
Der Erzähler ist Mitte 30, sagen wir 35.
55-35=20, also könnte Artur problemlos sein Vater sein.
Das Ereignis mit Viki liegt 19 Jahre zurück, damals war der Erzähler 35-19=16, und da war er zum ersten Mal verliebt - genau wie ich.

Alle Zusammenhänge sind nur angedeutet, denn es kann sein, dass es gar keine gibt und alles Zufall ist. Das ist der Kern der Geschichte und insofern stringent, aber eben auch seltsam.

 

Hallo Uwe,

mit 30 bis 35 ist man doch noch nicht in der Midlifekrise (schauderhaftes Wort).
Es gibt immer Stationen, die einen in die Zukunft zurück werfen. Manchmal nur ein Lachen, welches einen an jemanden erinnert und letztlich den Anstoß gibt, sich dort einmal zu melden.
Und ich bin überzeugt, dass es sein kann, das zwei Menschen, die sich jahrelang nicht gesehen haben, plötzlich zeitgleich an einander denken. Die Zwischenmenschlichkeit der Seele ist noch fast unerforscht. Es gibt viele Möglichkeiten, an die wir nicht einmal denken. Und drahtlose Kommunikation gilt zwischen Menschen auch ohne Internet als erwiesen.

Mir hat deine Geschichte gefallen, denn sie nahm mich ein bisschen mit auf die seltsame Reise einer Erinnerung, die es bis in die Gegenwart geschafft hat.
War es zunächst nur eine anscheinend grundlose Traurigkeit, schloss sich der Reißverschluss. Der nächste Anruf gab den Grund und manchmal holen einen auch die verpassten Chancen wieder ein.

Seltsam und tröstlich.

Lieben Gruß, sim

 

Hi sim,
Deine Worte geben meine Gefühle fast genauer wieder als die Geschichte ;)
Danke,
Uwe

 

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