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Drei, zwei oder zwei
Drei, zwei oder zwei oder Tropfen aus Zukunft
Gestern ist Arturs Haus explodiert. Er war beim Musical, nicht zuhause. Mama sagt, das sei ein Zeichen. Sie sagt ständig solche Dinge.
»Kann ich eine Weile bei dir wohnen?«, fragt Artur am nächsten Morgen im Büro. Seine Hände zittern, er ist bleich und trinkt viel zuviel Kaffee.
Nein, denke ich und sage: »Ja sicher.« Er ist weit über 50, kahl, Vollbart, könnte mein Vater sein.
Ich überlege, wie ich das Mama erklären soll.
»Muss nochmal bei der Polizei anrufen«, murmelt Artur, nimmt den Hörer in die Hand und wählt.
Mein Telefon klingelt. Ich gehe ran, aber ehe ich mich melden kann, ist da eine Frauenstimme. »... ist so schwer. Ich weiß einfach nicht, was ich will.«
Bevor ich etwas erwidern kann, eine Männerstimme. »Ich schon. Dich.«
Artur schaut verwirrt sein Telefon an. »Es tutet nur«, staunt er.
Ich halte die Hand auf die Muschel. Irgendwie bin ich versehentlich in dieses Gespräch geschaltet worden, als Artur die Polizei anrufen wollte.
»Ich weiß«, sagt die Frau leise. Der Mann scheint zu seufzen. Ich lege schnell auf.
Nach Feierabend fahren Artur und ich mit der Straßenbahn nach Hause. Ich starre durchs Fenster auf die Autos, die draußen durch die Nässe pflügen. Mir ist schlecht. Millimeterflüsse strömen schräg nach unten. Wie damals, als ich Viki das letzte Mal gesehen habe.
An meiner Haltestelle treten wir hinaus in den Nieselregen. Ein dicker Mann spannt den Regenschirm auf, obwohl die Nässe nicht von oben, sondern von allen Seiten kommt. Überall sind Pfützen, platsch. Ich überlege, warum ich deprimiert bin.
»Immer wenn seltsame Dinge geschehen, geschehen auch andere seltsame Dinge, wissen Sie«, sagt Mama fröhlich, während sie Artur mit frischer Bettwäsche ins Gästezimmer führt. Früher hat sie selbst hier geschlafen, wenn Vater einen seiner Anfälle hatte.
Artur sagt, er sei sehr müde, gute Nacht.
Auf Socken gehe ich hinauf in mein Zimmer. Warum bin ich deprimiert? Was macht Viki in meinem Kopf? Das liegt achtzehn Jahre zurück. Nein, halt ... neunzehn. Neunzehn Jahre.
Ich lege eine neunzehn Jahre alte Single auf: Eldorado. Die Band singt von Seen aus Tränen und Blut. Viki war damals mit Mattes zusammen. Ich zog es vor, mich nicht in sie zu verlieben. Sie blieb bei ihm. Hab sie seitdem kaum gesehen. Zweimal auf Ronalds Geburtstag, glaube ich.
Der alte Plattenspieler klickt. Der Arm hebt sich, fährt zurück in seine Halterung und beendet meine Zeitreise. Die Scheibe stoppt. Ich ziehe mich aus, klettere unter die Decke.
Mein Telefon schrillt mich aus dem Schlaf. Ich blinzle zur Digitaluhr: 3 Uhr 30. Unkoordiniert grabsche ich nach dem Hörer. Bevor ich Hallo sagen kann, höre ich eine Männerstimme. »... weiß ich doch, dass da der andere ist.«
Ich halte die Luft an. Es ist die Stimme, die ich schon im Büro in der Leitung hatte.
»Ich will dir nicht wehtun«, höre ich die Frauenstimme.
Was geht hier vor? Was für eine Fehlschaltung ist das, die mich nicht nur im Büro, sondern auch zuhause erwischt?
»Dann hör damit auf«, sagt der Mann.
Eine Pause entsteht. Ich will auflegen, aber mein Arm bewegt sich nicht. »Ich weiß nicht, ob ich kann«, sagt die Frau. Diese Stimme ...
Millimeter für Millimeter nehme ich den Hörer vom Ohr. Die männliche Stimme ist nur noch ein helles Flüstern: »Er oder ich.«
Endlich liegt der Hörer auf der Gabel. Ich stoße die angehaltene Luft aus. Meine Hand ist feucht. Mir ist kalt. Ich rutsche wieder unter die Decke, aber ich finde keinen Schlaf. Meine Gedanken irren durch ein Labyrinth. Rückwärts in der Zeit. Rasant, sinnlos, schmerzend. Viki. Ich sehe ihr Gesicht vor mir. Ihr Lächeln. Kneife die Augen fest zu, aber es bleibt da. Wie diese Stimme in meinem Ohr.
Ich sitze im Büro. Kann mich nicht konzentrieren. Artur ist in der Stadt, ich sitze alleine in dem kleinen Zimmer am Schreibtisch. Trinke zuviel Kaffee, drehe die Heizung höher. Im Lokalteil der Zeitung steht, dass es keine Gasexplosion war. Sprengstoffexperten untersuchen die abgesperrte Ruine, stehen vor einem Rätsel.
Arturs Telefon klingelt. Routinemäßig greife ich hinüber zu seinem Tisch. Zögere plötzlich. Lasse es nochmal klingeln. Und noch einmal. Dann nehme ich langsam ab, halte die Sprechmuschel zu.
»Wenn du nicht mehr da wärst ...«, sagt die Frau.
Draußen sehe ich Spaziergänger. Sie haben Hunde dabei, die an dem mickrigen Baum schnüffeln, der einsam neben dem Weg steht. Ich würde gerne schreien: »Hört auf damit.«
»Das Loch wäre ... zu groß«, fährt die Frauenstimme fort.
Ich höre den Mann aufatmen.
»Sag, dass du bei mir bleibst«, flüstert er.
Die Antwort darauf kenne ich.
»Ich bleibe bei dir«, sagt sie, »ich liebe dich.«
Viki hätte Mattes damals nicht wegen mir verlassen. Sicher nicht. Ganz sicher nicht.
Ich habe genug gehört. Lasse den Hörer sinken. Auf die Gabel.
WUMM!
Scheiben splittern. Meine Ohren sind taub. Ich liege auf dem Boden. Kann nicht aufstehen.
Artur spielt mit Mama Karten. Als ich gute Nacht sage, zwinkert sie mir zu. Vater hat nie mit Mama gespielt. Hatte immer wichtigeres zu tun, meistens nichts. Wenn seltsame Dinge geschehen, kann man nichts dagegen tun, sagt Mama immer.
Ich durchsuche meine Plattensammlung, wähle eine alte Scheibe von Abba: The Winner takes it all. Ich lege die Single auf. Der Plattenspieler klickt, die Nadel setzt auf. Knack.
Mit einem Glas Wasser in der Hand stehe ich am Fenster. Sehe hinaus. Keine Autos, es ist schon spät. Tropfen sprenkeln die Scheibe. Fließen hinab. Unaufhaltsam. Wie Sekunden, Minuten. Jahre. Neunzehn Jahre.
Der Song ist zuende. Ich sehe zum Telefon hinüber. Es klingelt. Diesmal lasse ich es dreimal schrillen, bevor ich hingehe und abhebe.
Ich höre nur Rauschen. Dann sage ich: »Hallo.«
»Ich bins, Viki«, sagt die Frauenstimme. Mir wird heiß und kalt. Wieder diese falsche Schaltung, und diesmal habe ich reingesprochen. Ich kneife den Mund zu. Stille.
»Bist du noch dran?«, fragt Viki. Ja, das ist ihre Stimme. Das Gespräch ist echt. Es ist jetzt, nicht aus den Tiefen der Vergangenheit zurückgekehrt.
»Ja«, sage ich, »ich wollte gerade, ich meine ...« Mir fällt nichts ein.
»Ja ...«
Zukunft tropft an mir vorbei, und ich versuche, etwas davon aufzufangen.
»Schön, mal wieder von dir zu hören«, sage ich schnell.
Viki lacht. »Ich würde dich gerne mal wieder sehen.«
»Das ist ... schön.«
»Wir könnten uns unterhalten.«
»Ja.« Meine Hand ist feucht. »Ja, gerne.«
Mama sagt immer, eigentlich passieren ununterbrochen seltsame Dinge.
- für die Zukunft -